Author Topic: Neukoelln ist ueberall  (Read 4580 times)

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #30 on: November 04, 2012, 09:24:24 am »
Wenn wir vom größten anzunehmenden Unfall – der Einführung der Herdprämie, wie ich das Betreuungsgeld nenne – ausgehen, dann bedeutet das die Zementierung der Unterschicht. Es bedeutet, dass Tausende Kinder, die in prekären Lebensverhältnissen aufwachsen, ihrer Bildungschancen beraubt werden. Nach einer Untersuchung der Bertelsmann Stiftung erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer gymnasialen Schulbildung nach einem Krippenbesuch um bis zu 83 %, wenn ein Kind aus einem Elternhaus mit lediglich Hauptschulbildung stammt. Legt man nur den Status als Migranten zugrunde, beträgt der Steigerungsfaktor noch 56 %. Der symptomatische Titel dieser Untersuchung lautete: »Der volkswirtschaftliche Nutzen der Krippen-Erziehung«.
Ich empfinde die Herdprämie auch als zutiefst unmoralisch. Es ist unanständig, Menschen mit sehr schwach ausgeprägten sozialen Kompetenzen und damit einhergehendem permanenten Geldmangel Euroscheine unter die Nase zu halten und sie zu fragen: »Willst du die haben? Oder willst du lieber Geld für einen Kita-Platz bezahlen?« Vorsätzlich und schamlos die Schwäche von Menschen zu Lasten Dritter, nämlich ihrer Kinder, auszunutzen ist weder christlich noch verantwortungsvoll. Zwei Milliarden Euro soll der Steuerzahler für diesen Quatsch auf den Tisch legen. Es schüttelt mich. Man kann nur hoffen, dass dieser Unfug von der nächsten Bundesregierung als erstes einkassiert wird.
Der von der CDU/CSU vorgeschlagene Weg, das Betreuungsgeld nicht an Hartz-IV-Empfänger zu zahlen, macht die Situation nicht besser. Der Hartz-IV-Empfänger würde dann weiter die Mindestsätze für den Besuch einer Kindertagesstätte und die Essensbeiträge von seinem Existenzminimum zahlen, und der andere bekäme eine Prämie obendrauf. Übrigens auch, wenn er sein Kind in die Tagesbetreuung gibt. Die Herdprämie ist nämlich gar nicht an den eigenen Herd gebunden. Die Begründung der Belohnung für Eltern, die ihre Kinder alleine erziehen, ist also ein Etikettenschwindel. Es geht einzig und allein um finanzielle Aspekte. Wer keine staatliche Förderung in Anspruch nimmt, erhält sozusagen als Bonus so eine Art Schadensfreiheitsrabatt. Damit soll den Eltern ihr Rechtsanspruch auf Betreuung entweder in der Kindertagesstätte oder in der Tagespflege abgekauft werden. Wenn man überhaupt schon solche absurden Gedankengänge anstellt, dann kann doch das Ergebnis nur sein, dass Hartz-IV-Empfänger, die das Betreuungsgeld nicht erhalten, im Gegenzug wenigstens von jeglichen Beiträgen für die Kindertagesstätten freigestellt werden.
Es ist ein Novum, dass wir Prämien dafür zahlen wollen, dass mit Steuermitteln geschaffene Angebote nicht wahrgenommen werden. Dann kann man auch Nichtschwimmern eine Prämie dafür zahlen, dass sie das Schwimmbad nicht in Anspruch nehmen. Das Betreuungsgeld hindert Frauen an der Berufstätigkeit, benachteiligt Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen, konterkariert den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz und ist familienpolitisch rückwärtsgewandt. Die Erfahrungen in Norwegen und in Thüringen bestätigen eindrucksvoll, dass gerade die Kinder mit dem größten Förderbedarf von ihren Eltern des Geldes wegen von der Kindertagesstätte ferngehalten werden. Norwegen ist inzwischen dabei zurückzurudern. Das Betreuungsgeld für Kinder ab zwei Jahre wurde bereits abgeschafft. Es hat sowohl die Geschlechtergleichstellung als auch die Integration in Norwegen ausgebremst, heißt es zur Begründung. Auch aus Schweden hört man ähnliche Pläne. Die Erfahrungen sind vergleichbar wie in Norwegen, man will dort daraus ebenfalls Konsequenzen ziehen.
Ich halte die Entwicklung, wie sie das Land Berlin mit der stufenweisen Einführung der Kostenfreiheit eingeschlagen hat, für alternativlos. Nur so bündeln wir unsere Kräfte in ihrer Wirkung auf die Kinder. Es ist schon bezeichnend, dass aus Bayern der heftigste Widerstand gegen die Kostenfreiheit in Berliner Kindertagesstätten kam.
Mit der Bildung der nächsten Generationen werden die Grundlagen für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gelegt. Die Kindertagesstätten sind der Ausgangspunkt für die intellektuelle Aufrüstung Deutschlands.
Unsere Schulen
In Neukölln besuchen 29 500 Schülerinnen und Schüler 66 öffentliche und drei private Schulen. Die öffentlichen Schulen unterteilen sich in 39 Grundschulen von der 1. bis zur 6. Klassenstufe, die mit einer Durchschnittsfrequenz von 21,5 Kindern je Klasse von 14 000 Kindern besucht werden. Im Jahr 2012 wurden 2350 Kinder eingeschult.
Die 18 weiterführenden allgemeinbildenden Schulen werden von 12 000 Schülerinnen und Schülern besucht, wovon die sechs Gymnasien 5000 Jugendliche unterrichten.
Ergänzend gehen 1300 Kinder in neun Schulen mit sonderpädagogischem Schwerpunkt. Die drei Neuköllner Privatschulen versorgen 2000 Schülerinnen und Schüler. Hierbei handelt es sich um eine katholische, eine evangelische und eine privat betriebene Einrichtung, die allerdings mit 100 Schülern im Bezirk keine wesentliche Rolle spielt.
Rund 18 000 Schülerinnen und Schüler sind nicht-deutscher Herkunftssprache, also Kinder von Einwanderern. Ihr Anteil beträgt 61 % an der gesamten Schülerschaft, in Gymnasien 51 % und in den Grundschulen 66 %. Für Nord-Neukölln liegt dieser Wert, wie gesagt, bei 87 %, wobei in nicht wenigen Schulen die 90-%-Marke weit überschritten ist. Es sind im Schuljahr 2011/2012 immerhin 25 Schulen, deren Schülerschaft zu 80 % und mehr aus Einwandererkindern besteht. Ergänzend sei gesagt, dass von den rund 800 Berliner Schulen inzwischen jede dritte über einen Anteil von mehr als 40 % an Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache verfügt.
Die Schulen sind an der Basis der stärkste Partner der Integration. Sie sind ihr bedingungsloser und konsequenter Förderer, sie sind das Bollwerk gegen Bildungsferne und der Hoffnungsträger für Kinder aus prekären Verhältnissen. Ohne die Schule und ohne das Bildungswesen mit dem Versuch, Chancengerechtigkeit herzustellen, lassen sich gesellschaftliche Barrieren nicht überwinden. Ich verbreite hier keine neue Erkenntnis, das ist seit über 150 Jahren Allgemeinwissen. Gesellschaften haben darauf unterschiedlich reagiert. Mal mehr, mal weniger erfolgreich.
Das deutsche Bildungswesen galt lange Zeit als vorbildlich. Diese Zeiten sind allerdings vorüber. Bei internationalen Vergleichsstudien dümpeln wir stets am Ende des Zuges oder schaffen es gerade mal ins untere Mittelfeld. Natürlich gibt es Beispiele, auf die Schönredner gern verweisen, und natürlich gibt es Vorzeigeschüler. Darum geht es aber nicht, sondern vielmehr um die Frage, wie unser Schulwesen mit den kompletten Jahrgängen des Nachwuchses umgeht. Werden alle mitgenommen? Wird die ganze Bandbreite der Bevölkerung erreicht oder doch nur der Teil der durch die elterliche Herkunft ohnehin schon Privilegierten, und wie viele lassen wir zurück?
Erinnern Sie sich an die ersten Pisa-Studien? Was war das für eine Aufregung! Keine Ausrede war zu flach, als dass sie nicht als Beweis dafür herhalten musste, dass die Ergebnisse für Deutschland natürlich falsch sein müssten. Inzwischen sind wir zwangsläufig etwas realistischer geworden, auch wenn der Aufprall für viele etwas hart war.
Zu einem deutlichen Kritiker unseres Bildungswesens hat sich unser Ex-Außenminister Klaus Kinkel, heute Vorsitzender der Telekom-Stiftung, entwickelt. Aus seiner Sicht sind unsere Schulen eher als ein Reparaturbetrieb zu bezeichnen. Er fordert, dass eine Top-Wirtschaftsnation konsequent mehr Geld in die Bildung investieren muss. Deutschland nimmt auf dem Technologie-Ranking nur Platz 11 in der Welt ein. Von Verbesserung könne keine Rede sein, wir müssten uns schon anstrengen, diese Position zu halten. Hier einige Sätze aus einem Interview, das die tageszeitung im November 2010 mit ihm geführt hat:
»Ich habe nicht wirklich gewusst, wie sehr wir mit unseren Schulen hinterherhinken. Ich habe in meinen acht Jahren als Stiftungschef viel dazu gelernt und bin auch erschrocken. (…)Wir tun vor allem zu wenig für jene Schulen, in denen es wirklich brennt. Es geht nicht nur um die Hauptschulen, sondern auch um bestimmte städtische Viertel, in denen sich die Probleme der Migranten und des schwachen sozialen Hintergrundes oftmals konzentrieren. (…)Zu spät, zu wenig,
zu zögerlich. Mit 1000 Bildungslotsen beheben wir nicht das strukturelle Problem, das wir haben. Wir müssen zuerst das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern aufheben, damit wir gemeinsam an der Zukunft arbeiten können.« Klaus Kinkel bemängelt in einem weiteren Zitat auch die frühkindliche Bildung in unserem Land: »Wir verlieren zu viele Jugendliche, weil wir in der frühkindlichen Bildung zu spät und zum Teil auch falsch mit den Kindern lernen.«
Klaus Wowereit unterstreicht in seinem Buch die Aussagen des früheren Außenministers. Er wird an dieser Stelle auch ganz konkret, indem er sagt, dass die Bildungseinrichtungen in »Stadtteilen mit besonderem Handlungsbedarf«, wie er die sozialen Brennpunkte nett zu verpacken pflegt, einer besonderen Ausstattung bedürfen. Materiell wie personell. Nahtlos schließt sich seine Ankündigung aus dem Jahre 2009 an, künftig sollten »bis zur 4. Klasse alle Bildungsdefizite der Schüler behoben sein«. Es gelte, »sich vor allem auf die ersten Bildungsjahre zu konzentrieren«. Er hat völlig recht, und ich hoffe, dass der Masterplan für dieses Programm bald fertig ist und der Senat dann durchstarten kann.
Der Ihnen bereits bekannte Stadtsoziologe Prof. Dr. Häussermann brachte es 2010 auf die markante Formel: »Heterogene Schülerschaft entscheidet über den Lernerfolg der Kinder. Im Moment erleben wir meiner Meinung nach eine regelrechte Bildungskatastrophe. Statt beispielsweise für eine gute Mischung zu sorgen, sind bildungsbewusste Eltern gerade dabei, sich mehr und mehr abzusondern.«
Die Bandbreite, mit der die Fachwelt diese Fragen seit Jahren diskutiert, streitig diskutiert, kann kaum größer sein. Ja, es stimmt, viele Eltern in Neukölln nehmen Reißaus, wenn ihre Kinder in das Einschulungsalter kommen. Eigentlich fühlen sie sich im Kiez wohl, aber bei der Schulausbildung hört der Spaß auf. Die Kindergartenzeit kann man ja noch mit einer weltsolidarischen Elterninitiativkindertagesstätte überbrücken, die die Beiträge so gestaltet, dass ungewollter Zulauf ausbleibt. Bei der Einschulung der Kinder allerdings heißt es dann: »Mit dem eigenen Kind experimentiert man nicht.« Oder: »Mein Kind ist kein Integrations-Pionier.« So sind die Sprüche zur Selbstrechtfertigung. Gern auch der taz-Abonnenten. Kennen wir von früher. Links reden – rechts leben.
Das Kind soll nicht in einer Klasse mit verlangsamtem Fortschritt den Anschluss an ein normales Lernniveau verlieren. Deswegen tricksen sie mit Scheinadressen, mit dem Wohnsitz der Oma oder einem angeblichen Umzug. Natürlich wird die billige Gründerzeitwohnung in Nord-Neukölln nicht wirklich aufgegeben. Eine beinahe schon als professionell zu bezeichnende Aktion für die Schulflucht hat uns eine in einem überschaubaren Umkreis lebende Gruppe junger kreativer Eltern mit leichter Antipathie zum Spätkapitalismus vorgemacht. Man kauft sich gemeinsam einen VW-Bus und verpflichtet eine sich bereits im Rentenalter befindende Taxifahrerin. Diese fährt die lieben Kleinen täglich in die Wunschschule im Süden des Bezirks, in der man sich kollektiv angemeldet hat. Ansonsten ist Neukölln aber super, bunt, international und cool. Ein solcher Einfallsreichtum ist aber nicht die Regel, in den meisten Fällen reagieren die Eltern tatsächlich konsequent mit dem Fortzug. Das hört sich leidenschaftslos an, man liest über die zwei Zeilen auch flink hinweg. Für das Gemeinwesen ist diese Form der Segregation eine Katastrophe.
Aber die Situation ist so, wie sie ist. In einem Neuköllner Gymnasium ist im Jahre 2012 kein einziges Kind deutscher Herkunft für den Übergang aus der Grundschule in die 7. Klassen der Mittelstufe angemeldet worden. In einer 8. Klasse des Gymnasiums wurde der einzige deutsche Schüler solange drangsaliert und weggemobbt, bis seine Eltern ihn von der Schule nahmen. Diese Vorgänge führten dazu, dass seitens der Schulaufsicht die beachtliche Feststellung getätigt wurde: »Wir müssen uns langsam Gedanken machen, wie wir die deutschen Schüler schützen.«
Lesen Sie auch die beiden folgenden Elternbriefe. Sie sind echt und nicht für das Buch bestellt. Und einsame Ausreißer sind sie auch nicht.
Der erste Brief stammt von einem Vater:
»Ich war als Elternvertreter der XXX-Grundschule und des XXX-Gymnasiums tätig.Der Kontakt zu
den Eltern türkischstämmiger, aber auch der zu den Eltern von Kindern aus dem Balkan ist so gut wie unmöglich. Sie erscheinen nicht auf Elternversammlungen, beteiligen sich nicht an klasseninternen Projekten und lassen ihre Kinder nur schwer Kontakte zu deutschen Kindern aufbauen. Diese Erfahrungen hat unser Jüngster in seiner Kita gemacht. Unser Ältester ist in der XXX-Schule, und diese Erfahrungen macht der Mittlere momentan in der XXX-Schule in Schöneberg als einer der letzten drei deutschen Jungs in der Klasse. Die Gründe hierfür sind vielfältig und sollen nicht Thema sein. Aber ich möchte feststellen, dass dies fast ausschließlich Eltern aus bildungsfernen Schichten sind. Sie haben nicht mal eine Vorstellung davon, dass sie durch Förderung ihrer Kinder diesen eine Chance zu gesellschaftlichem Aufstieg geben können, da sie selbst noch, und das ist teilweise in der dritten Generation, in ihren alten Strukturen leben.Überwiegend, so habe ich aus der Schule erfahren, sind es die Mädchen, die sich ihrer Chance bewusst sind und mit viel Ehrgeiz und Lernbereitschaft nach den Sternen greifen. So hatte das Mädchen, das vor einigen Jahren von einer Tätergemeinschaft aus Brüdern, Vater und Großvater ermordet wurde, an meinem Gymnasium Abitur gemacht. Auch Klassenfahrten, die der Integration förderlich sind, werden durch Mehrheiten von ndH-Eltern blockiert, wie wir es immer wieder in den Schulen erfahren haben und in der unseres Mittleren jetzt erfahren. Wir sind kurz davor, ihn aus der Schule zu nehmen. Allah sei Dank, haben wir doch für unseren Jüngsten außerhalb von Schöneberg mit der XXX-Schule eine gefunden, wo wir nicht mit einem Ausspucker und ndH-Rotten empfangen werden. (…)Mit Freiwilligkeit geht hier gar nichts mehr, eine Integration muss auf gesetzlicher Ebene erzwungen werden. Fundamentale Voraussetzungen wie das Erlernen der deutschen Sprache müssen zur Pflicht werden, für Eltern und Kinder, die Vergabe unterstützender Mittel muss an die Integrationsbereitschaft gebunden werden. Höchstgrenzen für den Anteil an ndH-Kindern an Schulen müssen gesetzlich verankert werden. Die Leitung einer Schule muss die Möglichkeit haben, nach integrativen und pädagogischen Kriterien eine Höchstgrenze festzusetzen.« Aber auch Mütter machen sich ihre Gedanken:
»Sehr geehrter Herr Rektor,vor einem Jahr haben wir unseren Sohn an Ihrer Schule angemeldet, und er wurde abgelehnt. Wir dachten lange, dass wir wohl umziehen müssten, aber nachdem wir dann auch die Absage der anderen Schule bekamen, war es im Grunde schon zu spät, und aus einem Mix aus Sturheit (wir wollen aber hierbleiben und laufen doch davon, vor etwas, das wir gar nicht kennen) und Neugierde (das wird doch mal ein Abenteuer) haben wir also beschlossen, unseren Sohn in der XXX-Schule anzumelden.Die Schule erschien uns von denen, die wir zu Fuß bequem erreichen können, die attraktivste, da sie einen Blog hat, in dem sie ihre Lage und Probleme zu thematisieren schien, was für uns wichtig war, da sie schon seit ein paar Jahren eine Ganztagsschule ist und da wir wirklich nicht in die andere XXX-Schule wollten. Wir konnten im Unterricht hospitieren, waren begeistert von der Lehrerin und von der Art, wie sie JüL (Anm. d. Verf.: jahrgangsübergreifendes Lernen) in ihrer Klasse umsetzt. Also haben wir uns für die Schule entschieden.Warum schreibe ich Ihnen das? In meinem Kopf hatte sich ein Satz festgesetzt, den Sie am Tag der offenen Tür in Ihrer Schule letztes Jahr sagten: Sie könnten uns beruhigen, die Schulen der Umgebung seien alle gut und unsere Kinder dort sehr gut aufgehoben. Das habe ich Ihnen geglaubt, und ich wollte es Ihnen auch glauben.Seit sechs Wochen nun geht mein Sohn in diese Schule, und ich glaube, es könnte auch jede andere in der Gegend sein. Es gibt viele engagierte Lehrerinnen dort, und mein Sohn hat ohne Zweifel eine so wunderbare Lehrerin und ein so schön eingerichtetes Klassenzimmer, dass selbst ich am liebsten dort jeden Morgen zum Lernen bliebe. So weit so perfekte äußere Bedingungen. Ich versuche dennoch jeden Morgen auf dem Schulweg, wenn wir die vielen Kinder treffen, die aus allen Richtungen in ihre Schule laufen oder von den Eltern gebracht werden, die Bitterkeit runterzuschlucken, die ich dabei empfinde, dass mein Sohn nicht die Chance bekommen hat, mit wenigstens ein paar Kindern zusammen zu lernen, die in seiner Welt aufwachsen. Wir lassen ihn jeden Morgen sehenden Auges in eine Umgebung laufen, die ihm völlig fremd ist, wo niemand auch nur annähernd so ist wie er, wo alle Kinder ungewöhnliche Namen
haben und er als eher dunkelblondes Kind schon als ›Der Junge mit den weißen Haaren‹ bezeichnet wurde. Mein Sohn sagt jetzt bereits immer öfter ›Isch‹ – nur als Zeichen dafür, wie schnell man eine Sprache lernen kann, leider falsch herum.Ich glaube eigentlich sehr an die Integrationskraft von Kindern, die über viele Unterschiede ja leicht hinwegsehen können. Aber wenn die Schnittmenge der Lebenswelten so gering ist, wird es doch schwerer, als ich es selbst gedacht hätte. Zum Beispiel wollten wir unseren Sohn wenigstens in den Religionsunterricht schicken, aber den bieten die Kirchen in der Schule natürlich nicht an. Für wen auch?« So weit der Auszug des Briefs einer Mutter. Sie hat übrigens danach eine Elterninitiative gegründet, die mit Flugblättern im Wohngebiet dafür wirbt, dass bildungsorientierte Eltern ihre Kinder nicht woanders anmelden, sondern sich zusammenschließen und ein anderes Klima in die Schule hineintragen. All diese Dinge habe ich täglich im Kopf, wenn ich an den Satz unserer Kanzlerin denke: »Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschlands werden. Das ist es, was unsere Zukunft für die nächsten Jahrzehnte sichert.«
Recht hat sie mit dieser Aussage. Die Realität allerdings ist, dass ein Fünftel bis ein Viertel der Schülerinnen und Schüler in Deutschland die Schule lebensuntüchtig verlassen. Das ist die Ursache dafür, dass so viele junge Menschen, insbesondere Kinder der Einwanderer, es nicht zu einem Ausbildungsplatz und auch nicht zu einem Berufsabschluss bringen. Insgesamt beträgt der Anteil der Ungelernten bei den 20- bis 30-Jährigen 15 %. Davon sind knapp 50 % Frauen. Bei denjenigen mit Migrationshintergrund in dieser Altersgruppe liegt der Wert bei 30 %.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #31 on: November 04, 2012, 09:25:42 am »
Aber zurück zu unseren Schulen in Neukölln. Auch an einer anderen Stelle kann man die Herausforderung des Alltags ablesen. Die Grundschulempfehlung zum Wechsel auf das Gymnasium erhalten in gutbürgerlichen Bezirken regelmäßig so um die 50 % der Schülerinnen und Schüler. In Neukölln erreichen keine 30 % der Kinder diese von ihren Eltern so begehrte Einstufung. Unsere Grundschulen schaffen es eben in der Masse selbst in sechs Jahren des gemeinsamen Lernens nicht, alle Handicaps, die die Kinder von zu Hause mitbringen, auszugleichen. Unsere Lehrerinnen und Lehrer sind halt keine Zauberer.
