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Ben

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"Den Islam endlich aus den Hinterhöfen herausholen"
« on: June 18, 2012, 07:26:56 am »
Interview:
Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg über die Integration des Islam in Europa
"Den Islam endlich aus den Hinterhöfen herausholen"   

Von Benno Bühlmann / Kipa
Luzern, 17.6.12 (Kipa) Religion sei eine Angelegenheit, die öffentlich ausgehandelt werden müsse. Darin liege eine wichtige Voraussetzung für die Integration, meint der renommierte Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg. Er sprach an der Universität Luzern anlässlich einer internationalen Konferenz zum Thema "Religion und gesellschaftliche Integration in Europa".

Frage: Herr Professor Kippenberg, das Zusammenspiel von Religion und Integration ist derzeit ein brisantes Thema, das in der Schweiz ebenso wie in Deutschland die Öffentlichkeit beschäftigt. Worin besteht da die grösste Herausforderung für unsere Gesellschaft?

Hans G. Kippenberg: Es gilt vorerst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass sowohl die Schweiz wie auch Deutschland zu Einwanderergesellschaften geworden sind. Egal ob wir das nun fördern oder bremsen wollen, es ist eine Tatsache. Und diejenigen, die hierher kommen, sind häufig Angehörige von Religionsgemeinschaften, die uns wenig vertraut sind. Da wird die Frage virulent: Kann unsere überwiegend christliche Gesellschaft diese neuen Gruppierungen aufnehmen und gleichzeitig ihre Identität bewahren?

   Frage: Es handelt sich letztlich um einen bedeutsamen gesellschaftlichen Wandlungsprozess, der allerdings unterschiedlich interpretiert wird...

Kippenberg: Ja, es knüpfen sich daran sehr unterschiedliche Gegenwartsdiagnosen und Zukunftserwartungen: Während die einen die "öffentlichen Religionen" in der modernen Welt begrüssen (José Casanova), fürchten die anderen einen "Clash of Civilizations" (Samuel Huntington), der im Kern ein Zusammenprall unversöhnlicher Religionskulturen sei. Wie immer man die jüngeren Entwicklungen deutet – eines lässt sich nicht bestreiten: Die öffentliche Kommunikation über Religion hat zugenommen. Religion ist heute eine Angelegenheit, die öffentlich verhandelt werden muss.

   Frage: Dieses öffentliche Aushandeln ist allerdings ein Vorgang, der nicht konfliktfrei vor sich geht.

Kippenberg: Das ist klar. Um Religion wird heute oftmals heftig – und medial verstärkt – gestritten. Die Liste der Streitanlässe ist lang: Religiös fundierte Schlachtpraktiken bieten ebenso Anlass zu Streit wie etwa Bekleidungsformen, Moscheebauten, Weihnachtsbäume, Kreuze, religiöse Motive in diversen Kunstformen, die Thematisierung von religiösen und anderen Wertbindungen im schulischen Unterricht, die Rechtsgestalt religiöser Gruppen und vieles mehr.

   Frage: Der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit ist derzeit hauptsächlich auf die Glaubensgemeinschaft der Muslime gerichtet, der oft fehlende Bereitschaft zur Integration vorgeworfen wird. Stimmt das?

Kippenberg: Die muslimischen Gemeinden werden in der Öffentlichkeit oft als Orte der Ausgliederung wahrgenommen. Betrachtet man diese aber etwas genauer, kommt man zu einem anderen Schluss: Es handelt sich hier im Grunde um Orte der Integration, nicht der Desintegration.

   Frage: Wie zeigt sich das?

Kippenberg: Wenn Muslime aus fremden Ländern zu uns einwandern, finden sie zuerst Aufnahme in muslimischen Gemeinden, die sie bei vielfältigen Problemen unterstützen – sei dies beim Gang zu den Behörden, bei der Vermittlung von Arbeitsstellen, beim Spracherwerb oder auch bei ganz alltäglichen Schwierigkeiten mit dem Computer oder bei Fragen, die bei den eigenen Kindern in der Schule auftauchen. Das war übrigens auch bei jenen Schweizern nicht anders, die beispielsweise nach Amerika ausgewandert sind: Oftmals haben sie zuerst bei Kirchgemeinden angeklopft, bevor sie sich nach und nach auch um ihre Integration in den Wohnquartieren bemühten.

   Frage: Am internationalen Kongress an der Universität Luzern zum Thema "Religion und Integration" wurde unter anderem betont, dass der Islam öffentlicher werden müsse, um die Integration der Muslime zu verbessern. Teilen Sie diese Einschätzung?