Lassen Sie mich an dieser Stelle verdeutlichen, warum die Rahmenbedingungen eine so große Rolle spielen. Die Leiterin einer Schule in Nord-Neukölln berichtet, dass sie trotz Ganztagsbetrieb nur bei jedem vierten Kind zu einer Gymnasialempfehlung kommt. Eine Grundschule im Süden mit einem relativ geringen Anteil von 30 % Einwandererkindern und großzügigstem Geländezuschnitt mit eigenem Schulzoo bringt es hingegen auf 63 % zum Gymnasium empfohlene Schülerinnen und Schüler. Veränderte Lernbedingungen durch eine andere Schülerzusammensetzung, räumliche Verhältnisse und der Umgang mit Tieren führen zu einem anderen Schulklima und damit zu einer stärkeren Wissensaufnahme durch die Kinder. Selbstverständlich gibt es auch in den Elternhäusern dieser Schule Auffälligkeiten. Sie schlagen nur nicht mehr 1:1 durch, haben also nicht die üblichen fatalen Folgen. So entstehen schon innerhalb des Bezirkes unterschiedliche Schulmilieus. Es gibt durchaus mehrere Grundschulen, von denen über 50 % der Kinder dem Gymnasium empfohlen werden. Allerdings ist die Zahl der Grundschulen größer, bei denen nur ungefähr 20 % der Schüler diese Empfehlung erhalten.
Auch als Laie nehme ich die Diskrepanz im Entwicklungsstand der Kinder leicht wahr. Mich besuchen häufig Schulklassen im Rathaus. Sie wollen mit mir reden, mich zu ihren Problemen befragen und schauen, wie ein Bürgermeister so regiert. Sitzt er auf einem Thron und hat er eine Krone auf? Die zwar goldfarbene, aber doch preußisch schlichte Amtskette ist dann eher eine Enttäuschung.
Bei diesen Begegnungen wird sehr schnell deutlich, ob eine völlig normale Kommunikation mit den Kindern möglich ist oder ob sie nur in Einfach-Sprache gelingt, weil die Kinder über den erforderlichen Wortschatz nicht verfügen. Ob sie den Begriff »Flaschenöffner« für das Teil kennen, mit dem sie an ihre Brause kommen, was ein Kronkorken ist, wer ein eigenes Handy und einen eigenen Computer hat oder Sport in einem Verein betreibt. Ob sie zuhören, andere ausreden lassen, stillsitzen und sich konzentrieren können oder Zappelphilippe sind, wird in Minutenschnelle
offenkundig. Es sind Kinder aus wirklich verschiedenen Welten, die mich besuchen. Diese Welten entscheiden über ihr weiteres Leben. So etwas darf es eigentlich nicht mehr geben.
Der Rektor einer Grundschule in schwerer See – also in einem »Gebiet mit Ausgrenzungstendenz«, wie Soziologen sagen würden – schrieb mir, dass seine Schüler bis etwa zur 2. Klasse mit ihren eigenen Kompetenzen im Schulalltag gut klarkommen. Ab der 3. Klasse benötigen sie Förderung und Motivationsschübe von außen. Erhalten sie diese Impulse nicht, beginnen sie, sich zurückzuziehen, weil sie nicht mehr mitkommen. Die Leistungen verschlechtern sich rapide, und es stellt sich Schulangst und Schulunlust ein. 20 % bis 30 % der Schüler kommen zwar noch täglich zur Schule, nehmen aber am Unterricht nicht mehr aktiv teil. Bereits zu diesem Zeitpunkt sind bis zu 10 % »schuldistanzgefährdet«, also auf dem Weg zum Schulschwänzer, teilte er mir mit. Von den Eltern komme keine Hilfe. Sie besitzen selbst keine Schulbildung, sind zum Teil sogar Analphabeten, oder es ist ihnen einfach nicht wichtig. Die Kinder werden oft sogar aktiv daran gehindert, rechtzeitig Deutsch zu lernen, und so ist es keine Seltenheit, dass in Berlin geborene Kinder bei der Einschulung kein Wort Deutsch beherrschen. Die Eltern sind nach Einschätzung des Rektors völlig überfordert und belasten ihre Kinder mit ihren Problemen. Konflikte in den Familien werden mit Gewalt gelöst, und den Kindern wird durch die Eltern immer wieder nahegebracht, dass Schule nicht wichtig sei. Auf die Frage, was Abhilfe schaffen könnte, antwortete er: »Wir müssen die Kinder individuell analysieren und versuchen, Verhaltensänderungen in den Familien zu erreichen.« Das gehe nur mit zusätzlichem Personal, weiteren Professionen wie Sozialarbeitern und Erziehungsberatern. »Die Schule allein schafft es nicht«, meinte er.
Ich mache hin und wieder eine kleine Tournee, wie ich es nenne. Ich besuche in einem kurzen Zeitraum verschiedene Grundschulen des Bezirks, immer die gleiche Klassenstufe, immer im selben Lehrfach. Ich beginne im Norden mit einer ganz normalen Schule. Also einer, die am frühen Nachmittag um halb zwei Schluss macht. Über eine gebundene Ganztagsschule ebenfalls im Norden lande ich wieder in einer »Mittags-Schluss-Schule« im Süden. In letzterer ist der Anteil der bildungsorientierten Eltern höher bis sehr hoch. Ich empfehle jedem, der sich für diese Materie interessiert, ein solches Experiment. Es ist ungemein lehrreich. Doch Vorsicht: Es ist ebenso romantikfeindlich. Wer einmal durch verschiedene Schulwelten unterschiedlicher sozialer Milieus gewandert ist, der wird aufhören davon zu fabulieren, es herrsche Chancengerechtigkeit oder die Kinder hätten auch nur annähernd gleiche Voraussetzungen.
Meist gehe ich in die 3. Klassen. Da sind die Kinder auch Fremden noch freundlich zugewandt, nett und nahezu lernwütig. Man könnte sie alle in den Arm nehmen. Egal, welchen Vornamen sie tragen. Aber sie sind eben nicht gleich lernfähig. Der Lehrstoff muss mühsamst immer wieder mit einfachen Worten an sie herangetragen werden, weil sie die Aufgaben oder die Geschichten wegen ihres sehr geringen Sprachstands überhaupt nicht verstehen. Ihnen fehlt der nötige Wortschatz, viele Begriffe haben sie noch nie gehört, können sie nicht deuten und damit keine Inhalte verknüpfen. Sie wissen nicht, was ein Springbrunnen ist, ein Kapitän oder eine Etage. »Finstere Gestalten« muss man ihnen erklären. Oft ist die 3. Klasse fast ein ganzes Jahr zurück. Die Lesekompetenz entspricht der einer 1. Klasse mit Kindern aus bildungsorientierten Schichten. Lesen lernt man nur durch Lesen. Aber zu Hause übt niemand mit den Kindern. Im Schrank steht oft kein Buch. Wozu auch?
Die Schülerinnen und Schüler aus einem fast identischen Wohngebiet, die aber eine Ganztagsschule besuchen, sind bereits weiter. Natürlich bestehen die gleichen Probleme mit dem fehlenden Wortschatz und den mangelnden sozialen Kompetenzen. Aber die Kinder verfügen über mehr Sicherheit, und sie wirken irgendwie selbstbewusster. Der Unterricht macht einen deutlich strukturierteren Eindruck, und die Übungsarbeitsschritte funktionieren reibungsloser. Das hat nichts mit der Lehrkraft zu tun. Und auch nichts mit den Kindern an sich, denn an Begeisterungsfähigkeit, an Liebesbedürftigkeit und Lernhunger unterscheiden sie sich von denen der ersten Schule nicht. Es
ist der angehängte Nachmittag, der den Unterschied ausmacht, dieses »spielend Lernen«. Die Vertiefung des Stoffes nebenbei oder auch nur die längere Zeit der Gemeinsamkeit mit anderen Kindern oder die Aktivitäten unter Anleitung. Vielleicht ist es aber auch viel profaner: Sie sind einfach länger weg vom Fernseher.
Welche Erklärung auch immer die richtige ist: Fest steht, Kinder aus identischen Lebensverhältnissen lernen an einer Ganztagsschule effektiver als Kinder in einer Schule mit traditionellem Betrieb bis 13.30 Uhr.
Den Kulturschock gibt es immer an der dritten Station. Die Kinder der gleichen Altersstufe sind in den Fächern deutlich weiter als die der beiden anderen Schulen. Sie lesen flüssiger, sie reden differenzierter, sie sind kreativer, selbstbewusster und beherrschen den Wechsel zwischen abstrakter und realer Ebene. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Das liegt nicht an schlechteren oder besseren Lehrern. In allen drei Schulen wird engagiert gearbeitet. Es liegt einfach am Elternhaus. In dem einen werden die Kinder inspiriert, sie erhalten Impulse, die Eltern kümmern sich um sie, hören ihnen zu und versuchen, an ihrer kindlichen Welt teilzuhaben. Sie führen die Kinder auch, sie kontrollieren die Schulleistungen, und sie üben, üben, üben. In den anderen Familien geschehen diese Dinge vielfach nicht. Mädchen müssen Hausarbeit verrichten. Die Hausaufgaben machen sie auf dem Boden liegend, weil sie keinen Schreibtisch haben. Die Jungen chatten, hocken vor dem Fernseher oder machen das Einkaufszentrum unsicher. Hauptsache, sie stören nicht. So sieht es aus, das Gefälle innerhalb Neuköllns. Und wie immer gilt das Gesetz der Bandbreite. Nicht alle im Süden sind bildungsorientiert und nicht alle im Norden bildungsfern.
Wenn ich einmal wieder eine Besuchstour durch die Schulen hinter mich gebracht habe, bin ich für eine Weile zu nichts zu gebrauchen. Ich habe dann Zorn im Bauch. Ich sehe diese unschuldigen Kinder, die auf der Suche nach ihrem Weg im Leben und auch bereit und willens sind, auf ihm voranzukommen, und die doch fast keine Chance haben. Ich stehe vor 9-Jährigen, die es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht schaffen werden. Das kann einen nicht kalt lassen. Und es lässt mich auch nicht kalt. Ja, die Hauptverantwortung dafür tragen die Eltern. Aber wir als Gesellschaft sind auch nicht ganz unbeteiligt an dem Desaster. Es mag objektiv so sein, dass viele Eltern überhaupt nicht in der Lage sind, ihren Kindern den Weg ins Leben zu ebnen und sie zu begleiten. Aber es ist auch so, dass sich ganz viele gar nicht darum bemühen. Das ist eine schmerzhafte Wahrheit für Gutmenschen. Es sind eben nicht alle Menschen edel, verantwortungsbewusst und engagiert. Es gibt auch Vollpfosten. Und auch die in unterschiedlicher Farbe. Wegschauen und schwadronieren statt zu intervenieren ist wie das Händewaschen von Pontius Pilatus.
Wenn ich mich in den Schulen erkundige, wie stark angebotene Hilfe von Eltern angenommen wird, wie stark das Elternzentrum nachgefragt ist und wie die angebotenen Kurse ausgelastet werden, ernte ich nicht selten resignierende Blicke. Unter den Eltern ist eine gewisse Trägheit weit verbreitet, und sie ist bequem: Ich habe mein Kind in der Schule abgegeben, und die trägt jetzt die Verantwortung dafür, dass aus ihm etwas wird, dass das Kind alles lernt, was es lernen muss, um Doktor, Ingenieur oder Anwalt zu werden.
Eine andere Variante meiner regelmäßigen Schulbesuche sind Elternversammlungen. Um die Eltern gewissermaßen nach dem Prinzip »Mit Speck fängt man Mäuse« in die Schule zu locken, habe ich gemeinsam mit dem türkischen Generalkonsul Elternversammlungen besucht. Zwei Konsuln haben mit mir schon eine Rundreise durch Neuköllner Schulen gemacht. Der Hintergedanke war: Wenn der Generalkonsul kommt, haben viele etwas mit ihm auf völlig anderer Ebene zu regeln, die Gelegenheit ist günstig, ich gehe da einmal hin. Wenn der Bürgermeister kommt, gibt es vielleicht auch etwas mit ihm zu bereden über die Einbürgerung, über den Lärm im Nachbarhaus oder ähnliches. Also dachten wir uns, eine Elternversammlung, zu der wir einladen, müsste eigentlich erfolgreicher sein als die üblichen.
Tja, Pustekuchen. Bis auf ganz wenige Ausnahmen war das Resultat genauso niederschmetternd wie bei jeder Routineeinladung: Bei Schulen mit Schülerzahlen zwischen 450
und 650 saßen 25 bis 40 Personen im Raum. Die Atmosphäre war, von Ausnahmen abgesehen, stets zurückhaltend bis aggressiv und nicht sehr zugewandt. Die Eltern ergingen sich in endlosen Vorwürfen, wie schlecht die Lehrer und die Schule seien, die Kinder würden nichts lernen, und überhaupt sei vieles ausländerfeindlich. Die Schule bringe den Kindern kein Türkisch bei, und die Krönung war dann manchmal noch, dass die Eltern unterschiedlicher Ethnien sich gegenseitig beschimpften. Ich musste bei mehreren Elternabenden wirklich stark an meiner Zurückhaltung arbeiten, weil die Vorwürfe so absurd und teilweise so unverschämt waren, dass sie eigentlich einer sehr deutlichen Abfuhr bedurft hätten. Ich habe letztlich nicht zur Eskalation beigetragen, weil es keinen Zweck gehabt hätte. Nur in zwei Fällen wurde meine Höflichkeit zu stark auf die Probe gestellt.
Nachdem der türkische Generalkonsul und ich mehrfach auf die Bedeutung der deutschen Sprache hingewiesen hatten, wollten die nachdrücklich vorgetragenen Forderungen nach Türkischunterricht für die Kinder nicht enden. Eine Mutter beschwerte sich, dass sich ihr Sohn im Urlaub in der Türkei nicht mit anderen Kindern auf Türkisch habe verständigen können. Daran könne man die schlechte Qualität der Schule erkennen. Ich habe daraufhin in extrem leicht verständlichen Formulierungen die Position vertreten, dass es Aufgabe einer deutschen Schule in Neukölln sei, den Kindern die deutsche Sprache beizubringen, um sie auf ein Leben in Deutschland vorzubereiten. Wenn sie als Mutter das Kind auf ein Leben in der Türkei vorbereiten wolle, sei das ihr Job, bei dem sie bisher nach ihren eigenen Aussagen aber nicht sehr erfolgreich gewesen sei.
In einer anderen Schule habe ich mir mehrere Redebeiträge zum selben Thema anhören dürfen: dass Deutschland die Menschen aus dem Ausland holt, sie auspresst und dann noch nicht einmal dafür sorgt, dass die Kinder etwas lernen. Diese Weltsicht ermunterte mich zu Hinweisen, welche Anstrengungen andere Menschen unternehmen, um in das als so schrecklich dargestellte Land zu kommen, und welche Leistungen unsere Gesellschaft für jeden Menschen im Land für ein Leben in Würde und frei von Angst vor existentieller Verelendung bereithält. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind diese Leistungen höher als jede Form des Gelderwerbs im Herkunftsland. Allerdings würde ich niemanden daran hindern wollen, die Probe aufs Exempel zu machen.
Ich habe diese Form der Elternabende inzwischen eingestellt. Irgendwann muss man einsehen und begreifen, dass Zwangsbeglückung ein ganz schlechter Kampagnenansatz ist. Auch wenn’s schwer fällt.
Die zunehmende Islamisierung mit immer stärkeren fundamentalistischen Tendenzen macht auch vor unseren Schulen nicht halt. Es gehört inzwischen zum Alltag der Lehrer, sich mit Eltern über ihre Religionsvorstellungen auseinanderzusetzen. Da gibt es sehr konfliktbereite Kollegien, die nicht bereit sind, zu weichen. Das sind die mit der Haltung: Wir machen hier Schule und nicht Religion. Das schafft natürlich Konfliktpotential mit überreligiösen Eltern. Und diese inszenieren manchmal auch demonstrativ diese Konflikte, um sich lautstark in Szene zu setzen. Insofern fand ich die Idee nicht schlecht, in Berlin zum Themenkreis »Islam und Schule« eine Handreichung für Lehrerinnen und Lehrer herauszugeben. Man kann sich natürlich fragen, warum es keine Handreichung »Katholizismus und Schule«, »Protestantentum und Schule«, »Hinduismus und Schule« und so weiter gibt, aber das Thema der aggressiven Egozentrik des Islam hatten wir ja schon.
Seit einiger Zeit gibt es nun eine solche Broschüre. Ich finde, sie ist misslungen. Sie erklärt bestimmte Besonderheiten des islamischen Glaubens, bleibt aber im Ganzen eine klare Position schuldig. Es ist eine Schrift, die in wohlgesetzten Worten Rezepte dafür ausstellt, wie man ohne Gesichtsverlust zurückweicht und das Feld räumt. Beispiele hierfür sind die Feststellung, dass der Ramadan natürlich keinen Einfluss auf das Schreiben von Leistungstests haben dürfe, man aber den Leistungstest so legen könne, dass er nicht in den Zeitraum des Ramadan fällt. Selbstverständlich legen wir nach wie vor Wert auf Sportunterricht für Mädchen, aber bitte, während dieser Zeit darf der Hausmeister die Turnhalle nicht betreten. Bei der Frage des Nahost-Konfliktes sollten sich
Lehrer nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen, und bei der Diskussion um Gleichberechtigung empfehle es sich, Schüler »aus eher traditionell eingestellten Elternhäusern« nicht moralisch zu überwältigen. Auch sollten wir bei der Frage des Duschens oder des Schwimmens nicht zu rigide sein. Im Sexualkundeunterricht möge man auf naturalistische Darstellungen verzichten und stilisierte Graphiken verwenden. Es hätte nur noch gefehlt, dass das beliebte Beispiel mit den Bienen vorgeschlagen worden wäre. Insbesondere hierüber empörte sich eine Schulleiterin: »Diese Broschüre ist mit unseren gesellschaftlichen Werten nicht vereinbar. Wir fühlen uns der Aufklärung und Emanzipation verpflichtet. Es ist doch wichtig, dass Kinder aufgeklärt sind und über ihren Körper gut Bescheid wissen (hoffentlich so gut wie über die Bienen). Dazu brauchen sie realistische Bilder. Wenn ein kleines arabisches Mädchen beim Wickeln ihres kleinen Bruders nicht dabei sein darf, finde ich das unglaublich. Wir wissen auch, wie wichtig Aufklärung in Bezug auf sexuellen Missbrauch ist. Es kann doch nicht sein, dass Kinder nicht wissen dürfen, wie erwachsene Menschen nackt aussehen, aber heimlich in ihren Kinderzimmern **** im Fernseher anschauen.« Eine andere Schulleiterin sagte mir, als ich sie zu ihrer Meinung nach dieser Broschüre fragte, kurz und zackig: »So wie die Dinger gekommen sind, habe ich sie genommen und in den Müll geworfen.«
Ich will mich in den Schulalltag überhaupt nicht einmischen. Das ist nicht meine Baustelle. Aber ich akzeptiere nicht, dass hinterweltlerische, vordemokratische Denkstrukturen all jene Dinge in Frage stellen und sogar über sie obsiegen, die sich unsere Gesellschaft in über 100 Jahren auf dem Weg zur Modernität und zur Liberalität erarbeitet hat. Ich persönlich bin nicht bereit, mich diesem Quatsch zu beugen, dass das Anschauen eines anderen Menschen unzüchtig ist, eine Berührung an den Händen unrein macht und dass ein gottgefälliges Leben von der Verbreitung des Glaubens mit Blut und Tränen abhängt.
Natürlich habe ich mir auch zum Bereich der Schulen zwei Kronzeuginnen an meine Seite geholt. Beide leiten Grundschulen in abgegrenzten Wohnsiedlungen, beides gestandene Persönlichkeiten, die durchaus der Meinung sind, dass in ihrer Schule das geschieht, was sie sagen. Nicht das, was die Väter sagen, und nicht das, was der benachbarte Imam sagt.
Die eine führt ihre Schule seit 1992 und erinnert gern daran, dass der Anteil der Einwandererkinder einmal 23 % betrug und alle Eltern einer Erwerbstätigkeit nachgingen. Heute beträgt der Anteil der Einwandererkinder 83 % bei fast deckungsgleichem Anteil der Familien im Hartz-IV-Bezug.
Die Entwicklung in ihrem Einzugsgebiet hält sie für eine Folge der Heiratspolitik der Familien. Das Einfliegen von Importbräuten für die jungen Männer greift seit längerem um sich, und bei den jungen Frauen ist es zu 90 % der Cousin aus der Heimat, der urplötzlich die Liebe im Herzen entzündet hat. Die allermeisten ihrer Schüler kommen aus arabischen Familien, und die Mehrheit holt die Ehepartner jeweils neu ins Land. Zu diesem Themenkreis gehört aus Sicht dieser Schulleiterin auch die zunehmende Zahl der Konvertierten. Meist ungelernte, junge deutsche Mädchen, die ihren »Omar Sharif für Arme« gefunden haben. Allein an ihrer Schule sind 25 Mütter Konvertitinnen. Und 25 % der Schüler jedes Abschlussjahrgangs erhalten an ihrer Schule eine Gymnasialempfehlung mit der Note 2,2 oder besser. Das sind fast ausschließlich Kinder von den Eltern, die noch berufstätig sind. Dieselben, die sich an der Schulkonferenz beteiligen oder Elternsprecher sind.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #32 on: November 04, 2012, 09:26:47 am »
Ihre Schule liegt im Einzugsbereich der Al-Nur-Moschee, eines der beiden Salafiten-Zentren in Berlin. Daher rührt auch der ständige Nachzug von arabischen Familien in dieses Gebiet. Sie sagt: »Diese Familien leben in großen Gebinden, in Clans.« Die türkischen Familien leben dagegen fast wie die Deutschen. Ihre Kinderzahl ist europäisiert, und sie sind Einzelfamilien. In der Schule bekommen die Kinder das zu essen, was ihnen schmeckt. Niemand muss Schweinefleisch essen, aber es werden auch Gerichte mit Schweinefleisch angeboten, weil es Schüler gibt, die diese Gerichte essen wollen. Obst und Gemüse gibt es immer umsonst, und belegte Brötchen sind für 30
Cent zu haben.
Die Mitarbeit der Eltern in der Schule lässt sehr zu wünschen übrig. Bei den Vätern ist diese Erlebniswelt völlig unterbelichtet. Bleibt der Schulerfolg aus oder gibt es Unregelmäßigkeiten, so ist die Schule natürlich schuld, der Lehrer faul, die Lehrerin dumm. Gewalt erlebt sie weniger an ihrer Schule. Es ist mehr die emotionale Verwahrlosung der Kinder, die sie stört. Es ist auch anders als früher, sagt sie. »Da haben die Kinder noch von zu Hause erzählt. Heute tun sie das gar nicht mehr. Sie sind darauf gedrillt, ja nichts von daheim zu offenbaren.«
Das große Thema der Schulversäumnisse, des Schwänzens, und das Problem, dass immer wieder Kinder vor Ferienbeginn in die Heimat fliegen und erst einige Tage nach Ferienende wieder in die Schule kommen, weil die Flugtickets dann billiger sind, überspringt sie mit flotten Sätzen. Alles hat sich eingeschliffen. Die Familien sind professionalisiert, sie haben ihre Ärzte, die alles Erforderliche bestätigen. Die Krankenkassen, das Schulamt und das Jugendamt sind nicht in der Lage, Sachverhalte zu ermitteln oder Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. In einem eindeutigen Betrugsfall mit einem vom Arzt falsch ausgestellten Attest unter Missbrauch der Krankenversicherungskarte hat sie sich einmal an die AOK gewandt. Die Antwort: »Das interessiert uns nicht. Wenn die Ärzte zu viel abrechnen, schaden sie sich nur selbst. Wir zahlen eine Pauschale. Die Aufteilung machen die Ärzte untereinander.« Ich weiß nicht, ob das so stimmt. Aber wenn dem so ist, dann wundert mich auch der bekannte »flexible« Einsatz der Krankenkassenkarte nicht mehr. Kannst du ruhig machen, passiert nix, ist zum System geworden. Die Rektorin wäre für die Nürnberger Gangart: In den letzten zehn Tagen vor den großen Ferien kontrolliert die Polizei auf dem Flughafen alle Familien mit schulpflichtigen Kindern darauf, ob sie eine Schulbefreiung vorweisen können. In Neukölln würden solche Schulversäumnisse noch im Rahmen des Möglichen geahndet. In anderen Bezirken geschieht ihrer Kenntnis nach gar nichts mehr.
An dieser Stelle passt der Hinweis, dass mich zu Beginn der Sommerferien 2012 ein Hilferuf eines Neuköllner Gymnasiums erreichte: Man wisse nicht mehr, wie man die eigenmächtige Verlängerung der Heimataufenthalte über die Ferienzeit hinaus abstellen könne. Ohne von der Kollegin aus der Grundschule zu wissen, regte die Schulleitung ebenfalls Kontrollen schulpflichtiger Kinder an den Flughäfen an. Apropos, beim Thema große Ferien fallen mir noch die im Jobcenter zu dieser Zeit immer sprunghaft ansteigenden Anträge ein, mit der zum Zwecke der Fahrt in die Heimat die Genehmigung für – wie es im Behördendeutsch so schön heißt – Ortsabwesenheit beantragt wird. Schenkt man den Begründungen Glauben, warum man sich momentan leider nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen könne, sondern ein längerer Aufenthalt im Heimatland unbedingt erforderlich sei, so stehen wir jedes Jahr vor dem Phänomen, dass Vater, Mutter, Onkel, Tante oder andere nahe Verwandte gerade in den Sommerferien epidemieartig schwer erkranken. Doch zurück zu unserer Grundschulrektorin.
Auf die Frage, wie groß ihrer Einschätzung nach der Anteil der Familien ist, die sie als ihre Sorgenkinder bezeichnen würde, sagt sie 30 %. Die ****-Fälle sind fünf bis sieben pro Klasse. An denen kann man sich trefflich abarbeiten. Es beginnt damit, dass mehr als die Hälfte aller Eltern morgens im Bett liegt, wenn die Kinder zur Schule müssen. Der Fernseher hatte abends halt zu lange Besitz von ihnen ergriffen. Für die Kinder gilt das manchmal gleich mit. Das merkt man daran, dass sie um 11:00 Uhr im Klassenraum einschlafen.
Befragt nach den Kopftüchern bei kleinen Mädchen, berichtet sie, dass dies eher eine Spezialität bei den Araberfamilien ist. Und zwar bei den Familien, die sich im Transferbezug befinden. Arbeitende Eltern, insbesondere türkische, treten in diesem Zusammenhang selten in Erscheinung.
Sie ist eine der engagiertesten Gegnerinnen der Einschulung bereits mit 5½ Jahren. Sie sagt: »Was soll ich hier mit diesen Schnullerkindern? Sie sind noch nicht gruppentauglich, dazu sind sie oft auch noch entwicklungsverzögert, viele können nicht richtig sprechen, und eigentlich bräuchten alle ein Jahr Vorklasse.« Sie sagt, dass die Familien, die bewusst neben der deutschen Gesellschaft
her leben und diese auch ablehnen, in den letzten Jahren deutlich mehr geworden sind. Es passt auch alles gut zusammen. In der Siedlung gibt es schöne große Wohnungen, die Familien haben so viele Kinder, dass auch das Jobcenter die Wohnungen als angemessen akzeptiert, und die Moschee ist gleich um die Ecke. Der Anteil der Analphabeten nimmt zu, insbesondere durch den Zuzug von Roma-Familien, aber auch innerhalb der arabischstämmigen Community.
Ihr Steckenpferd sind der Schwimm- und Sportunterricht, das Duschen und die Körperhygiene. »Doch was soll ich machen?«, klagt sie. »Ich kriege Briefe von eigentlich funktionalen Analphabeten in perfektem Deutsch mit einem beigehefteten Attest vom arabischen Arzt, dass das Kind irgendwas am Öhrchen hat und nicht schwimmen darf.« Die Schulärztin ist überlastet, kann sich um den Fall nicht kümmern, und damit ist wieder alles geregelt.
Auf die Armut unter den Eltern angesprochen, reagiert sie gereizt. »Wenn elektronische Geräte ein Indiz für den Lebensstandard sind, dann geht es meinen Familien nicht schlecht. Wenn die Autos, die morgens vorfahren, ein Indiz für ihren Wohlstand sind, dann geht es meinen Familien sogar sehr gut.« Bildung und Teilhabe, ist das ein Thema bei Ihnen? »Ja, wir prüfen jetzt drei Berlin-Pässe, um 1,50 Euro erstattet zu bekommen. Noch einen Zettel und noch einen Zettel füllen wir aus. Außerdem gibt es 100 Euro für Schulmaterial, aber die landen natürlich wieder nicht beim Kind.«
Es ist alles ein bisschen düster, was die Rektorin mir erzählt. Wir gehen anschließend durch die Schule, treffen Kinder, scherzen und lachen mit ihnen, da sind die dunklen Wolken weg. Aber ich denke mir, so eine Schulleiterin wird wohl wissen, worüber sie redet.
Meine zweite Gesprächspartnerin ist in ihrer Wohnsiedlung ebenfalls nicht als Knutsche-Entchen bekannt. Seit 1972 ist sie hier. Sie kämpft für ihre Kinder, und dabei nimmt sie auf kaum etwas oder irgendjemanden Rücksicht. Als ich einmal mit dem Regierenden Bürgermeister ihre Schule besuchte, hat sie ihm unverblümt ihre Meinung gesagt. Ich fand es gut. Wie er es fand, weiß ich nicht.
Die kämpferische Frau hat die Widerstandsbewegung gegen das jahrgangsübergreifende Lernen (JüL) in Berlin angeführt und ist eine hartnäckige Gegnerin des Senats bei der Frage, ob Vergleichstests wie »VERA 3« wirklich überall Sinn machen. (Für die Nicht-Lehrer unter Ihnen sei darauf hingewiesen, dass dies die Bezeichnung für die Vergleichstests für Grundschüler der 3. Klassen ist.)
Meine Schulleiterin bekennt sich zum Widerstand, betont aber, dass sie weder etwas gegen Differenzierung noch gegen Tests habe. Nur müssten die Dinge auf die Kinder zugeschnitten sein. Und die meisten der Kinder in Neukölln haben einfach zu wenig Vorwissen. Sie haben kein Buch, keiner liest ihnen vor, und keiner spielt mit ihnen. Die Sozialkompetenz entspricht nicht ihrem Lebensalter. Kinder werden durch ihre Umwelt eben völlig unterschiedlich geprägt. Während die Kinder ihrer Schule noch an Dinge herangeführt werden, lesen Gleichaltrige an anderen Orten bereits selbständig. Deshalb hält sie weder von JüL noch von VERA 3 in ihrer Schule etwas: Weil die Grundvoraussetzungen der kommunizierenden Kompetenzröhren einfach nicht vorhanden sind. Weil Dinge von ihren Kindern gefordert werden, die sie nicht liefern können. Sie jedenfalls zieht Lernentwicklungsberichte solchen nicht aussagekräftigen Momentaufnahmen vor.
Ihre Klagen über die sich verweigernden oder nicht verstehenden Eltern sind die gleichen wie die von ihrer Kollegin. Papa und Mama nehmen wenig teil am Schulleben, die Resonanz bei Themenabenden ist gering, und allgemeine Elternabende haben eben keine Bedeutung, oder es ist schlicht zu mühselig hinzugehen. 87 % der Familien ihrer Schule sind nicht-deutscher Herkunftssprache, und 90 % sind von der Zuzahlung zu den Lernmitteln befreit. Aufgrund der Arbeitslosigkeit verharren die Eltern in Lethargie und Antriebslosigkeit. Die Menschen leben einfach in den Tag hinein. Ihr Aufstiegswille ist völlig verkümmert, und der Ehrgeiz, etwas aus ihrem Leben zu machen, ist, wenn er jemals da war, erlahmt. Somit erhalten die Menschen auch von außen keine Inspiration mehr. Erwerbstätige müssen sich immer auf Neues einstellen. Aber wer nur
zu Hause sitzt oder es maximal bis ins Café schafft, stumpft ab. Das Kind ist in der Schule abgegeben, und jetzt sollen die Deutschen mal machen. Dass die Zensuren auch eine Benotung ihrer Mitarbeit sind, dass sie selbst etwas zum Erfolg ihrer Kinder beitragen müssen, das verstehen sie nicht, oder sie hören einfach nicht hin. Sprachmängel können zum Selbstschutz auch hilfreich sein.
Es sind keine Vorwürfe, die die Schulleiterin formuliert. Es ist eine nüchterne, ungeschminkte Bestandsaufnahme ihres täglichen Ringens. Viele Kinder sind überbehütet und unselbständig. Sie werden viel zu lange gefüttert und von der Mutter angezogen. Ein Junge kam in die Schule und konnte nicht alleine essen, weil er das zu Hause nicht lernen durfte. Viele Kinder werden jeden Morgen in die Schule gebracht, obwohl der Schulweg kurz ist und sie nicht mal eine Straße überqueren müssen. Manchmal muss man schon einen Moment tief durchatmen.
Die Rektorin hat eine enge Kooperation mit der benachbarten Kindertagesstätte geschlossen. Beide Leitungen sprechen sich ab, welche Schwerpunkte sie bilden, wie sie die Kinder zum Beispiel an ein gesundes Frühstück gewöhnen. Obst und Gemüse gibt es hier wie dort jederzeit umsonst. Einen wachsamen Blick haben sie auf die Entwicklung der Mädchen. Frauen und Mädchen werden in den Familien oft überfordert. Von früh an müssen sie im Haushalt helfen oder auf kleinere Geschwister aufpassen. Die Jungen haben sehr viel mehr Freiheiten. Sie sind die kleinen Prinzchen, denen oft keine Grenzen gesetzt werden und die sich in der Schule nicht an Regeln halten können. Viele sind schon bei Schuleintritt verhaltensauffällig. Die Anzahl dieser Jungen hat in den letzten Jahren leider zugenommen. Die Erziehung zum King führt dazu, dass sie irgendwann merken, dass sie nichts von dem beherrschen, was einen tatsächlichen King ausmacht. Dann bleibt ihnen meist nur die Gewalt.
Analphabetismus der Eltern ist nicht das Hauptproblem an dieser Schule. Verschuldung schon eher. Bis zu dem Punkt, dass die Mieten nicht gezahlt werden. Dann muss das Quartiersmanagement ran und versuchen, den Eltern mit einer Schuldnerberatung zu helfen und zwischen Mieter und Vermieter zu vermitteln. Auf das Thema Schwarzarbeit angesprochen, antwortet sie, dass sie aufgehört hat, darüber nachzudenken. Es ist nicht ihr Job und auch nicht ihr Gebiet. Es würde sie unnötig belasten. Für Statussymbole scheint immer Geld da zu sein. Die sind eben wichtig, wichtiger als die Miete. Mit den arabischstämmigen Familien zu arbeiten sei nicht einfach. Sie fühlten sich immer sofort als Opfer. Jeder kritisiert uns, jeder will was von uns, und ständig werden wir angegriffen. Früher waren wir weiter, so empfindet sie es.
Besondere Bedeutung misst sie dem Kopftuch bei. An ihrer Schule gebe es keine kopftuchtragenden kleinen Mädchen. Sie lasse nicht zu, dass Kinder schon im jüngsten Alter auf eine bestimmte Rolle festgelegt werden, dass sie nicht Fahrrad fahren oder schwimmen dürfen. In diesen Dingen sei sie knallhart. Ob das denn ohne Konflikte abgehe, will ich wissen. Nein, beileibe nicht, sie habe schon viele böse schimpfende arabische und türkische Väter er- und überlebt.
Von einem Vater wurde sie als »General« betitelt, weil sie jeden Morgen im Foyer der Schule Aufsicht macht und darauf achtet, dass die Kinder ihre Mappen und Turnbeutel selber tragen. Sie sollen auch ohne Eltern in die Klasse gehen, um die schulischen Angelegenheiten allein mit der Lehrerin oder dem Lehrer zu klären. Auf diese Weise sollen sie Selbständigkeit und Eigenverantwortung lernen. »Da steht wieder die Rote«, musste sie sich von Eltern anhören, die diese Erziehungsmaßnahmen nicht richtig finden.
Sie versucht, die Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen. Mit den Kompetenzen, die sie haben. Väter sollen ihre Jungen zur Fußball-AG begleiten, gemeinsam spielen und hinterher zusammen grillen. Weil zu wenige Väter kamen, wurde das Projekt eingestellt. Väter sollten auch bei der Gestaltung des Schulhofs helfen und Pflastersteine mit Schubkarren transportieren. Leider kamen die Väter nicht. Sie achtet darauf, dass ihre Kinder während des Ramadan nicht fasten, und rückt, wenn nötig, den Eltern auf die Pelle. Die Klassenlehrerin, der Klassenlehrer oder sie selbst ruft die Eltern an. Sie will nicht warten, bis unter 10-Jährige Kreislaufprobleme bekommen, nur weil die Alten nicht vernünftig denken können.
Ja, sie ist auch autoritär. Zum Beispiel, wenn es um Pünktlichkeit geht. Bei ihr gibt es keinen flexiblen Schulbeginn, bei dem die Kinder zwischen 7:45 und 8:15 Uhr kommen können. Angeblich sind sie dann entspannt, wenn der Unterricht beginnt, kommen nicht gehetzt mit rotem Kopf und müssen sich in der ersten Stunde erst einmal beruhigen. So sehen es jedenfalls die Schulen, die sich für jenes Modell entschieden haben. Sie habe damit keine guten Erfahrungen gemacht. Schulbeginn ist Schulbeginn, und da muss man pünktlich sein. Gerade bei den arabischen Familien ist es wichtig, dass sie Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit lernen. In den weiterführenden Schulen und am Arbeitsplatz werden diese Tugenden und Pünktlichkeit erwartet.
Viele der Lehrerkollegien stehen immer wieder vor der Frage, auf wen sie sich konzentrieren sollen oder wollen. Auf die Eltern oder auf die Kinder. Das macht sich an ganz praktischen Dingen fest. Viele Eltern geben ihren Kindern keine Schulbrote mit. Soll man in einer Cafeteria gespendete und von ehrenamtlich tätigen Menschen aus der Nachbarschaft belegte Brötchen, Süßwaren und Obst kostenlos oder zu minimalem Preis bereitstellen oder nicht? Braucht man eine Notfallkasse, um Kindern Schuhe und Jacken gegen die schlechte Witterung kaufen zu können? Soll man in der Klasse Ersatzschulmaterialien für Kinder bereithalten, die sie nicht mithaben – weil vergessen, von anderen Geschwistern verbummelt oder zerstört oder aber im elterlichen Chaos untergegangen?
Die eine Schule entscheidet alle diese Fragen mit Ja. Sie legt den Fokus auf das Wohl des Kindes. Es braucht Nahrung, es braucht Kleidung, und es muss dem Unterricht folgen können. Das Kind kann schließlich nichts für seine Eltern.