Kippenberg: Auf jeden Fall. Es ist sicher wichtig, dass Muslime ihren Glauben nicht irgendwo versteckt in Hinterhöfen oder Garagen praktizieren, sondern mit ihrer Religion öffentlich sichtbar werden. In verschiedenen Regionen Europas können wir bereits beobachten, dass Muslime aus den Hinterhöfen heraustreten und in die Städte wechseln, wo sie teilweise repräsentative Moscheebauten errichten.

   Frage: Sie denken also, dass öffentlich sichtbare Sakralbauten letztlich zur Integration beitragen?

Kippenberg: Ja, das ist so. Denn die Muslime bringen mit dem Bau einer öffentlich sichtbaren Moschee zum Ausdruck, dass sie definitiv hier angekommen sind und ihre Zukunft nicht mehr in ihrem Herkunftsland sehen. Vielmehr verstehen sie sich als Teil dieser Gesellschaft und als Bürgerinnen und Bürger des Landes, in dem sie jetzt leben. Das in der Schweiz eingeführte Minarettverbot ist diesbezüglich allerdings kontraproduktiv: Darin sehe ich nicht die geeignete Aufforderung an die Adresse der Muslime, aus den Hinterhöfen herauszukommen. Vielmehr schadet das letztlich der Integration und widerspricht vor allem auch einem zeitgemässen Verständnis von Religionsfreiheit in einem Europa der Menschenrechte.

   Frage: Das heisst also, dass mit dem Minarettverbot eigentlich die Menschenrechte verletzt werden?

Kippenberg: Beim Bau von Minaretten sind im Einzelfall durchaus Einschränkungen möglich, indem beispielsweise eine Baubewilligung aus bestimmten Gründen verweigert wird. Ein generelles Verbot zum Bau von Minaretten scheint mir aber nicht zulässig zu sein, weil es gegen zentrale Grundsätze der Religionsfreiheit verstösst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche Praxis einem allfälligen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassbourg Stand halten wird.

   Frage: Wie ist es aus Ihrer Sicht grundsätzlich um die Integration der Muslime in Europa bestellt: Wird sich bei uns längerfristig so etwas wie ein "europäischer Islam" ausbilden?

Kippenberg: Den "europäischen Islam" gibt es bereits. Das lässt sich am besten am Beispiel des Schweizer Islamwissenschaftlers Tariq Ramadan aufzeigen, der entschieden für eine europäisch-muslimische Identität eintritt: Er ruft die Muslime dazu auf, sich als Bürger zu verstehen und die ihnen zustehenden Rechte in Europa einzufordern. Ramadan ist denn auch überzeugt davon, dass die Anwendung des Begriffs "dar al-harb" ("Bezirk des Krieges") auf Europa heute überholt sei, zumal in Europa volle Religionsfreiheit gewährleistet sei, Muslime also nicht verfolgt würden. Ansonsten wären sie gezwungen, den "Bezirk des Krieges" zu verlassen und in den "dar al-islam" ("Bezirk des Islam") zu flüchten. Für Ramadan gibt es neben diesen beiden Bezirken allerdings noch eine dritte Kategorie...

   Frage: Um welche Kategorie handelt es sich?

Kippenberg: Gemeint ist das "Land des Vertrages". Ein Muslim, der seinen Aufenthalt oder gar die Staatsbürgerschaft in einem europäischen Land habe, müsse sich in den dortigen Gesellschaftsvertrag fügen. Die Muslime müssten sich im vollen Umfang als Mitbürger betrachten, die am gesellschaftlichen Leben in allen seinen verschiedenen Aspekten teilhaben, ohne ihre eigenen Werte dabei aufzugeben. Im Gegenzug sollten die europäischen Gesetzgeber im Rahmen der garantierten Religionsfreiheit den Muslimen die Möglichkeit geben, beispielsweise repräsentative Moscheen zu bauen.

   Frage: Müsste nicht auch die Imam-Ausbildung künftig "vor Ort" erfolgen, damit eine nachhaltige Integration in Europa möglich wird?