Die andere Schule entscheidet mit Nein. Sie sagt, auch wir sehen das Kind. Wir möchten, dass es lernt, sich um seine Sachen zu kümmern und zu Hause auch seine Bedürfnisse einzufordern. Treten wir an die Stelle des Elternhauses, fördern wir die Vollkasko-Mentalität und Faulheit nach dem Motto »Klappt doch, irgendjemand kümmert sich und löst mein Problem«.
Ich werde an dieser Stelle kein Votum abgeben. Jede Schule muss ihren eigenen Weg finden.
Der Mensch ist so, wie er ist. Ich erinnere mich an eine Geschichte aus meiner Zeit als Jugenddezernent. Gegenüber einer Kindertagesstätte befand sich ein Kinder-Clubhaus. Also ein freiwilliges Angebot der Freizeitgestaltung. Ich ordnete an, dass in der Kita nicht verbrauchtes Mittagessen nicht weggeworfen, sondern dem Kinder-Clubhaus zur kostenlosen Verteilung überlassen wird. Nach einem halben Jahr habe ich diese Anweisung widerrufen. Ein Teil der Eltern hatte seine Kinder im Hort abgemeldet, weil es nunmehr kostenloses Essen gegenüber im Kinder-Clubhaus gab. Ich habe das auf dem Konto Lebenserfahrung verbucht. Übrigens: Die Frage von Einwanderung war hier nicht tangiert.
Es ist immer dasselbe, was ich zu hören bekomme. Es geht um den Fernseher, der zu einem ausgesprochenen Hassobjekt für alle Außenstehenden geworden ist. Die Familie sitzt davor, und er erschlägt jeglichen Alltag. Ein Schulleiter sagte einmal: »Bei unseren Schülern läuft der Fernseher als optisch-akustische Tapete permanent mit. Er ist ein Familienmitglied.« Besonders dann, wenn es draußen dunkel, kalt oder nass ist. Outdoor-Leben findet nicht statt. Den Plänterwald – eine große Grünanlage an der Spree –, nur wenige Minuten entfernt, kennen viele Kinder nicht.
Aktiv werden viele Eltern immer nur dann, wenn ihre persönlichen Erwartungen nicht erfüllt werden. Die Schulleiterin berichtet mir von den Auftritten der Eltern, wenn das Kind beim Übertritt in die Mittelstufe keine Gymnasialempfehlung erhalten hat. Sie erinnert dann an ihre ständigen Ermahnungen, mit dem Kind zu üben. Doch gerade die Eltern, die sich am lautesten beschweren, haben damals nicht auf sie gehört. Jetzt ist sie schuld, und manchmal wird auch gern noch die Rassismuskarte gezogen.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #33 on: November 04, 2012, 09:30:44 am »
Der Schulalltag hat viele Gesichter
Bei der Abfassung eines Buches mit der Aufgabenstellung, die ich mir gesetzt habe, kommt man immer wieder an die Stelle, an der man sich selbst fragt, ist es nicht genug? Haben jetzt nicht alle begriffen, was du meinst? Oder ist es der Chronisten-Pflicht geschuldet, umfassend zu berichten? Mir fallen dann die schnellen, besänftigenden Kommentare ein, die bei irgendeinem unschönen Vorgang beteuern, dies sei ein absoluter Einzelfall, den man auf gar keinen Fall verallgemeinern dürfe. Das ist eben die Lebenslüge! Bestimmte Entwicklungen sind identisch und von einer Stelle oder von einem Ort auf den nächsten übertragbar. Deswegen helfen uns ja auch keine Projekte. Diese wirken regional und temporär. Aber schon an der nächsten Ecke helfen sie nicht mehr. Deshalb will ich die Beispiele weiter streuen, um zu zeigen, dass sich viele engagierte Leute an unterschiedlichen Orten mit immer den gleichen Problemen auseinandersetzen müssen.
Eines Tages schickt mir unaufgefordert eine Grundschule ihr neues pädagogisches Konzept mit der Bitte um Unterstützung. Auf den ersten Blick bin ich etwas verwundert, denn die Schule liegt, geographisch gesehen, in einem »befriedeten« Gebiet. Auch die statistischen Werte sind für Neukölln nicht wirklich eine Sensation. Der Anteil der Einwandererkinder beträgt 70 % und der Anteil der Schüler mit Lernmittelbefreiung 35 %. Eine Schule im Innenstadtbereich würde diese Verhältnisse als sehr entspannt bezeichnen. Trotzdem gibt es Probleme. In ihrem Konzept beschreibt die Schule die Situation so:
»Alle bisherigen Bemühungen, Eltern zur Zusammenarbeit mit unserer Schule zu bewegen, führen zu schmalen Ergebnissen. An unserer Schule existiert seit drei Jahren ein Eltern-Café. Seit einem Jahr kommen von 340 Eltern nun ca. zehn Mütter regelmäßig. Seit drei Jahren finden gemeinsame Konferenzen für Eltern, Lehrer und Hort-Erzieherinnen an unserer Schule statt, in denen wir mit den Eltern unsere Themen und unsere Arbeit besprechen wollen. Teilnahme 40 von 340 Eltern. Entwickelte Förderpläne für lernschwache Kinder werden von den Lehrerinnen zusammen mit den Kindern und Eltern besprochen und unterschrieben, denn zu Hause müssen die Eltern mit ihren Kindern üben, wenn sie nachhaltige Erfolge für ihre Kinder erleben wollen. Nachweislich üben die wenigsten Eltern mit ihren Kindern zu Hause.Am Gesamtelterntreffen nimmt noch nicht einmal die Hälfte der Eltern teil. Elternabende sind zunehmend schlecht besucht. Die wöchentliche Sprechstunde der Lehrerinnen wird kaum von den Eltern genutzt. Von der Schule ins Leben gerufene Elternaktionen zur Verschönerung der Schule, die schließlich ihre Kinder besuchen, wurden nur von ca. 5 % der Eltern wahrgenommen. Andererseits sind die Eltern anspruchsvoll. Der Anspruch richtet sich gegen die Schule. Wir Lehrerinnen und Erzieherinnen sollten die Kinder rundum bilden und erziehen.Die Kinder leben in Armut, aber darunter ist nicht die finanzielle Situation zu verstehen, sondern die Erziehungs- und Bildungsarmut. In der Schule werden von Organisationen der Einwanderer Seminare für arabisch- und türkischstämmige Menschen angeboten. Konkrete Aktionen kommen nicht zustande, weil die Mindestzahl von zehn Teilnehmern nicht erreicht wird.« Diese sehr engagierte Schule hat einen Strich gezogen. Sie sagt, die Erfahrung der letzten Jahre zeige, dass unsere Eltern dringend Unterstützung benötigen. Wenn die freiwilligen Angebote jedoch nicht in Anspruch genommen würden, müssten sie künftig verpflichtend sein. Nur mit Verbindlichkeit lasse sich Nachhaltigkeit erreichen. Die Schule hat die Sorge: »Auch an unserer Schule lassen sich in den letzten Jahren vermehrt Bullying-Situationen, also körperliche, verbale und psychische Gewaltausübung unter den Schülern, beobachten. Zudem werden wir vermehrt Zeugen rassistischer Äußerungen.« Zu Recht bemängelt die Schule, dass sie mit ehrenamtlichen Mediatoren und nur dem Stammpersonal diesen Herausforderungen auf Dauer nicht gewachsen ist.
Die Erziehung und Bildung eines Kindes vollziehen sich in einem Dreieck, bestehend aus dem Elternhaus, der Schule und dem sozialen Umfeld. Dies ist unstrittig. Gelegentlich gibt es unterschiedliche Präferierungen für die einzelnen Mosaiksteine. Mal werden sie als gleichgewichtig angesehen, mal weist man dem Elternhaus die bestimmende Wirkung zu, mal der Schule, mal dem
sozialen Umfeld. In einem sind sich alle Fachleute jedoch einig: Bricht einer der drei Bereiche weg, können die beiden anderen die Funktionsfähigkeit des Dreiecks kaum aufrechterhalten. »Wenn ein Elternhaus einem Lehrer, einer Lehrerin oder einer Schule ablehnend gegenübersteht, haben wir ganz, ganz schlechte Karten, weil das Kind in seinen negativen Sozialhandlungen gedeckt wird«, so formuliert es ein Schulpsychologe mit langjähriger Berufserfahrung.
Bei all meinen Kontakten mit Erziehern, Sozialarbeitern und Lehrern habe ich niemals gehört, dass von diesen Klage über die Kinder geführt worden wäre. Auch die Eltern wurden nur indirekt als Verursacher der kritischen Situation empfunden. Ansatzpunkt für die zum Teil ja doch recht heftigen Worte waren stets unser gesellschaftliches Versagen auf der einen Seite und auf der anderen die importierten Wertegerüste, die archaischen Verhaltensweisen und tradierten Rollenmuster, in denen die Familien verhaftet sind und die zu ihrer Unbeweglichkeit und mangelnden Anpassung führen. Religiöser Wahn, fundamentalistische Glaubensriten, aber auch Bequemlichkeit und Abzocke – das sind die Dinge, die die Helfer zur Verzweiflung treiben.
Im folgenden Kapitel werden Sie der Rütli-Schule erneut begegnen. An dieser Stelle nur ein kleiner Vorgeschmack, wie alles begann. Es war ein richtiges Medien-Festival. Als ob jemand den Spund aus dem Weinfass gezogen hätte. Ich hatte so etwas in meinem Leben noch nicht gesehen. Die ganze Rütlistraße glich einem Heerlager: Zelte waren aufgebaut, Wohnwagen, Dutzende von überdimensionierten Satellitenschüsseln aufgestellt. Ich glaube, die Redewendung »Hunderte von Journalisten« ist nicht übertrieben. Alles musste damals herhalten: Bilder der Gewalt, unflätige Äußerungen der Schüler, Kommentare, die das Blut in Wallung brachten. Die veröffentlichte Meinung brauchte ihren Horrortrip. Noch lange gab es Streit um die Anschuldigungen, dass Journalisten Schülern Geld dafür gezahlt hätten, dass sie vor laufenden Kameras randalieren.
Als einige Journalisten damals durch das Gebäude geführt wurden, waren sie arg enttäuscht. Es gab keine beschmierten Wände, keine herausgetretenen Türen, und nirgendwo waren Blutlachen auf der Erde zu sehen. Ich will die schwierige Situation seinerzeit nicht schönreden. Aber die Rütli-Schule war eine Hauptschule wie viele andere in Deutschland. Die, die da unterrichtet wurden, waren nicht selten sogenannte »Wanderpokale«. Also Schülerinnen und Schüler, die von Schule zu Schule durchgereicht worden waren, bis sie dann in der Rütli-Schule landeten.
Natürlich wussten die jungen Leute das. Ihnen war klar, dass die Rütli-Schule nicht der Start in ein glorreiches Leben, sondern eher das Ende einer vermasselten Schulkarriere war. Und so benahmen sie sich auch. Sie hatten bis zur Ankunft in dieser Schule nichts getan und nichts gelernt, und sie setzten diese Haltung routiniert fort. Unterricht im klassischen Sinne war an dieser Schule nicht möglich.
Das war die eine Seite der Medaille. Die andere Seite war ein Kollegium, das auf die Schülerschaft nicht vorbereitet war und ihrer auch nicht Herr wurde. Die kulturelle Kompetenz der Lehrkräfte war schnell ausgeschöpft. Das merkten die jungen Leute sehr flink. Rücksichtslos, wie Jugendliche nun einmal sind, nutzten sie jede Schwäche aus und feierten jeden Nervenzusammenbruch, jeden Tränenschwall einer Lehrerin als einen gigantischen Sieg über die verhasste Schule.
Aus dieser Situation heraus entstand die Erfolgsgeschichte vom Campus Rütli. Ein Vorzeigeprojekt, auf das wir stolz sind und an dem viele Menschen ihren Anteil haben. Es macht inzwischen richtig Spaß, die sich immer weiter steigernden Erfolge der Rütli-Schule mitzuerleben.
Das zweite Beispiel, dass Schule in Brennpunkten anders geht, ist das Albert-Schweitzer-Gymnasium. Es liegt in einem »kriminalitätsbelasteten Gebiet«, wie die Polizei sagt. Im Inneren war wohl auch nicht alles Gold, was glänzte. Jedenfalls war es 2006 so, dass es noch 385 Schülerinnen und Schüler auf 640 Plätzen gab. Die Schule starb. Wir hätten sie damals schließen können. Ja, eigentlich schließen müssen. Die öffentliche Reaktion hätte gelautet: »Die Doofen in Neukölln brauchen kein Gymnasium.« Der damalige Schuldezernent und ich wollten das nicht. Wir wollten eine erfolgreich funktionierende Schule. Und so wurde ein neuer Direktor geholt. Einer, der
tschechische Schüler zum deutschen Abitur geführt hatte. Was mit Tschechen geht, muss mit Neuköllnern auch klappen, dachten wir uns. Und wir machten aus dem Normal-Gymnasium eine Modellschule – Berlins erstes Ganztagsgymnasium. Als Partner holten wir das Quartiersmanagement und das Türkisch-Deutsche Zentrum ins Boot. Sie übernahmen die Freizeitgestaltung und das Schülercoaching. Die Coaches sprechen die Sprache der jungen Leute, für die ein Oberstudiendirektor eine Anzeige bekommen würde. Wir führten Förderkurse ein. Förderkurse in Deutsch an einem deutschen Gymnasium! Der Skandal war perfekt. Im Probejahr fingen wir mit den Schülern an, die gerade die Grundschule beendet hatten und jetzt in die 7. Klasse kamen, und verlängerten mit Erfolg die Probezeit auf zwei Jahre. Der Anteil von Einwandererkindern beträgt nach wie vor 93 %. Überwiegend aus bildungsfernen Familien. Die Schule analysiert die Defizite und geht sie an.
Heute, sechs Jahre später, hat das Gymnasium 691 Schüler. Wir mussten die Räume erweitern. Es ist inzwischen eine sehr beliebte Schule. Die Zahl der Abiturienten wurde versechsfacht. Die Noten liegen im Berliner Durchschnitt, und heute hat jeder Berliner Bezirk ein Ganztagsgymnasium. Über die Kosten hatte ich bereits berichtet. Das Albert-Schweitzer-Gymnasium ist keine bildungspolitische Revolution. Aber es hat uns gezeigt, dass Schule und Bildung auch im sozialen Brennpunkt funktionieren können.
Das sind die Beispiele, die ich an anderer Stelle meinte. Das Albert-Schweitzer-Gymnasium und die Rütli-Schule sind zwei Leuchttürme Neuköllns. Trotzdem reicht ihre Kraft natürlich nicht, um die Gesamtsituation in einer Stadt von 313 000 Einwohnern zu verändern. Solange wir die Regelsysteme nicht den veränderten Anforderungen anpassen, solange werden die Probleme uns beherrschen und nicht wir sie. Auch in Neukölln haben wir noch immer Schulen mit starken Disziplinproblemen, mit Schulverweigerern, Rowdys, Gewalt und Vandalismus. Die ethnischen Komponenten wirken dabei im Tagesgeschäft unserer Kollegien erschwerend. Die Rütli-Schule war nur das Synonym für eine gescheiterte Bildungspolitik. Immer wieder gibt es solche Aufwallungen in anderen Bezirken Berlins oder auch bei uns. Die nachstehenden Auszüge eines Briefes der Lehrerschaft einer anderen Neuköllner Schule stammen von Mitte 2011. Also fünf Jahre nach Rütli. Hat sich grundlegend etwas geändert?
»Folgende Probleme sind in den höheren Jahrgangsstufen besonders gravierend und führen das Kollegium an die Grenze seiner Belastbarkeit: geringe Lernbereitschaft
mangelnde Sprachkompetenz, sowohl bei Schülern nicht-deutscher Herkunftssprache als auch bei deutschen Schülern
fehlendes Arbeitsmaterial
vermehrte Verspätung und erhöhte Schuldistanz
massive Störung des Unterrichtsablaufs durch immer mehr verhaltensauffällige Schüler
gesteigerte Missachtung gegenüber der Institution Schule (Zerstören von Mobiliar, Müll auf den Boden werfen, Urinieren in Aufgängen, Spucken auf Boden, Treppengeländer und Türklinken usw.)
zunehmende Respektlosigkeit, Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen und Lehrern und pädagogischem Personal
Im April 2011 wurde ein Lehrer von einem Schüler des 9. Jahrgangs mehrfach beleidigt und körperlich bedroht.
Innerhalb von sieben Monaten hat unsere Schule drei gewaltbereite, verhaltensauffällige Schüler aus anderen Schulen aufgenommen. Sie mussten Klassen zugewiesen werden, die ihrerseits als überdurchschnittlich schwierig gelten. Zwei dieser Schüler hatten an ihren vorherigen Schulen Lehrer verletzt, an unserer Schule bedrohte einer dieser Schüler eine Lehrerin und beabsichtigte außerdem, einen pädagogischen Mitarbeiter anzugreifen, was Mitschüler jedoch verhindern konnten.«
Wenn ich über diese Dinge berichte, sie aufschreibe und publiziere, dann will ich mich daran
nicht ergötzen. Aber man kann es drehen und wenden, wie man will: Schule ist in einem Brennpunktgebiet schon der Kristallisationspunkt schlechthin. Dafür ist ein trauriger Beleg, dass in einer Neuköllner Schule niemand von den Eltern zum vorgesehenen Termin erschien, um sich in die Schulkonferenz wählen zu lassen. Es war den Eltern völlig egal, was an der Schule ihrer Kinder passierte. Mitmachen, warum denn? Ein Jahr später war es nicht viel besser. Auf ein erstes Einladungsschreiben zur Besetzung von 20 Plätzen in der Elternvertretung erschienen vier Eltern. Auf eine zweite Einladung kamen sieben. Auf die Einladung zum Elternsprechtag anlässlich des Jahrgangswechsels aus der 8. in die 9. Jahrgangsstufe und zur Durchführung eines Schülerpraktikums erschienen von 40 Eltern lediglich fünf.
Positivbeispiele sind Neuköllner Schulen, die immer wieder nationale und internationale Preise gewinnen. Teilweise zum zweiten oder dritten Mal. Das sind Schulen mit sehr starken Leitungen, hinter denen sich gerne Lehrer versammeln, die ihre eigenen hohen Maßstäbe in die Praxis umsetzen wollen. Es sind die, die sagen: Ich kann es, ich weiß, dass es geht, und ich werde Erfolg haben.
Hierunter fällt auch der von einer Deutschlehrerin in einer Sekundarschule mit schwieriger Schülerschaft gegründete Literaturzirkel. Der »Eintrittspreis« in den Arbeitskreis ist der auswendig gelernte Erlkönig. Zu den Programmpunkten gehören Exkursionen auf den Spuren berühmter Dichter und Schriftsteller. Der Schülerkreis ist inzwischen auf 40 Mitglieder angewachsen, so dass schon eine Warteliste eingerichtet werden musste – ein weiteres Beispiel dafür, dass es gelingen kann, extrem destruktive junge Menschen zu erreichen. Mit Engagement, und wenn man sie ernst nimmt und es ihnen auch zeigt.
Das eben geschilderte Desinteresse der Eltern hat im Übrigen nichts damit zu tun, dass sie keine klaren Vorstellungen zum gewünschten Arbeitsergebnis der Schulen haben. Das Meinungsforschungsinstitut TNS EMNID hat eine Untersuchung vorgelegt, für die 500 Eltern befragt wurden, die ihre grundschulpflichtigen Kinder zur Nachhilfe schicken. Von den Eltern mit Migrationshintergrund wollten 54 %, dass ihre Kinder einmal das Gymnasium besuchen. Von den deutschen Eltern waren es nur 25 %. Die Einwanderereltern beklagen sich auch nicht über Druck an der Schule. Das ist eher eine deutsche Domäne. In den Nachhilfefächern belegen Deutsch und Mathematik die ersten beiden Plätze. Diese Studie bestätigte eine Befragung türkischer Einwanderer des Instituts Allensbach. Auch hier stellte man einen auffallenden Bildungsehrgeiz fest. 71 % der türkischen Eltern stimmten der Aussage zu: »Meinen Kindern soll es einmal besser gehen als uns.« In der Gruppe aller Eltern waren es nur 41 %. Wenn man also das Verhalten der Eltern im Schulalltag in Beziehung zu ihren Bildungserwartungen stellt, ist eine Diskrepanz in vielen Fällen unübersehbar.
Wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, wie wenig sich im Alltag unserer Schulen in den letzten Jahren geändert hat, dass die Unterstützungsmaßnahmen stets nur halbherzig waren, dann erhalten die am Beginn des letzten Kapitels wiedergegebenen Zitate von Klaus Kinkel und Klaus Wowereit einen bitteren Beigeschmack. Die Auflösung der Hauptschulen in Berlin war richtig und wichtig, kam aber zu spät und ohne ausreichende materielle Unterfütterung. Dazu gesellen sich Wunderlichkeiten: Ich empfinde es noch heute als einen Treppenwitz, dass im Jahre 2008 der Berliner Senat die Klassenfrequenzen in den Grundschulen der Problembezirke – nein, nicht gesenkt, sondern aufgestockt hat, nämlich von 20 auf 24 Kinder. Hintergrund war, dass die Absenkung der Frequenz in den sozial schwierigen Gebieten auf die Missgunst der Parteifunktionäre in den bürgerlichen Bezirken fiel. Das war die berühmte Berliner Solidarität. Insbesondere in der SPD, versteht sich.
JüL und VERA 3 sind Ihnen schon begegnet, aber ich denke, wir sollten diese Themen noch etwas vertiefen. Die Abschaffung der Vorklassen war meines Erachtens ein kapitaler Fehler. Gerade in den Brennpunktlagen waren die Vorklassen eine prima Einrichtung, um die Kinder aus bildungsfernen Familien ein Jahr lang zu trainieren und auf die Schule vorzubereiten. Man kann
auch sagen: um sie schulfähig zu machen. Bis heute trauern die Schulen den Vorklassen nach. Ein Vorschulkind machte in diesen zwölf Monaten einen solchen Sprung im Kompetenzerwerb, dass sich der Start in die Schullaufbahn erheblich reibungsloser vollzog als mit der modernen Nachfolgelösung. Diese heißt »jahrgangsübergreifendes Lernen«: JüL. Man kann auch Schulanfangsphase in altersgemischten Klassengruppen dazu sagen.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #34 on: November 04, 2012, 09:38:12 am »
Das Einschulungsalter wurde auf 5½ Jahre herabgesetzt. Die Kombination aus Aufgabe der Vorklasse und gleichzeitigem Absenken des Einschulungsalters bezeichnen Praktiker als bildungspolitische Katastrophe. Insbesondere Kinder, die vor der Einschulung nicht mindestens zwei Jahre in einer Kindertagesstätte waren, haben sich zu einer ausgesprochenen Herausforderung für die Lehrer entwickelt. Diese Erstklässler sind teilweise noch sehr kleinkindlich, motorisch sehr stark zurück und nicht altersgemäß entwickelt, weil sie keinerlei Bewegungserfahrung haben, nie herumtoben konnten und immer nur im Auto oder Buggy hin- und hergekarrt wurden. Das ist einfacher und geht deutlich schneller, als mit einem kleinen Kind an der Hand zu laufen. Aus dem Wagen vor den Fernseher – das führt nun einmal nicht zu einer altersgemäßen Entwicklung. Aber dieses Thema hatten wir jetzt schon mehrfach.
Zunehmend treffe ich Lehrkräfte, die der Verzweiflung nahe sind. Sie sagen: »Ich habe nie gelernt, mit ›halben Babys‹ Schule zu machen.« JüL beruht auf dem Grundsatz, dass ältere, bereits fortgeschrittene Kinder die Verantwortung für jüngere übernehmen und sie an ihren Kompetenzen teilhaben lassen. Für die Jüngeren wiederum sind die Älteren ein Vorbild, sie ahmen sie nach. Das alles funktioniert aber nur, wenn die Älteren über Kompetenzen verfügen und diese auch verantwortungsbewusst einsetzen wollen und können. Dort, wo der Kleinere und Schwächere zum willkommenen Opfer wird, oder dort, wo der Ältere eher Vulgärsprache und körperliche Bedrohung sowie die Erfahrung der Überlegenheit vermittelt, bricht das System zusammen. Das gilt analog, wenn Kleinere nicht Sozialverhalten und Wissen vom Älteren aufnehmen, sondern den Beweis antreten wollen, dass kleiner nicht schwächer heißen muss.
Dieses JüL wurde zum jahrelangen Glaubenskampf in der Berliner Lehrerschaft. 1000 Lehrer aus Brennpunktschulen unterschrieben damals eine Resolution, in der sie darum baten, JüL an ihren Schulen nicht einführen zu müssen. Es hörte niemand hin. Heute sind wir einen Schritt weiter. Inzwischen wird den Schulen freigestellt, ob sie mit JüL die Schullaufbahn starten oder mit traditionell altersgetrennten Klassen. So, wie es zu jedem Kollegium und zu den Anforderungen des Einzugsgebiets passt. Man hätte in einem Rutsch auch die Vorschulklassen gleich wieder reanimieren können. So viel Revolution hat dann leider doch nicht geklappt. Schade.
Ein ähnlicher Zankapfel ist der bundesweite Leistungstest VERA 3. Auch hier weisen die Schulen in den sozialen Brennpunkten darauf hin, dass dieser Test den Kindern nicht hilft, sondern sie eher zurückwirft. Nach Meinung der Lehrer ergibt es keinen Sinn, Kindern Aufgaben vorzulegen, die sie nicht lösen können. Die sie schon deswegen nicht lösen können, weil sie sie gar nicht verstehen. »Kann man aus Seemannsgarn einen Pullover stricken?« Die Antwort auf diese Frage niederzuschreiben ist für viele Kinder nicht möglich. Sie wissen nicht, was Seemannsgarn ist, sie wissen unter Umständen nicht, was ein Pullover ist, und das Wechseln von einer abstrakten in eine reale Ebene überfordert sie völlig.
Ich könnte noch mehr Beispiele aus VERA 3 zum Besten geben, aber ich möchte nicht, dass Sie eventuell an einer Aufgabe scheitern und traurig werden. Ich habe für meine Person entschieden, mich den Lehrern anzuschließen. Wir produzieren damit nur Kinder, die sich schämen. Oder Kinder, denen wir quasi »staatliches Schummeln« beibringen, weil die Lehrer unerlaubterweise helfen. Um festzustellen, dass die Kinder das nicht können, von dem wir wissen, dass sie es nicht können, brauchen wir den Test nicht. Trotzdem kommt es immer, wie es kommen muss. 38 % der geprüften Drittklässler erfüllen bei uns nicht einmal die Mindestanforderungen im Bereich Leseverständnis (von den Drittklässlern aus Migrantenfamilien sind es über 60 %), beim Zahlenrechnen bleiben weit mehr als 40 % unter den Mindestanforderungen. Einzig positiv ist dabei vielleicht die Kontinuität
der schlechten Ergebnisse, könnte man sarkastisch anfügen.
Das desaströse Ergebnis der Prüfung zum Mittleren Schulabschluss habe ich bereits angesprochen. In Neukölln fielen 2012 über 80 % der Realschulprüflinge in Mathematik durch. Im Jahr zuvor waren es »nur« etwas mehr als 70 %. Eine ähnliche Entwicklung ist in ganz Berlin zu beobachten: Es bestanden nur 52 % die Matheprüfung. 2011 waren es 53 %, 2010 noch 67 % und ein Jahr zuvor 69 %. Auf Deutsch: Das Leistungsniveau sackt von Jahr zu Jahr ab. Aber wie erwähnt, diskutieren wir jetzt über das Leistungsproblem mit den Schülern. Das verhilft zum Zertifikat. Das Schwadronieren ist in Berlin eine beliebte Methode, um schwierigen Situationen verbal zu begegnen.
Ein immer wieder gern genommenes Thema sind in Berlin die Schulschwänzer, korrekt bezeichnet als »schuldistanzierte Jugendliche«. Die Überschriften sind martialisch, jeder hat etwas dazu beizutragen, und verbal kann man alle Marterinstrumente mal richtig zähnefletschend zeigen. Zwar ist das wirklich ein wichtiges Thema. Aber in der Praxis bleibt es bei den Drohgebärden. Das geht so weit, dass man nach außen doppelt die Muskeln spielen lässt und im Dienstbetrieb Schulschwänzen gar nicht verfolgt.
Es ist ja auch schwierig. Aktive Schulschwänzer, die einfach keine Lust haben, zur Schule zu gehen, handeln vorsätzlich und sind durchaus gewieft darin, Eltern, Schule und Behörden hinters Licht zu führen. Eltern, die nicht am Schulbesuch ihrer Kinder interessiert sind und wichtige, andere Aufgaben in der Familie für sie haben, sind ein ganz anderes Kaliber. Einigkeit besteht sicher darüber, dass es überhaupt keinen Sinn macht, Schulschwänzer in Handschellen der Schule zuzuführen oder das SEK die Wohnung stürmen zu lassen. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel verbietet derartige Gedankenspiele. Trotzdem bleibt die Tatsache, dass fast alle verpfuschten Leben mit dem Schulschwänzen angefangen haben. Nicht jeder Schulschwänzer wird Intensivtäter, aber jeder Intensivtäter war Schulschwänzer.
Ich habe schon angesprochen, dass es Berliner Bezirke gibt, die keine Schulverweigerer kennen. Also müssen sie sich auch keine Gedanken darüber machen, wie man mit ihnen umgeht. Die Glücklichen. Um die Dimension zu verdeutlichen: Als wir noch Hauptschulen hatten, lag dort die Schwänzerquote bei etwa 25 %. Das heißt, ein Viertel der Schüler blieb im Jahr länger als drei Wochen unentschuldigt der Schule fern. Seit der Auflösung der Hauptschulen können wir mit solchen Daten nicht mehr dienen. Der Vergleichswert bei den Gymnasien lag übrigens zwischen 3 % und 4 %.
Wir hatten uns in Neukölln auf eine Linie verständigt, die Maßnahmen und Möglichkeiten anzuwenden, die uns das Gesetz gab. Also, Schulversäumnisse anzeigen, Bußgeldbescheide und – soweit möglich – auch Zuführung zur Schule durch die Polizei. Letzteres war immer heftig umstritten. Die Polizei wollte es nicht, weil es ein undankbarer Job ist, und die Gutmenschen erklärten uns, dass dadurch die jungen Leute nicht besser werden, sondern nur noch verbockter. Das haben wir nie bestritten. Der damalige Schuldezernent und ich waren nicht so weit jenseits von Gut und Böse, dass wir glaubten, durch die Zuführung mit der Polizei würde aus dem »schuldistanzierten Jugendlichen« nun ein Messdiener werden. Wir wollten ihm aber den Vorbildcharakter nehmen. Wir wollten, dass alle anderen Schüler in der Schule sehen, dass es Ärger mit der Polizei gibt, wenn man nicht zur Schule geht. Die Ansprache: »Ey, Alter, Schule ist uncool, lass uns lieber Einkaufscenter gehen, abhängen, im Media-Markt ein bisschen gamen, und vielleicht finden wir einen zum Abziehen. Kannst du ruhig machen, passiert sowieso nichts«, sollte nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Das war unser Ziel. Das funktionierte bis 2008 auch recht gut. Dann hatte sich – vermutlich dank einiger Reality-Shows – herumgesprochen, dass man nur die Tür nicht aufzumachen braucht, wenn die Polizei draußen steht, und schon ist diese ausgetrickst und abgewehrt. Das Schwert wurde stumpf. Wir sind nunmehr dazu übergegangen, die Bußgeldbescheide mit der Androhung der Erzwingungshaft zu versehen. Damit haben wir im Moment guten Erfolg. Leider ist uns damit aber die öffentliche Abschreckungswirkung verloren
gegangen.
Bei den Bußgeldverfahren wegen Schulschwänzens litten wir in Berlin jahrelang darunter, dass diese von den Verkehrsrichtern mitbearbeitet wurden. Mit welchem Elan sich Verkehrsrichter einem Bußgeldbescheid von 75 Euro wegen fünf Tagen Schulschwänzens widmeten, kann sich jeder vorstellen. Die Verfahren wurden reihenweise eingestellt. Erst als es auf deutliches Drängen der Schulen zu einer Zuständigkeitsverlagerung von den Verkehrsrichtern zu den Jugendrichtern kam, änderte sich die Spruchpraxis.
Die vor ihrem Tod für Neukölln zuständige Jugendrichterin Kirsten Heisig war beim Thema Schulschwänzen gnadenlos. Einsprüche gegen Bußgeldbescheide waren zwecklos oder führten sogar noch zum Aufsatteln der Summe. Selbst sich im Schonbereich wähnende Hartz-IV-Eltern mussten Ratenzahlung vereinbaren; zahlten sie nicht, erließ Kirsten Heisig einen Haftbefehl. Die Geldscheine waren dann noch warm vom Drucken, so rasch gingen sie in der Gerichtskasse ein. Diese Praxis sprach sich schnell herum, genauso wie die Erfahrung, dass Kirsten Heisig durch Nachfragen in der Schule überprüfte, ob die von ihr erlassene Schulweisung befolgt wurde. Wer da schlampte, fing sich einen wunderbaren Nachschlag ein. Solche Dinge zeigten Wirkung. Nicht übermäßige, aber die Verhältnisse verschlimmerten sich auch nicht. Zartbesaitete können entspannen. Es musste nie ein Haftbefehl vollstreckt werden: Wir machten die gleichen Erfahrungen wie die Niederlande.
Ebenfalls der Abschreckung diente der Wachschutz. Die Zahl der Gewaltvorfälle an unseren Schulen, die von außen – also von Schulfremden – in die Einrichtungen hineingetragen wurden, hatte im Jahre 2007 eine beängstigende Höhe erreicht. In jedem Schulmonat kam es zu zwei zum Teil wirklich brachialen Gewalttaten in unseren Schulen. Lehrerinnen und Lehrer, Rektoren, Schülerinnen und Schüler wurden zusammengeschlagen oder gequält.
Eines Tages hatten sich vier arabischstämmige 16-jährige Gymnasiasten bei mir angemeldet. Im Gespräch fragten sie mich, was ich als Bürgermeister dagegen tue, dass Fremde auf ihr Schulgrundstück kämen und sie verprügelten? Ich saß ziemlich bedeppert da. Mangels einer wirklichen Antwort machte ich den vier jungen Leuten gegenüber lichtvolle Ausführungen, wie schwierig diese Frage sei, dass es sich oft um Beziehungstaten handle und dass man ja nicht in jeder großen Pause einen Polizeibeamten auf den Hof stellen könne. Ob sie mir mein Gerede abnahmen, es für glaubwürdig hielten oder nicht, haben sie nie verraten.
Die von den jungen Schülern hinterlassene Frage ließ mich aber nicht los. So kamen ein wenig später der Schuldezernent und ich zu dem Ergebnis, dass wir unsere Schulen schützen müssen. Da die Polizei es mit ihrem Personalbestand nicht kann und wir kein eigenes Personal dafür zur Verfügung hatten, blieb nur die Beauftragung eines externen Wachschutzunternehmens. Das schlug in Berlin ein wie eine Bombe. Schwarze Sheriffs an staatlichen Schulen! Die linke SPD in Berlin stand Kopf. Der damalige Innensenator beschimpfte mich ob des Einsatzes von »paramilitärischen Einheiten« an Schulen. Damit würden wir das Gewaltmonopol des Staates untergraben. Das verstanden wir gar nicht. Hatte uns die Polizeiführung doch belehrt, dass der Schutz des Grundstücks Angelegenheit des Eigentümers sei. Auch das großherzige Angebot, wir sollten doch Kooperationsvereinbarungen mit der Polizei schließen, lief ins Leere. Erstens helfen Kooperationsvereinbarungen nicht gegen einen akuten Angriff, und zweitens gab es die längst. Mit 55 Vereinbarungen standen wir sogar an der Spitze der Berliner Bezirke.
Senatsjuristen prüften alle möglichen Gesetze, ob man Neukölln das nicht verbieten könne. Der Schuldezernent wurde mehrfach in die Gremien des Parlaments einbestellt, um den ketzerischen Plänen abzuschwören. Er hielt es aber mit Martin Luther: »Hier stehe ich und kann nicht anders.«
Wir schrieben damals also den Auftrag aus. Die Firma Dussmann gewann die Ausschreibung. Sie unterschrieb auch den Vertrag. Eine Woche vor Dienstbeginn trat sie überraschend von ihm zurück. Verhandlungen seien zwecklos, das sei eine Anweisung von oben, hieß es.
Wir fanden eine zweite Firma. Diese sagte plötzlich ab, weil sie Schaden von sich und ihren Mitarbeitern abwenden müsse. Sie war stark in die Bewachung der Polizeieinrichtungen in Hessen involviert. Der Verband der Wachschutzunternehmen gab seinen Mitgliedern die Empfehlung, sich nicht um den Auftrag in Neukölln zu bewerben. Es wurde damals an allen Strippen gezogen, um das Projekt zu torpedieren.
Aber wir fanden doch ein Unternehmen, und unter großer Beteiligung der Medienwelt nahm der Wachschutz an Neuköllner Schulen seinen Dienst auf. Nun begann man, die Mitarbeiter zu bespitzeln. Wühlte in ihrer Vergangenheit herum, hinterfragte ihre Ausbildung und suchte nach Schmutz. Es gelang jedoch nicht, die Aktion zu diskreditieren. Das war in meinem gesamten politischen Leben in Berlin der unappetitlichste und bis an den Rand des Strafgesetzbuches reichende Vorgang, den ich miterlebt habe. Durchgehalten haben wir damals nur, weil es auch uns wohlgesonnene »Maulwürfe« in anderen Ebenen gab.
Eine kleine Ergänzung aus der Sparte Unterhaltung gibt es noch dazu. Die Anzahl der Übergriffe in den Berliner Schulen – unter den Schülern oder von außen hereingetragen – war damals recht hoch. Insbesondere die Vorfälle, in denen die Lehrer zur Zielscheibe wurden. Was tat man, um das Thema zu entschärfen? Ganz einfach: Die Meldepflicht wurde so geändert, dass bestimmte Vorfälle nicht mehr unter sie fielen und so nicht mehr in der Statistik auftauchten. Und schon sah die Welt viel friedlicher aus.
Zum Jahresende 2011 mussten wir den Vertrag mit den Wachschützern kündigen. Wir hatten in Folge der Wahlen und des Regierungswechsels keinen beschlossenen Haushalt und somit kein Geld mehr, um einen neuen Vertrag abzuschließen. Es handelt sich um rund 750 000 Euro. Im Jahre 2011 hatten inzwischen 16 Schulen Wachschutz, wobei dieser immer nur auf Antrag der Schule zum Einsatz kam. Er wurde niemandem übergestülpt. Schon am zweiten Schultag ohne Wachschutz kam es in einem Gymnasium zu einem schweren Vorfall mit Drogensüchtigen. Kurze Zeit später folgte ein weiterer Übergriff: Der einzige deutsche Schüler einer Schule hatte außerhalb der Schule Ärger mit einigen arabischstämmigen Jugendlichen einer anderen Schule, und am Tag darauf kam eine Horde von mehreren Dutzend Jugendlichen in die Schule, stürmte in das Klassenzimmer, räumte die Lehrerin beiseite, zertrümmerte das Mobiliar und schlug den Schüler zusammen. Ein Polizist sagte später, er sei der klassische Opfertyp. Auf Nachfrage der Medien wurde der Vorfall als Folge einer Schneeballschlacht bagatellisiert, und einige Monate später konnte sich niemand mehr so recht an die Sache erinnern. Insgesamt hat sich die Zahl der Fälle von Störungen durch schulfremde Personen, Vandalismus, Beleidigungen und Tätlichkeiten an Neuköllner Schulen seit dem Ende des Wachschutzes nach Aussage der Schulen wieder deutlich erhöht. Deshalb wird es im neuen Schuljahr ab 2013 in Neukölln auch wieder Wachschutz geben.
Glücklich ist jede Stadt, die keinen Wachschutz wegen solcher Verhältnisse benötigt. Wir haben ihn gebraucht. In den vier Jahren des Wachschutzes gab es nicht einen einzigen Gewaltvorfall in einer Neuköllner Schule, der durch Außenstehende ausgelöst oder verursacht worden wäre. Darüber hinaus können die Wachschützer 400 Fälle belegen, bei denen sie durch ihre Anwesenheit und ihren Einsatz Eskalationen und Gewaltvorfälle verhindert haben. Wenn es Maßnahmen in den letzten Jahren in Neukölln gegeben hat, die nachweislich ihren Zweck erfüllt haben, dann gehört der Wachschutz definitiv dazu.