Kippenberg: Das ist sicher ein wichtiger Aspekt. Denn wenn die Imame aus den Herkunftsländern geholt werden, beherrschen sie nicht die deutsche Sprache und können auch die Situation der Migranten in Europa nicht verstehen. Deshalb haben bereits mehrere Universitäten in Deutschland beschlossen, eine Imam-Ausbildung anzubieten. Gewählt werden insbesondere Orte, wo bereits Islamwissenschaft betrieben wird, damit das vorhandene islamwissenschaftliche Knowhow in die Imam-Ausbildung einfliessen kann. Die bis dahin gemachten Erfahrungen in Deutschland sind positiv. Von daher wäre es sicher wünschenswert, wenn auch in der Schweiz ein solcher Weg beschritten würde: Man muss wegkommen von der "importierten Geistlichkeit". Notwendig sind "einheimische" Geistliche, die hier aufgewachsen sind und verstehen was es heisst, als Muslim in einem "Land des Vertrages" zu leben.

   Separat 1:
Hans G. Kippenberg

Hans Gerhard Kippenberg lehrte von 1989 bis 2004 Religionswissenschaft mit Schwerpunkt Geschichte und Theorie der Religionen an der Universität Bremen. Nach seiner Emeritierung wurde er zum Weisheitsprofessor für Vergleichende Religionswissenschaft an die Jacobs University Bremen berufen.

   Separat 2:
Internationaler Kongress "Religion und gesellschaftliche Integration in Europa"

"Wir wollten anlässlich dieses internationalen Kongresses zeigen, dass Religion im gegenwärtigen Europa eine ernst zu nehmende gesellschaftliche Kraft darstellt, die sowohl integrative wie auch desintegrative Wirkungen entfalten kann", meinte Edmund Arens, Ordinarius für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern, im Gespräch mit der Presseagentur Kipa. An der Tagung sei deutlich geworden, dass "Religion öffentlicher werden muss" und dass vermehrt nach Wegen zu suchen sei, wie "Konflikte im Rahmen der Zivilgesellschaft argumentativ ausgetragen werden" könnten, betont Arens.
Internationale Beteiligung

Ziel des Kongresses war es, anhand aktueller Theorien, Beispielen und Konfliktfeldern die internationale und interdisziplinäre Forschung über Religion und gesellschaftliche Integration zu analysieren. Gefördert werden sollten zudem die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion über historische Erfahrungen, gegenwärtige Reflexionen und aussichtsreiche Wege gesellschaftlicher Integration von Religionen.

   Der Universität Luzern war es gelungen, an der Konferenz viele internationale Forscher aus dem entsprechenden Wissenschaftsbetrieb zu versammeln, so beispielsweise José Casanova von der Georgetown University in Washington, der auf seinem Gebiet Pionierarbeit geleistet hat und als einer der bedeutendsten Religionssoziologen der Gegenwart gilt. Zugegen waren unter anderem auch Heiner Bielefeldt von der Universität Erlangen-Nürnberg, Hans G. Kippenberg von der Jacobs University Bremen, Paul Nolte von der Freien Universität Berlin, Helen Keller, Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich und Mitglied im Uno-Menschenrechtsausschuss, Giusep Nay, alt Bundesgerichtspräsident in der Schweiz, René Pahud de Mortanges und Urs Altermatt aus Freiburg (Schweiz) sowie Jörg Stolz aus Lausanne.
Gross angelegter universitärer Forschungsschwerpunkt

Der Kongress war Bestandteil eines Forschungsprojektes der Universität Luzern zum Thema "Religion und gesellschaftliche Integration in Europa" (Regie). Erstmals haben sich im Rahmen des im Jahr 2009 lancierten Forschungsschwerpunktes mehrere Fakultäten auf ein gemeinsames Projekt geeinigt, bei dem die Rolle und Bedeutung von Religion für die soziale und politische Integration europäischer Gesellschaften der Gegenwart untersucht wird. Der gross angelegte interdisziplinäre Ansatz sei "ein Novum für die Universität Luzern", erklärt Edmund Arens. Am Projekt beteiligt seien insgesamt fünf Fachbereiche aus zwei verschiedenen Fakultäten: Neben der Theologischen Fakultät – mit den Fächern Dogmatik, Fundamentaltheologie und Kirchengeschichte – arbeiten auch die Fachbereiche Religionswissenschaft und Politikwissenschaft aus der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät bei dem auf fünf Jahre befristeten Forschungsprojekt mit.

   Hinweis für Redaktionen: Fotos von Prof. Hans G. Kippenberg können angefordert werden bei Benno Bühlmann, Stirnrütistr. 37, 6048 Horw, b.buehlmann@bluewin.ch.

   (kipa/bbü/am)

http://kipa-apic.ch/index.php?pw=&na=0,0,0,0,d&ki=232740

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