Wo genau wir heute mit unseren Schulen stehen, lässt sich pauschal nicht beantworten. Ich kenne auch nicht jede Schule von innen. Aber ich kenne eine erkleckliche Anzahl mehr, als in diesem Abschnitt zu Wort gekommen sind. Der Fokus lag auf den Bereichen, in denen wir unser Pflichtenheft noch nicht abgearbeitet haben. Dort, wo wir nach wie vor blind sind. Natürlich gibt es Schulen in Neukölln mit einem hervorragenden Profil, musisch, sprachlich, sportlich, naturwissenschaftlich. Es gibt Schulen, die besuche ich zur Erbauung, um die negativen Erfahrungen nicht zur Norm werden zu lassen, um mich selbst wieder aufzurichten und zum Weitermachen zu motivieren. Ich kenne auch viele Elternvertreter, die einen tollen Job machen.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #35 on: November 04, 2012, 09:39:16 am »
Das
alles gibt es. Ich sagte ja bereits, wir haben immerhin 66 öffentliche Schulen.
Natürlich kenne ich auch nicht jeden unserer 3500 Lehrerinnen und Lehrer und nicht jedes Kollegium. Aber ich nehme wahr, dass die Stimmung nicht gut ist. Es hat sich irgendwie ein Duckmäusertum breitgemacht. Die Macht der Political Correctness, öffentliches Mobbing und Resignation haben bei vielen wohl ihren Tribut gefordert. Starke Schulleiterinnen und Schulleiter sind in Pension gegangen. Einige haben sich versetzen lassen. Anderen wurde der Schneid abgekauft. Ich vermisse inzwischen eine ganze Reihe von mutigen Gesprächspartnern. Zum Beispiel den Rektor, der die Äußerungen seiner Schüler nach dem Mord an Hatun Sürücü – Sie ist zu Recht gestorben, sie hat gelebt wie eine Deutsche – öffentlich machte und dafür »Prügel« bezog. Ich verneige mich vor denjenigen, die Tag für Tag die Werte unserer Gesellschaft verteidigen und sich nicht kleinkriegen lassen. Egal, wie stark die Hierarchie ihre Krallen unter der Decke zeigt. Ich hatte bereits angedeutet, dass mir Journalisten zunehmend sehr deutliche Hinweise geben, dass sich Aktive aus dem Berliner Schuldienst nicht mehr trauen, ihr Gesicht zu zeigen, ihren Namen zu nennen oder sich überhaupt öffentlich zu äußern.
Die Gesamtsituation hat sich in der Sache nicht viel verändert. Wir haben etliche Schulen ohne Leitung – zum Teil seit Jahren. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die ausgebrannt sind, und Schulen, bei denen mir eigentlich die Kinder leid tun, weil sie dort hingehen müssen. Wir haben nach wie vor zwangsversetzte Lehrer, die mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Neukölln überhaupt nicht klarkommen. Die auch unsere Einwandererkinder nicht mögen. Die sie hänseln und beschimpfen. Ja, es ist wahr, dass es Diskriminierung an unseren Schulen gibt. Auch in Neukölln. Ich schäme mich dafür. Aber wo Menschen sind, sind auch Unzulänglichkeiten, Schwächen und Entgleisungen.
Manchmal ist es zum Verzweifeln. Ich stehe eines Abends bei meinem Lieblings-Chinesen, die Inhaberin kennen Sie ja schon. Ein junger Mann spricht mich an, der mich offenkundig erkannt hat. Es stellt sich heraus, er ist 20 Jahre alt, türkischstämmig und hat zwei Jahre zuvor in Neukölln sein Abitur abgelegt. Er engagiert sich ehrenamtlich in einem Projekt, das sich in einer bekannt schwierigen Schule Schülern widmet, um als gutes Beispiel wegweisend zu wirken und Jugendlichen mit Migrationshintergrund politische Bildung nahezubringen. »Vor einem halben Jahr habe ich eine 7. Klasse zur Betreuung übernommen. Die Kinder kamen alle frisch von der Grundschule. Nach dem Neuköllner Weltbild waren sie völlig normal. Ich konnte gut mit ihnen arbeiten. Heute, ein dreiviertel Jahr später, sind fast alle völlig kaputt. Ich kann mit ihnen kaum noch etwas anfangen.« Ob er eine Erklärung für den Wandel habe, frage ich ihn. »Ja«, sagt er, »Alkohol und Drogen. Kiffen tun alle.« – »Und die Lehrer, was machen die?«, entgegne ich. »Gar nichts, die sind auch kaputt und kommen an die Kids noch weniger ran als ich«, war seine resignative Bemerkung.
Der junge Mann war sehr betroffen. Ich merkte, wie sehr die Situation ihm zusetzte. Zum einen, weil er sich die Frage stellte, ob nicht er versagt hätte, und zum anderen, weil ihm klar wurde: Sein Lebensweg und der seiner Schützlinge werden wohl nicht in die gleiche Richtung gehen. Nach einem solchen Erlebnis ist man bedient für den Abend. Nicht einmal Ente kross konnte mich da noch richtig erfreuen. Ich kenne die Schule, von der er mir erzählte. Sie bräuchte dringend unsere Hilfe. Auf 100 freie Schulplätze kamen dort zum letzten Schuljahreswechsel ganze 20 Anmeldungen.
Für die inneren Angelegenheiten einer Schule sind bei uns in Berlin nicht die Bezirke zuständig. Eigentlich haben wir in den Schulen gar nichts zu sagen. Wir dürfen nur die Toilettentüren reparieren oder in Brand gesteckte Teile wieder aufbauen lassen. Dass von den vollmundigen Versprechungen, die ich eingangs zitiert habe, irgendetwas in der Praxis umgesetzt worden wäre, habe ich noch nie erlebt. Im Gegenteil. Wir bleiben wohl die Abschiebestation für die, die man woanders nicht haben will. Aber man wird sie brauchen, diese unsere Kinder, wenn sie die Renten und Pensionen des Bürgertums sichern sollen.
Das wird aber nicht so gehen wie in amerikanischen Kinofilmen, in denen ein »Hero« in der von »Outlaws« beherrschten Schule erscheint und in 90 Minuten alle Probleme löst. Bei uns dauert das ein bisschen länger. Ich glaube, dass es ein guter Schritt war, in Berlin das viergliedrige Schulsystem abzuschaffen. Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule. Heute haben wir nur noch zwei Schulformen, die Sekundarschule und das Gymnasium. An beiden Schultypen kann man das Abitur ablegen. Auch Spätstarter bekommen also eine Chance. Am Gymnasium geht es ein bisschen schneller, an der Sekundarschule hat man ein Jahr mehr Zeit. Es gibt keine »Ausländerresteschulen« mehr. Und auch keine Endstationen. Wir wissen, dass pädagogische Reformen ihre Ergebnisse nach etwa zehn Jahren zeigen. Auf das Hopp oder Topp müssen wir also warten.
Den Zeitraum des Wartens können wir aber nicht tatenlos verstreichen lassen. Unsere Schulen brauchen jetzt Hilfe und Unterstützung. Was ganz bestimmt nicht hilfreich ist, ist die Form von Bürokratie pur, wie sie uns immer wieder begegnet.
Ein junger, mit sechs Jahren aus der Ukraine eingewanderter Mann besteht sein Abitur mit der Traumnote 1. Er studiert Biochemie und erhält aufgrund seiner außerordentlichen Studienleistungen vom Fakultätsrat der Uni die Sondergenehmigung, den Masterabschluss zu überspringen und gleich in die Promotionsphase einzutreten. Unmittelbar vor Abschluss seiner Doktorarbeit stehend, arbeitet er als Vertretungslehrer an einer Neuköllner Schule. Die Schule bietet ihm eine Stelle an, die er auch gerne annehmen würde. Doch beide haben die Rechnung ohne den Wirt in Gestalt der Schulbehörde gemacht. Seine höherwertige Qualifikation wird nicht anerkannt, hingegen auf den Masterabschluss gepocht. »Ich verstehe nicht«, so der junge Mann, »wie es sein kann, dass bei dem herrschenden Lehrermangel in den naturwissenschaftlichen Fächern solch unflexible und irrationale Entscheidungen getroffen werden.«
Ich kann das auch überhaupt nicht nachvollziehen. Junge motivierte Nachwuchslehrer, die den höchstmöglichen Abschluss in Deutschland haben und motiviert sind, an einer Problemschule zu arbeiten, wo es keinen Lehrer lange hält, werden mit sinnlosen formalen Bestimmungen vor den Kopf gestoßen.
Das ist vor allem kein Einzelfall. In einer Neuköllner Oberschule ist eine ungarischstämmige Lehrerin mit einem Zeitvertrag tätig. Als Klassenlehrerin in der Brennpunktklasse macht sie einen tollen Job. Deswegen möchte die Schule sie fest anstellen. Der Schulrat ist einverstanden und der Personalrat auch. Doch die hohe Landesschulverwaltung will nicht. Sie hat in Ungarn studiert und einen Abschluss mit zwei Wahlfächern erreicht. In Deutsch und in ungarischer Literatur. Letzteres interessiert hier keinen. Also braucht sie ein neues zweites Wahlfach. Das will sie auch gerne nachholen. Leider geht das nur mit einer Festanstellung. Eine Festanstellung erhält sie aber nur, wenn sie ein zweites Wahlfach hat. Alles klar?
Die beiden vorstehenden Fälle zeigen deutlich, wo wir trotz allen Geredes wirklich stehen und weshalb wir an manchen Stellen nicht weiterkommen. Schade. Wie gut hat es da der Rektor in London.
Dabei wird es Zeit für uns. In Deutschland erlangen etwa 40 % der Schüler die Berechtigung zum Hochschulstudium. Mexiko und die Schweiz schaffen noch weniger, aber ansonsten schneidet kein OECD-Staat schlechter ab. An der Spitze stehen Irland, Israel, Finnland, Polen, Schweden, die alle 80 % bis 90 % auf die Waage bringen. Nun muss man davor nicht in Ehrfurcht erstarren. In anderen Ländern sind Berufe an eine Hochschulausbildung gebunden, die bei uns einen anderen Bildungsweg haben. Beispiele hierfür sind die Meisterausbildung, die man in anderen Ländern so gar nicht kennt, oder das Berufsbild der Erzieher, das in anderen Ländern den Lehrern gleichgestellt ist und eine Hochschulausbildung erfordert. Eine Grundbedingung aber bleibt bestehen. Ob Hochschulausbildung oder nicht, Lesen, Schreiben und Rechnen muss jeder beherrschen. Egal, ob er aus Neukölln kommt, aus Badenweiler oder von der Elbchaussee.
Ich möchte dieses Kapitel mit einer kleinen Geschichte beenden, die so irre ist, dass man sie
gar nicht glauben mag. Sie stimmt aber, ich war dabei.
Zur Schlusskonferenz des »Forums demographischer Wandel« war ich beim Bundespräsidenten im Schloss Bellevue eingeladen. Zum Einstieg gab es ein Panel – man kann auch Gesprächsrunde sagen – mit vielen dekorierten und renommierten Wissenschaftlern. Plötzlich erklärte ein Teilnehmer, dass er auf dem Weg zur Veranstaltung eine wunderbare Geschichte in der Zeitung gelesen habe: Eltern aus einem Berliner Nobelviertel hätten sich zu einer Initiative zusammengeschlossen und Bildungspatenschaften für Neuköllner Schüler übernommen. Diese Patenschaften wollten sie beleben, indem sie die Kinder aus Neukölln mit dem Auto von zu Hause abholen und sie dann nach Zehlendorf in die Schule fahren. Die Initiative hatte 20 Köpfe, alle gut betucht, und gab sich den Namen »Lift-Power – Zehlendorf hilft«. Der Fahrdienst sollte die Kinder jeden Morgen holen, damit es nicht zu Schulversäumnissen kommt. Nach der Schule würden die Neuköllner Kinder noch für eine Stunde nach Hause geholt. Es würde Snacks geben, und die Schüler würden sich gegenseitig Harry Potter vorlesen. Danach würden die Neuköllner wieder nach Hause gebracht. Es gab in dem ganzseitigen Pressebericht noch viele weitere Schmankerl, die würden an dieser Stelle aber zu weit führen.
Das gesamte Auditorium hochgeistiger Menschen war beeindruckt. Alle schauten sich an, nickten sich zu, der Bundespräsident war gerührt, und viele drehten sich zu mir um, wohl mit dem Gedanken: Siehste, Buschkowsky, wird doch! Nicht immer alles mies machen. In der anschließenden Kaffeepause wurde ich von mehreren Teilnehmern gefragt, wie ich zu dem Projekt stehe. Leider war ich auf dem falschen Fuß erwischt worden und peinlich berührt. Ich kannte die Aktion überhaupt nicht. Hastig fragte ich per Handy im Rathaus und im Schulamt nach. Doch keiner wusste etwas. So konnte ich mich nur in Belanglosigkeiten des Smalltalks retten, um das Gesicht zu wahren.
Am nächsten Tag kam die Auflösung: Die Veranstaltung hatte am 2. April stattgefunden, und der Artikel war am Tag zuvor erschienen. Es war nichts weiter als der Aprilscherz einer Zeitung. Aber die Geschichte war so schön, und die Spitze der Republik wollte sie halt glauben.
Das System Neukölln
Es ist gar nicht so lange her, dass die Integrationspolitik sich zur zentralen Herausforderung unseres kommunalen Wirkens entwickelt und Eingang in unsere Neuköllner Strategien gefunden hat. Noch 1989 war im bezirklichen Wahlprogramm der SPD kein Abschnitt zur Integration zu finden. In den politischen Kernforderungen war das Thema nicht enthalten. Auf 32 Seiten findet sich nur ein einziger Satz: »Die hohe Bevölkerungsfluktuation und die Konzentration der Mitbürger ausländischer Nationalität führen im Innenstadtbereich zu problematischen Strukturverschiebungen im Bezirk.«
Nach der alles überlagernden Euphorie des Mauerfalls waren Mitte der 1990er Jahre die Veränderungen des öffentlichen Raums und die beginnenden sozialen Verschiebungen nicht mehr zu übersehen. Folgerichtig findet sich dann auch seit der Wahl 1995 in jedem Programm ein Abschnitt zur Integration, zu Sprache oder Bildung.
Von 1995 bis 1999 war ich Jugenddezernent. In diesem Job erlebt man Veränderungen in der jungen Bevölkerung in voller Breitseite. Das ging mir nicht anders. Immer wieder forderten Jugendliche lautstark die Einrichtung eines eigenen Jugendclubs. Auf den Hinweis, dass es doch schon einen Club ganz in der Nähe gebe, hieß es dann: »Mit denen da wollen wir nichts zu tun haben.« Ich musste sehr schnell einsehen, dass Jugendlicher nicht gleich Jugendlicher ist. Sondern dass eben arabische Jugendliche Einrichtungen meiden, die von türkischen dominiert werden, und umgekehrt. Besitzansprüche erhielten eine völlig neue Dimension. Jugendliche, die z. B. westlich der Hermannstraße wohnten, wurden im Club, der von Jugendlichen östlich der Hermannstraße beherrscht wurde, weggebissen. Ich lernte zu dieser Zeit, was es heißt, wenn junge Menschen zu Gewalt und zum Egoismus erzogen werden. Entscheidend war, wer der Stärkste in der Gruppe und welche Gruppe die stärkste in der Gegend war. Schon vor meiner Zeit, Anfang der 90er Jahre, musste der Bezirk mehrfach Jugendeinrichtungen aufgrund der Gewaltproblematik schließen. Der damalige Jugenddezernent war ein Grüner.
Wir begannen damals, Stück für Stück ein System von kleineren Stadtteilläden aufzubauen, um den einzelnen regionalen und ethnischen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Im Rückblick glaube ich, das waren die ersten praktischen Reaktionen unserer Bezirksverwaltung, sich auf die veränderten Bevölkerungsstrukturen einzustellen.
Etwa in demselben Zeitraum begannen auch unsere Schulen darüber zu klagen, dass vermehrt Kinder zur Einschulung kämen, deren Sprachstand eine Beschulung eigentlich nicht zulasse. Sie waren nicht schulfähig. Sie zu Hause zu lassen, war aber auch keine Lösung. So fingen wir an, mit der Sprachausbildung in Kindertagesstätten zu experimentieren. Darüber aber mehr im nächsten Kapitel.
Während bei uns in Neukölln die Problemdichte allmählich, aber stetig zunahm, reagierte man in anderen Bezirken oder in der Landespolitik zunehmend genervt auf dieses Thema. »Nicht schon wieder die Neukölln-Nummer«, bekam ich immer wieder zu hören, wenn ich überregional auf die sich abzeichnende Entwicklung hinwies. Einen Hoffnungsschimmer gab es 1998, als der damalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen mit riesigem Medienrummel durch die Bezirke zog, um sich über Integrationsprobleme sachkundig zu machen. Er forderte uns auf, alle Dinge, die wir für wichtig hielten, aufzuschreiben und ihm zu schicken. Er werde dann für Abhilfe sorgen. Der Neuköllner Brief muss auf dem Postweg verlorengegangen sein.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #36 on: November 04, 2012, 09:40:08 am »
Es war wohl die Summe der herben Enttäuschungen, die die SPD Neukölln nach der Rathausübernahme 2001 dazu veranlasste, die Grundausrichtung ihrer Politik völlig zu verändern. Auf eine Kurzformel gebracht, lautete damals unser Credo: Nicht jammern, sondern die eigenen Kräfte mobilisieren und nutzen und die anderen krähen lassen, was sie und wie lange sie wollen. Im Prinzip haben wir das bis heute durchgehalten. Das hat sicherlich die Zahl unserer Freunde in der eigenen Partei übersichtlich gehalten, die Zuneigung unter den führenden Genossen bis an die
Nachweisgrenze reduziert, aber unsere Wahlergebnisse kontinuierlich gesteigert.
Im Jahre 2001 war also nach 17 Jahren christdemokratischer Bürgermeister, davon elf Jahre mit absoluter Mehrheit, eine politische Wachablösung erfolgt. SPD, Grüne und Linke schlossen sich zusammen, um eine neue Integrationspolitik zu kreieren, die auch einen Paradigmenwechsel weg von der bisherigen Leitlinie »Wir haben alles im Griff, alles wird gut« bedeuten sollte. Dieser Zusammenschluss, dem viele im politischen Berlin eine Halbwertszeit von maximal sechs Monaten zugetraut hatten, hielt immerhin acht Jahre. Alle für den Bezirk wesentlichen Weichenstellungen sind in dieser Zeit erfolgt. Auch wenn die Partner von einst heute in nur sehr eingeschränktem Maße noch Sympathien füreinander empfinden, so wird man in einer retrospektiven Betrachtung diese Epoche einmal als ausgesprochen fruchtbar für Neukölln beurteilen. Im Geschichtsspeicher zählt das Ergebnis. Für lächerliche Animositäten und kleinkarierte Kindereien ist da kein Platz. Wir konnten zwar die fast naturgesetzlichen Entwicklungen nicht anhalten und auch nicht rückgängig machen, weil eine Bezirksverwaltung nicht über die großen Stellschrauben verfügt. Aber wir haben viele Impulse gesetzt und mit innovativen Projekten bewiesen, dass man Integration machen kann und nicht passiv auf sie warten muss. Ich denke, Neukölln würde heute anders aussehen, wenn nur ein Bruchteil der Sonntagsreden und vollmundigen Versprechungen durch Land und Bund in die Tat umgesetzt worden wären. Es ist eben keine nachhaltige Politik, sich, wenn alle Medien da sind, in einem Konvoi aus schwarzen Dienstwagen vor die Rütli-Schule vorfahren zu lassen, eine Stunde ein wichtiges Gesicht zu machen und dann auf Nimmerwiedersehen abzurauschen.
Wir fingen ganz klein an und setzten erst einmal einen Migrationsbeauftragten und einen Migrationsbeirat ein. In einem Bezirk mit 120 000 Einwanderern gab es beides bis dahin nicht.
Das Ziel unserer Politik war nicht der nächste Workshop, nicht die nächste Resolution und nicht die nächste Seminarübung. Unsere Arbeit sollte (und soll immer noch) nachprüfbare, praktische Ergebnisse haben. So entstand unser Kollege UDO: unmittelbar, direkt, operativ – das war und das ist unser Handlungsansatz. Im Laufe der Jahre entwickelten sich daraus Grundsätze und ein ganzes Konzept. Mit unserer Berufung in den Kreis der Intercultural Cities erhielten wir dafür sogar internationale Weihen. Aus dem Konzept nach außen entstand zwangsläufig ein Leitbild zur interkulturellen Öffnung der Verwaltung des Bezirksamtes Neukölln.***
An dieser Stelle möchte ich lediglich die Präambel unserer Integrationspolitik und die zehn Grundsätze wiedergeben:
»PräambelIntegrationspolitik vollzieht sich weder von allein noch ist sie die Angelegenheit Einzelner. Sie ist vielmehr ein hochkomplexer wie hochsensibler Vorgang, der eine offene und aufnahmebereite, aber auch konfliktfähige Gesellschaft erfordert.Die Hinzukommenden hingegen müssen Integrationswilligkeit, Lernfähigkeit und Anpassungsbereitschaft mitbringen. Für die individuell beteiligten Personen können die einzelnen Schritte bis zur erfolgreichen Bewältigung dieses Prozesses, also bis zum Abschluss einer erfolgreichen Integrationskarriere, als anstrengend, widersprüchlich und voller Zweifel empfunden werden, einschließlich einer Identitätsreflexion. Die Aufnahmegesellschaft läuft gleichzeitig immer Gefahr, aus Gleichgültigkeit, Ignoranz und Überfremdungsängsten die notwendigen Anstrengungen zu unterschätzen oder auch zu unterlassen, die Migranten zu über- oder unterfordern bis zu falsch verstandener Liberalität, die Integrationsnotwendigkeit in die Beliebigkeit zu stellen. Die Folgen gescheiterter Integrationspolitik sind immer gefährdete bzw. verlorene Wohnquartiere einerseits und misslungene Lebensentwürfe und Lebensverläufe andererseits. Schuldzuweisungen erfolgen stets wechselseitig in Form der beklagten Opferrolle wie der postulierten Integrationsverweigerung.In Neukölln versuchen wir, diesen Zyklus zu durchbrechen. Dieses ehrgeizige Vorhaben kann weder in Neukölln noch gesamtgesellschaftlich durch singuläre Aktionen oder Einzelkämpfer zum Erfolg geführt werden. Nur ein Netzwerk mit umfassenden Kompetenzen, vielfältigen Ansätzen und Möglichkeiten, gebündelten Ressourcen auf und aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen ist in der Lage, die multiplen Herausforderungen zu meistern. In Neukölln besteht dieses Netzwerk aus so gut wie allen
Akteuren des Sozialraums. Öffentliche wie freie Träger, Bezirks-, Landes- und Bundesinstitutionen, Verbände und Vereine, politische Initiativen wie bürgerschaftliches Engagement, deutschstämmige Bürger wie Neuköllner mit Migrationshintergrund arbeiten gemeinsam am Laboratorium Neukölln, einem Schmelztiegel und Dienstleister der Integration für die Gesamtstadt.Zehn Grundsätze: Alle Menschen in Neukölln leben nach den Werten und Regeln der freiheitlichen, demokratischen Grundordnung. Es gilt der Grundsatz der sozialräumlichen Mischung.
Wir nehmen Zuwanderer als gleichberechtigte und gleichverantwortliche Partner ernst.
Jeder erhält die Chance auf einen eigenen Lebensentwurf und ein selbstbestimmtes Leben.
Ein tolerantes Neukölln akzeptiert jeden und hat klare Regeln. Wer gegen diese Regeln verstößt, muss mit der Intervention der Gemeinschaft rechnen.
Leistungsbereitschaft und die eigenen Fähigkeiten wie Kompetenzen sind der Motor für den gesellschaftlichen Aufstieg.
Bildung ist der Schlüssel zur Integration.
Integrationspolitik kann nie durch Projektpolitik gelingen.
Regelsysteme müssen sich dem Bevölkerungswandel anpassen.
Unsere Integrationspolitik orientiert sich an den konkreten Lebenslagen und Problemen der Menschen.
Wir definieren und lösen Probleme gemeinsam.«
Es ist sicher nur eine Petitesse, aber sie ist symptomatisch: An welcher Stelle der zehn Grundsätze, glauben Sie, haben sich leidenschaftliche Diskussionen entfacht? Richtig, Grundsatz vier, zweiter Satz. Es ist bei uns eben gesellschaftspolitisch immer noch so, dass allein schon die Erwähnung von Sanktionen gegen die Verletzungen von Gemeinschaftsregeln als anstößig und totalitär empfunden wird. Dahinter steckt diese Lebensphilosophie: Regeln sind für die gut, die sich daran halten. Aber sie sind ein unverbindlicher Vorschlag. Wenn jemand sich nicht daran halten will – auch gut. Dass die Regelverweigerung so gut wie immer zu Lasten der Allgemeinheit geht, ist halt der Preis, den die Gemeinschaft für die Individualität Einzelner zu tragen bereit sein muss. Das ist eine Logik, die mir fremd ist, aber eine nette Reinwaschargumentation von gesellschaftlichen Parasiten.
Den Startschuss gaben damals die Sprachkurse der Volkshochschule Neukölln. Auslöser war, dass mehr Bewerber eine Ablehnung zum Sprachkurs erhalten mussten, als wir Zusagen erteilen konnten. Das passte aus unserer Sicht nicht so sehr zur Aufforderung, alle Einwanderer sollen Deutsch lernen. Wir bauten unsere Volkshochschule um drei weitere Sprachzentren aus, und so ist das kleine Neukölln heute einer der größten Einzelanbieter auf dem Sektor »Deutsch als Zweitsprache«. Im Jahr 2011 haben in 580 Sprachkursen 6800 Teilnehmer aus 110 Nationen 62 000 Unterrichtsstunden erhalten.
Ein weiterer Schritt hin zu einer Willkommenskultur gelang mit der Umgestaltung unserer Einbürgerungen. War das Überreichen der Einbürgerungsurkunde früher ein bürokratischer Vorgang in einem schmucklosen Büro, so ist es heute Teil einer zweimal monatlich stattfindenden feierlichen Zeremonie. Der Vorsteher der Bürgervertretung, der Bürgermeister oder ein Dezernent begrüßen die Einzubürgernden, führen mit jedem einen kleinen Smalltalk und stehen für ein Erinnerungsfoto zur Verfügung. Alles wird umrahmt mit Musik, und zum Abschluss singen alle mehr schlecht als recht die deutsche Nationalhymne. Letzteres ist kein nationalistischer Fahnenappell. Den Neubürgern soll lediglich die Gelegenheit gegeben werden, einmal bewusst zur Kenntnis zu nehmen, wie sich die Nationalhymne anhört, die nun auch die ihrige ist.
Ich habe im Laufe der letzten Jahre ungefähr 6500 Menschen eingebürgert. Die Auswirkungen sind auf der Straße spürbar. Oft winken mir Menschen zu oder sprechen mich an. Sie kennen eben ihren Bürgermeister von der Einbürgerung. Übrigens: Nicht wenige Neu-Neuköllner haben Spaß an der Feierstunde. Viele bringen Angehörige und Blumen mit, haben ihren feinsten Anzug an und sind sichtlich gerührt. Manche kommen auch mehrfach, nur so zum Zuschauen. Die
paar, die mir die Hand nicht geben oder vor der Nationalhymne rausrennen, verkrafte ich da leicht. Selbst meine Streetfighter benehmen sich. Na also, geht doch.
Seit 2004 haben wir im Rathaus die Aktion »Bürger helfen Bürgern«. Türkische und arabische Vereine bieten wochentags Beratung in ihrer jeweiligen Muttersprache an. Es werden Briefe erklärt, Anträge ausgefüllt oder auch Hilfestellungen beim direkten Behördenkontakt geleistet. Gut 2500 Beratungsgespräche im Jahr finden so statt. Bis jetzt etwa 20 000. Ein schöner Erfolg. Die Selbsthilfe-Aktion entstand aus der Forderung des Türkisch-Deutschen Zentrums und des Vereins AKI (Arabisches Kulturinstitut) nach mehr Orientierungshilfe für die Einwanderer im Behördenverkehr. Ich bot damals an, Räume, Telefon und Computer kostenlos zur Verfügung zu stellen. Nicht jammern, sondern eben tun, riet ich. Der Hinweis wurde aufgenommen. Der Start war schwierig. Und für einige politische Mandatsträger war das Überlassen eines Rathaus-Raumes schon die Vollendung der Landnahme. Es gab Testanrufe, Kontrollbesuche und Ausspähungen. Eigentlich war das auch fast wieder unterhaltend.
Entsprechend unserem Leitbild zur interkulturellen Öffnung haben wir seit 2006 auch ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass vorhandene Ausbildungsplätze mit jungen Leuten aus Migrantenfamilien besetzt werden. In Zahlen bedeutet das, dass wir seither von 183 Auszubildenden für den Beruf des Verwaltungsfachangestellten 72 junge Leute mit Migrationshintergrund ausgebildet haben bzw. noch ausbilden. Das sind knapp 40 %. Bei diesen jungen Leuten gibt es zwei Auffälligkeiten. Männer sind eindeutig unterpräsentiert. Ein Beruf im Büro entspricht nicht dem, was aus ihrer Sicht die Aufgabe eines Mannes ist. Als ich einmal einen jungen Mann fragte, ob er nicht Lust habe, sich im Rathaus zu bewerben, lautete seine Antwort: »Glaubst du, ich bin schwul, oder was?« Die verquere Erziehung mit dem Männlichkeitswahn früherer Zeiten begegnet einem immer wieder.
Der zweite Aspekt ist, dass wir bei der Ausbildung lernen mussten, wie extrem unterschiedlich die Ausstattung mit sozialen Kompetenzen ist. Die Ausschläge sind enorm. Die Zeiten, in denen ein gewisser Grundlevel an Benehmen, Pünktlichkeit und Lernbereitschaft vorausgesetzt werden konnte, sind offenbar vorbei. Einige der jungen Leute kriegen sich auch nach mehrfachen Beratungen und Ermahnungen nicht ein. Sie nehmen arbeitsrechtliche Maßnahmen in Kauf, fühlen sich dann aber sofort diskriminiert und verfolgt, weil sie doch Ausländer sind. Diejenigen allerdings, die rundlaufen und bei denen die Basics, also Grundrechenarten und Umgangssprache stimmen, sind dann wiederum auch gleich wieder Vorbilder für die deutschen Azubis. Nur um Missverständnissen vorzubeugen, gebe ich den Hinweis, dass wir fehlende schulische Kompetenzen mit Nachhilfe während der Arbeitszeit auszugleichen versuchen.
Trotzdem sind wir schließlich um die Erkenntnis nicht herumgekommen, dass uns als einer nicht im Produktionsprozess stehenden Behörde Grenzen gesetzt sind. Eine Ausbildungsstelle kann nun einmal nicht die Erziehung von Mama und Papa oder die Grundschule ersetzen. Unser stolzes Vorzeigeprojekt zur Ausbildung benachteiligter Migranten haben wir letzten Endes nach drei Jahren einstellen müssen. Unsere Ausbilderinnen und Ausbilder waren einfach nicht länger bereit, Prellbock für die vorhandenen massiven Defizite unfertiger und leider auch zum Teil unwilliger junger Menschen zu sein. Jedem Sprücheklopfer nach dem Motto »Da müssen sich die Arbeitgeber eben anstrengen, den maßgeschneiderten Azubi gibt es nun mal nicht« empfehle ich die Probe aufs Exempel bei sich selbst.
Wir legen großen Wert auf die Förderung von Begabungen außerhalb des Standardbereichs. Ein Ansatz ist hierbei der Ausbau unserer Musikschule. In den letzten Jahren haben wir erhebliche Mittel investiert, um schon eine frühkindliche Förderung in der Musikschule zu ermöglichen. Das soll ein Baustein gegen die Segregation sein. Keine Familie verlässt Neukölln, weil das Kind hier keinen Geigenunterricht bekommt, lautet das einfache Konzept. 200 Honorarkräfte kümmern sich tagtäglich um die Musikschüler. Es gelingt uns auch immer wieder, der Musikschule neue Übungsräume und Aufführungsmöglichkeiten zu verschaffen. Das Projekt »Musik – Sprache –
Bewegung« soll jedem Neuköllner Kind zwischen drei und sieben Jahren die Möglichkeit geben, ein Jahr kostenlose Förderung durch Musik zu erhalten. Der Unterricht findet in den Kindertagesstätten oder in der Musikschule in Gruppen von acht bis zwölf Kindern statt. Beim gemeinsamen Musizieren wird die Teamfähigkeit von Kindern mit unterschiedlicher sozialer, ethnischer und kultureller Herkunft gestärkt. Sie sollen lernen, aufeinander zuzugehen, dem anderen zuzuhören und ihn mit seinen Schwächen und Stärken zu akzeptieren. Die Musikschule ist eine wichtige Kulturwerkstatt der Integration, ohne dass es draußen dran steht. Leider ist es so, dass bildungsferne Eltern die Bedeutung des Musizierens für ihre begabten Kinder nicht erkennen wollen und sich nach dem Jahr der Kostenfreiheit zurückziehen. Wenn es anfängt, Geld zu kosten, ist Schluss mit lustig. Diese Erfahrung hatten wir bereits mit Schnuppertanzkursen gemacht, die nach der kostenlosen Phase nur noch auf geringes Interesse stießen. Da hilft auch BuT nicht – das Bildungs- und Teilhabepaket, das einen Teil der Kosten übernimmt.
Aufgrund unserer Erfahrungen, dass kleine Schlampereien wie häufiges Zuspätkommen, beginnende Aggressivität gegenüber Lehrern und asoziales Verhalten gegenüber Mitschülern die Vorboten von schwerwiegenden Verhaltensauffälligkeiten sind, haben wir in Neukölln das System der Schulstationen immer weiter professionalisiert. Ursprünglich hatte der Senat dieses Projekt angestoßen. Als es dann darum ging, es zu verfestigen und auszubauen, versiegte der Geldstrom. Da die Schulstationen jedoch eine solch positive Wirkung erzielten, entschlossen wir uns, das Netz aus eigenen Mitteln weiter auszubauen. Im Jahre 2005 verfügten wir über vier Schulstationen, 2006 waren es schon sechs, und 2008 erweiterten wir das Angebot um zusätzliche zehn. 2013 kommen sieben Schulstationen hinzu, so dass dann 23 Grundschulen über diese aus Bezirksmitteln finanzierte Hilfestellung verfügen.
Schulstationen sind bei uns ethnisch gemischte Sozialarbeiterteams, die auf Hinweis aus der Lehrerschaft die Betreuung einzelner Schülerinnen und Schüler schulbegleitend übernehmen. Sie machen präventive Angebote zur Vermeidung von Schuldistanz, beraten bei Konflikten und suchen Problemlösungsstrategien. Auch die Kontaktaufnahme zu den Eltern, Hausbesuche und die Stärkung des Selbstwertgefühls von Schülerinnen und Schülern gehören in das Aufgabenspektrum. Die Schulstationen stellen also eine Erweiterung der Professionalitäten und des Leistungsspektrums über das reine Lehrerkollegium hinaus dar. Sie übernehmen Einzelaufgaben, kümmern sich um Schulschwänzer, helfen Schülern bei der Bewältigung ihrer Probleme oder schlichten Konflikte zwischen den Kids. Das alles erfordert oftmals weit mehr Zeit, als eine Lehrkraft aufbringen könnte. Die Kosten pro Schulstation belaufen sich auf 75 000 Euro im Jahr.
Beim Start hatten wir die Schulstationen organisatorisch dem Jugendamt zugeordnet. Das entsprach einer üblichen Regelung im Land Berlin. In der Praxis verschoben sich die Tätigkeitsfelder jedoch immer mehr in Richtung Jugendhilfe und allgemeine Jugendarbeit. Die Aufgaben der schulbegleitenden, insbesondere schulunterstützenden Arbeit traten in den Hintergrund. So war das aber nicht gedacht, denn nun entstand ein Konkurrenzdenken und Konkurrenzverhalten. Eigentlich die traditionelle Hassliebe zwischen Jugendarbeit und Wissensvermittlung oder Sozialpädagogik und Pädagogik. Jugendamt und Schulamt, Jugendeinrichtungen und Schulen mochten sich in Berlin noch nie. In Schulzentren eingelagerte Jugendclubs scheiterten. Additive Vorklassen in Kindertagesstätten scheiterten ebenfalls. Und sozialpädagogisches Personal hat sich stets vom pädagogischen schlecht behandelt gefühlt (und umgekehrt).
Aus den im Alltag hinderlichen »Menscheleien« haben wir die Konsequenzen gezogen. Seit dem Schuljahr 2011/2012 sind die Schulstationen organisatorisch und personell den Schulen zugeordnet. Das gefällt natürlich dem Jugendwesen nicht, und so beschäftigen wir uns wieder mit uns selbst, statt uns unseren gesellschaftlichen Aufgaben zu widmen. Nichts ist so schön wie die Verwaltungsonanie und das Gerangel um Zuständigkeiten.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #37 on: November 04, 2012, 09:41:16 am »
Eigentlich beschränke ich mich in diesem Kapitel auf Dinge, die der Bezirk ins Leben
gerufen hat, die also in der öffentlichen Hand liegen. Ich will bei zwei Initiativen davon abweichen, weil sie für das Gesamtthema wichtige Fingerzeige geben. Das eine ist das Projekt »Hürdenspringer«, das einen sehr positiven Verlauf nimmt. Das andere ist das Projekt »Hauptschüler in den Beruf« (HiB), mit dem wir gescheitert sind.
Der Träger von »Hürdenspringer« ist das Unionhilfswerk. Nach einer Aufbauphase 2008 hat das Projekt 2009 seinen regulären Betrieb aufgenommen. »Hürdenspringer« ist ein Mentorenprojekt 1:1 für Schülerinnen und Schüler ab der 8. Klassenstufe. Derzeit sind zwei Neuköllner Sekundarschulen und ein Gymnasium einbezogen. Das Prinzip ist schnell erläutert. Ein ehrenamtlicher Erwachsener begleitet als Pate einen Jugendlichen aus prekären Familienverhältnissen bis zum Abschluss der 10. Klasse. Der Pate inspiriert das Freizeitverhalten, kümmert sich begleitend um den Schulbesuch und die Hausarbeiten, berät beim Berufswunsch, hilft bei der Praktikumssuche und ist einfach für seinen Jugendlichen immer da. Er ist Elternersatz. Über 150 Tandems gibt es inzwischen. Der Erfolg kann sich sehen lassen. Die schulischen Fehlzeiten wurden zu 100 % beseitigt, und in 90 % aller Fälle gab es eine erfolgreiche Berufswahl mit einem Ausbildungs- oder Studienplatz. Hier zeigt sich wieder einmal: Wenn ein Dritter einspringt und die vakante Stelle einnimmt, die eigentlich das Elternhaus besetzen müsste, nimmt das Leben der jungen Menschen einen anderen Verlauf. Es sprengt aber die Möglichkeiten der Gesellschaft, allen Einwanderern und ihren Kindern einen individuellen Betreuer an die Hand zu geben, der ihnen alle Wechselfälle des Lebens abnimmt und für sie regelt. Also das Rundum-Sorglos-Paket.
Das Projekt HiB unter der Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt verfolgte die gleiche Zielrichtung, aber auf einem anderen Weg. Es wandte sich ebenfalls an junge Menschen der 8. Klasse. Wenn sie zwei Jahre lang freitags und samstags einige Stunden »Nachhilfeunterricht inklusive Firmenpraktika« im weitesten Sinne wahrnahmen, dann sollten sie dafür einen garantierten Ausbildungsplatz erhalten. Das Projekt startete mit 24 Schülerinnen und Schülern, am Ende der Laufzeit waren vier davon übriggeblieben. Der Rest hatte nicht durchgehalten. Ich weiß, dass diese Form der Unterstützung in anderen Städten der Bundesrepublik erfolgreich durchgeführt worden ist. Vielleicht ist der Großstadt-Effekt ein zu starker Gegner gewesen.
Unser Jugendamt beteiligt sich an dem Jugendberatungshaus des Neuköllner Netzwerkes Berufshilfe, das junge Menschen beim Übergang von Schule zum Beruf begleitet. »Ich bin Jugendlicher in Neukölln und habe den beruflichen Anschluss verpasst. Ich will etwas tun, weiß aber nicht, wie …« beschreibt dessen Zielgruppe: Jugendliche, die es ohne Hilfe Dritter nicht packen. Das Projekt ist wieder ein gutes Beispiel für die Verzahnung verschiedener Träger. Arbeitsagentur, Jobcenter, berufsbildende Schulen und Jugendhilfe wursteln nicht jeder vor sich her, sondern ziehen Honig aus ihren Schnittstellen. Im Jugendberatungshaus werden im Jahr etwa 4000 Neuköllner Jugendliche beraten, darunter über 60 % mit Migrationshintergrund. Ein durchaus beachtlicher »Gebrauchswert« der Einrichtung.
Zwei Projekte führen wir derzeit im Versuchsstadium. Das eine nennt sich die »Task Force Okerstraße«. Es richtet sich gegen die Verwahrlosung des öffentlichen Raums und kümmert sich um überforderte Nachbarschaften. Das andere ist ein Schulschwänzer-Internat – offiziell »Schulwohnprojekt« genannt – für junge Leute, die eigentlich willig sind, aber immer wieder den Versuchungen des Milieus erliegen.
Die Task Force ist in einem Gebiet tätig, das gekennzeichnet ist durch einen mit randständigen Menschen hoch belasteten öffentlichen Raum und vielfach illegal vermietete, völlig verwahrloste Häuser, an denen sich Mietabzocker eine goldene Nase verdienen. Denn hier werden nicht Wohnungen, sondern bis zu 20 Schlafplätze pro Wohnung à 100 bis 300 Euro pro Monat vermietet. Die Begleiterscheinungen solcher Vermietungsstrategie kann sich jeder vorstellen: Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal, ein ständiges Kommen und Gehen »neuer Nachbarn« schafft Unruhe und Unsicherheit im Wohnumfeld.
Das Quartiersmanagement Schillerpromenade hat darauf reagiert und die Idee für ein Projekt
entwickelt, welches von seinem Quartiersrat als Bewohnervertretung mit großer Mehrheit beschlossen wurde. Die TFO, wie sie in Kurzform genannt wird, ist eine Kooperation zwischen Quartiersmanagement, tangierten Verwaltungen und Polizei. Vor Ort wurde ein Träger der Sozialarbeit damit beauftragt, Einfluss auf die Verhältnisse zu nehmen und mit der TFO zusammenzuarbeiten. Es geht um die Organisation eines halbwegs friedlichen Miteinanders und eines einigermaßen belastungsarmen Lebens für alle. Dafür müssen einige Problemgruppen ihr Verhalten ändern: Wir lassen die Leute nicht in Ruhe. Das ist natürlich repressiv. Deswegen gibt es aus der bekannten politischen Szene auch militanten Widerstand gegen das Projekt. Immer wieder eingeschlagene Scheiben, beschmierte Wände, verwüstete Büros, immer wieder bedrohte Mitarbeiterinnen. Das sind die Methoden, zu denen diejenigen greifen, die Begriffe wie »Demokratie«, »Toleranz« und »Freiheit« ständig im Munde haben, aber nur sich selbst meinen.
Weil vorhersehbar bei solch »bösen« Maßnahmen, bei denen eigentlich gar nichts passiert, die doch nur dazu dienen sollen, einigermaßen erträgliche und zivilisierte Lebensverhältnisse für alle Bewohner des Kiezes herzustellen, mit Ärger zu rechnen war und auch der Senat Dinge nicht liebt, an denen er sich die Hände schmutzig machen könnte, hat er seine offizielle Teilhaberschaft an dem Projekt abgelehnt. Er fördert uns lieber still und unerkannt. Positiv sei erwähnt, dass Klaus Wowereit nach einem der Überfälle auf das Büro dort einen demonstrativen Solidaritätsbesuch gemacht hat. Das hat den Mitarbeiterinnen gut getan.
Beim Schulschwänzer-Internat ist die Zielgruppe ein Kreis von Jugendlichen, die eigentlich noch nicht ganz verloren sind, gute Ansätze haben, aber immer wieder den Verhältnissen zu Hause oder im Kiez nicht widerstehen können. Ihnen geben wir Gelegenheit, Montag bis Freitag im Internat zu leben und zur Schule zu gehen. Von Freitagabend bis Sonntagabend können sie nach Hause, wenn sie wollen. Das Gelände ist nicht verschlossen, die Häuser auch nicht. Das Programm beruht nur auf Freiwilligkeit.
Als mir die Idee das erste Mal vorgestellt wurde, war ich völlig begeistert. Es hörte sich alles so gut und rund an. Nach inzwischen gut zwei Jahren Probebetrieb muss ich gestehen, dass uns der Durchbruch bisher nicht gelungen ist. Viele Jugendliche schaffen auch mit Unterstützung in dieser besonderen Form der Beschulung nicht den gewünschten Sprung zurück in einen regelmäßigen Schulbesuch. Wir haben uns jetzt noch ein Jahr Zeit gegeben bis zu einer Entscheidung Hopp oder Topp.
Muslimische Jugendliche trinken keinen Alkohol und nehmen keine Drogen, so heißt es. Ein Problembereich, um den wir uns also nicht zu kümmern brauchen, dachten wir. Inzwischen müssen wir feststellen, dass Allah auch nicht alles sieht und dass es immer eine Lösung gibt. Bei den Drogen heißt sie Tilidin. Ein starkes Schmerzmittel, das bei krebskranken Menschen im finalen Stadium eingesetzt wird. Es macht schmerzunempfindlich und euphorisch. Etwa 3000 Rezeptfälschungen fliegen jedes Jahr in Berlin auf. Die Dunkelziffer ist groß. Außerdem kommt Tilidin häufig aus Polen und den Niederlanden, wo ein 50-ml-Fläschchen rund 60 Euro kosten soll. Der Stoff wird häufig in Hinterzimmern von Shisha-Bars u. ä. verkauft. Auch an Jugendliche. Wenn Sie sechs bis zehn Polizeibeamte benötigen, um einen 14-Jährigen zu bändigen, dann ist Tilidin im Spiel. Und was den Alkohol betrifft, ist es mittlerweile schlicht so, dass immer mehr auch muslimische junge Männer mit dem Saufen anfangen. Die Folgen sind dieselben wie bei Angehörigen anderer Religionen. Eine Religion hat offensichtlich keinen Einfluss auf die Wirkung des Alkohols. Ist ja auch eine Erkenntnis.
Aufgrund der vorstehenden Erfahrungen haben wir Ende 2008 im Rathaus die »AG Jugendschutz« – im Jargon der Mitarbeiter: »Soko Suff« – gegründet. Rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bilden eine Einheit, die am Wochenende von 19.00 bis 2.00 Uhr wechselnd im Bezirk unterwegs ist, um den Alkohol- und Drogenmissbrauch zu bekämpfen. Sie alle engagieren sich ehrenamtlich. Bei ihrer Tätigkeit sind sie am Körper passiv geschützt und aktiv durch sie immer begleitende Polizeibeamte. Die »Soko Suff« hat bisher in rund 1900 Lokalen, Verkaufsstellen und
Jugendtreffs 5900 Personen überprüft. Einige Jugendliche verdanken ihr das Leben. Wahrscheinlich können sie sich daran aber nicht mehr erinnern.
Die neue Armutswanderung aus dem südosteuropäischen Raum findet an dieser Stelle nur mit dem nachrichtlichen Hinweis Erwähnung, dass sie im letzten Kapitel behandelt wird.
Die Leuchttürme der Neuköllner Integrationspolitik sind das Albert-Schweitzer-Gymnasium, der Mitmachzirkus, die Stadtteilmütter und der Campus Rütli.
Das Albert-Schweitzer-Gymnasium, das Sie bereits kennengelernt haben, ist ein unumstößlicher Beweis dafür, dass wir doch in die Entwicklung der Stadtgebiete, aber vor allen Dingen in die Entwicklung der Persönlichkeiten der jungen Leute erfolgreich eingreifen können. Die Volksweisheit »Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen« ist gar nicht so weise. Da trifft doch eher der Refrain eines Kinderliedes, das ich vor kurzem bei einer Schulaufführung zu hören bekam: »Doof geboren ist keiner, doof wird man gemacht …«
Unsere Schulen müssen in die Lage versetzt werden, auf veränderte Bevölkerungsstrukturen auch mit veränderten Schulorganisationen und angepassten pädagogischen Konzepten antworten zu können. Das Modell der Albert-Schweitzer-Schule als Ganztagsgymnasium mit spezieller Sprachförderung kostet jährlich 220 000 Euro mehr als die übliche Schulform. Das ist der Gegenwert von fünf Jugendknastplätzen. Die Gesellschaft kann sich also entscheiden, ob sie fünf Knackis ernähren oder 690 Gymnasiasten zum Abitur führen will. Diese Aussage ist so banal, dass man sie nicht für möglich hält. Und doch ist es so. Die Frage ist also, wieso gelingt es nicht, diese Erkenntnisse in das generelle Politikraster zu übernehmen? Es gibt mit Sicherheit noch andere gelungene Schulversuche und Beispiele für erfolgreiche Integrationsarbeit durch Engagement und Kreativität. Das Wissen ist im Land vorhanden. Es fehlt nur am Willen der Politschwätzer, es umzusetzen.
Der Mitmachzirkus entstand im Jahr 2007. Der Kern besteht aus einer richtigen Zirkusfamilie. Also nicht aus Sozialarbeitern mit roter Pappnase. Neuköllner Grundschüler können mit ihrer Klasse dort eine Woche lang Artisten werden. Sie jonglieren, sie laufen über Scherben, sie hängen am Trapez, sie führen Tierdressuren vor und machen gewagteste Akrobatik in Form eines Purzelbaums. Letzteres ist für manche Neuköllner Kinder eine echte Herausforderung. Der Sinn dieser Aktionswoche ist nicht, den Kindern das Diktat oder das Rechnen ersparen zu wollen. Wir zeigen ihnen eine andere Lebenswelt, die sie nicht kennen und die sie herausfordert. Wir wollen ihnen Solidarität vermitteln. Du kannst stehend auf dem Rücken des Pferdes reiten, wenn dich dein Klassenkamerad an der Longe festhält. Das macht er aber nur, wenn du ihn anschließend auch festhältst, und nicht, wenn du ihm eine reinhaust. Die Zirkusleute sprechen mit den Kindern in deren Sprache. Klar und unmissverständlich. Revierverhalten nach dem Motto »Was soll der Babykram hier? Ich bin ein harter Kämpfer« wird im Trainingszelt mit einer Viertelstunde auf der Matte geklärt. Das hält für eine Woche.
Nach fünf Tagen gibt es eine Abschlussvorstellung. Mit Glitzer, Schminke, Scheinwerfer und Musik. Die Eltern sollen kommen, um ihren Kindern zuzuschauen. Wie viele Mamas und Papas tatsächlich erscheinen, hängt von der sozialen Situation im Einzugsgebiet der Schule ab. Sind die Kinder aus dem Einfamilienhausgebiet, reichen die 400 Plätze nicht aus. Ist knallharter Kiez aus dem Norden angesagt, sitzen 20 bis 30 Eltern auf den Bänken. Den anderen ist es egal, was ihre Kinder machen. Kinder, die wichtige Einzelrollen in der Vorstellung haben, erscheinen plötzlich nicht. Irgendetwas in der Familie war wichtiger als die Aufgabe des Kindes. Heulende Kinder am Eingang des Zirkuszeltes stehen zu sehen, die bis kurz vor Beginn hoffen, dass ihre Eltern doch noch kommen und ihnen zuschauen, macht echt zornig. Nicht nur den Zirkusdirektor, sondern auch mich.
Die Erfolge dieser Maßnahme sind unglaublich. Außenseiter sind plötzlich in den Sozialverbund der Klasse integriert, Kinder, die im Unterricht nie den Mund aufmachen, treten als Ansager auf, und Hasenfüße schweben am Trapez unter der Zirkuskuppel. Jährlich 80 000 Euro
kostet der Mitmachzirkus. Geschenkt für die 5000 Kinder pro Jahr oder die 25 000 Kinder seit wir ihn haben. Es kann so einfach sein, Kindern aus einer prekären Welt etwas Glanz in ihren Alltag zu bringen. Sogar Königin Beatrix nebst Kronprinz Willem und der bezaubernden Prinzessin Maxima bestanden darauf, ihn bei ihrem Staatsbesuch 2011 zu besuchen. Eine hohe Ehre für die Zirkusfamilie und für Neukölln.
2004 war die Geburtsstunde der Stadtteilmütter. Nach dem Campus Rütli wohl das zweitbekannteste Neuköllner Projekt. Wir wollten eine Art Kopie der Rucksack-Mütter aus Rotterdam ausprobieren. Das sind Migrantinnen, die als Botschafter des Vertrauens die eigene Ethnie aufsuchen. Der Unterschied zu Rotterdam war, dass die Frauen nicht mit Rucksäcken in die Kindergärten gehen sollten, um ihr Wissen zu verbreiten, sondern sie sollten mit der Stadtteilmutter-Tasche hinter die Wohnungstüren kommen. Hinter die Türen von Familien, bei denen der Bürgermeister mit der Amtskette zehnmal klingeln kann, und sie gehen trotzdem nicht auf. Das sind Familien, zu denen auch die Migrantenorganisationen keinen Kontakt haben.
Es begann mit einem kleinen Projekt im Quartiersmanagement Schillerpromenade. Damals stiegen 27 Einwandererfrauen ein, die weder einen Beruf erlernt hatten noch erwerbstätig waren. Die meisten lebten von Hartz IV. Sechs Monate lang haben sie damals gebüffelt und gelernt. Gesunde Ernährung, gewaltfreie Erziehung, was ist ein Kindergarten, warum gibt es Impfungen, wie funktioniert das Schulsystem und welche Gründe gibt es dafür, einen Sprachkursus zu belegen?
Zwei Dinge mussten die Stadtteilmütter als Voraussetzung mitbringen: den guten Willen und die deutsche Sprache. Und dann machten wir sie zu Botschafterinnen der deutschen Gesellschaft. Sie erhielten als Erkennungszeichen einen burgunderfarbenen Schal und die markante Stadtteilmütter-Tasche. Der Erfolg dieses kleinen Projektes war so groß, dass wir uns entschlossen, die Stadtteilmütter zum Markenzeichen von Neukölln zu machen.
Seit 2007 haben wir inzwischen 309 Stadtteilmütter ausgebildet, und diese haben 5200 Familien mindestens zehnmal besucht. Unterstellen wir nur eine durchschnittliche Kinderzahl von drei in jeder Familie, haben wir den Lebensraum von rund 15 000 Kindern erreicht. Gönnen wir den Stadtteilmüttern keinen Erfolg und nehmen wir an, in 90 % aller Fälle waren ihre Bemühungen vergebens, dann waren sie immerhin bei 1500 Kindern erfolgreich. Nicht schlecht für ein Hartz-IV-Projekt, jedenfalls kein Vergleich zu Blätter in die Luft werfen und wieder zusammenfegen. Insgesamt sind einschließlich der Hartz-IV-Kosten 9,2 Millionen Euro in das Projekt geflossen. 600 000 Euro hat der Bezirk bezahlt, 1,2 Millionen Euro der Senat und 7,3 Millionen Euro das Jobcenter. Die Stadtteilmütter wurden bisher zehnmal national und international ausgezeichnet. Berlin erhielt für ihre Leistungen den Metropolitan Award. Gelobt werden sie viel, kopiert werden sie Gott sei Dank inzwischen auch häufig. Aber ihre Finanzierung ist alle zwei Jahre eine blamable Schacherei. Der Regierende Bürgermeister hat ihnen schon 2009 versprochen, dass sie in die Regelfinanzierung kommen. Den Spickzettel muss er wohl verloren haben. Im Jahr 2012 kämpften wir wieder mal um das Überleben des Projekts, weil die Finanzierung auszulaufen drohte. Letzte Meldung: Es ist wieder geschafft.
Die Stadtteilmütter haben ihr Zuhause im Rathaus Neukölln. Sie werden geführt und geleitet durch das Diakonische Werk. Bundesminister haben die Frauen besucht, Vizekanzler Müntefering hat mit ihnen diskutiert, Bundestagsfraktionen wollten sie hören und sehen. Überall wird ihnen hohe Anerkennung gezollt. Auch im Jobcenter, dort wird ihre Tätigkeit über den öffentlichen Beschäftigungssektor gefördert. Ich erinnere mich gut an eine Begebenheit beim Besuch von Franz Müntefering. Eine Stadtteilmutter erzählte ihm, dass sie das erste Mal das Gefühl hat, im Leben Verantwortung zu tragen und etwas Sinnvolles zu machen. Eine andere Frau berichtete, dass es in der Schule für die Kinder eine Ehre ist, sagen zu können: »Meine Mutter ist Stadtteilmutter.« So ganz nebenbei haben wir den Einwandererfrauen also zu einer neuen Identität verholfen. Und die eine oder die andere haben wir an den ersten Arbeitsmarkt verloren. Wir tragen das mit Fassung. Übrigens: Kinder von Stadtteilmüttern benehmen sich in der Schule völlig anders als ihre
Straßenkumpels.
Das engagierteste, finanziell aufwändigste, aber inzwischen wohl auch berühmteste Projekt der Neuköllner Integrationspolitik ist der Campus Rütli – CR2.

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #38 on: November 04, 2012, 09:42:53 am »
Auslöser war 2006 der Brandbrief des damaligen Lehrerkollegiums mit der ultimativen Aufforderung, die Schule in der jetzigen Zusammensetzung zugunsten einer neuen Schulform zu schließen, weil die Lehrerschaft der dortigen Verhältnisse nicht Herr wird. Einen Abdruck des Briefes finden Sie im Anhang des Buches. Nachdem der Presserummel und die zum Teil wirklich widerliche Geilheit nach Skandalfotos abgeklungen waren, blieb trotzdem die Frage: »Und wie gehen wir mit der Situation weiter um?« Ein zu zwei Dritteln aus dem Ostteil der Stadt zwangsversetztes Lehrerkollegium, das jeden Tag einen Kulturschock erlebte, auf der einen Seite. Andererseits eine von dauergeduldeten, arabischen jungen Männern dominierte Schülerschaft, die nichts weiter im Kopf hat, als Stress raushängen zu lassen. Ich sprach damals mit Sozialarbeitern, die mit Projekten versuchten, die jungen Leute irgendwie zu motivieren. Sie berichteten, dass der Konzentrationshorizont der Jugendlichen etwa bei 20 Minuten liegt. Wenn dann keine Abwechslung erfolgt, drehen sie am Rad.
Bei meinen Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern stellte ich immer wieder fest, dass ihre Wünsche an das Leben sehr kleinbürgerlich normal waren. Friseurin, Schneiderin, Mechatroniker. Dass die Erfüllung genau dieser ihrer Wünsche in einem direkten Zusammenhang mit der Schule und dem Beherrschen bestimmter Grundlagen des Lebens steht, verstanden sie nicht. Ich will hier raus, ich will hier raus, ich will endlich Verkäuferin lernen. Ich hörte mir das an und wusste, dass eine herbe Enttäuschung auf die junge Frau wartete. Als ich eine Sportstunde von zwei Klassen besuchte, sollten eigentlich 18 junge Damen in der Halle sein. Sechs machten mit einer Lehrerin ein Programm. Sechs saßen auf einer Bank und relaxten. Auf meine Frage, warum sie denn nicht mitmachen würden, nannten sie mir nicht, wie erwartet, biologische Vorgänge, sondern hatten die kurze Botschaft »Wir haben keine Lust«. So war das damals.
Im Jahr 2007 kam der ehemalige Senator Volker Hassemer für die Stiftung Zukunft Berlin auf mich zu. Er fragte, ob ich eine Idee hätte, wie man für die Rütli-Schule ein zukunftsträchtiges Konzept entwickeln könnte, ein Konzept, das sich auf andere Schulen übertragen ließe? Gleichzeitig nahm die Freudenberg-Stiftung das Quartier in ihr Programm »Ein Quadratkilometer Bildung« auf. Beim nächsten Treffen präsentierte ich der Stiftung die Grundidee des Campus Rütli. Ich gab zu bedenken, dass man dafür Geld brauche. Dieses Geld müsse vom Senat kommen. Millionen Euro für ein Projekt von Buschkowsky? Niemals! In dieser Phase erschien der rettende Engel in Form einer Schirmherrin: Christina Rau. Das wurde zur Sternstunde für den Campus. Spötter meinen auch, CR2 stehe für »Christina Rau«.
Unsere Schirmherrin machte sich auf den Weg, um Klinken zu putzen. Das tut sie übrigens heute noch. Es begannen jetzt all die Dinge, die geschehen müssen, um ein Großprojekt zum Laufen zu bringen. Es wurde ein Konzept erarbeitet, eine Lenkungsgruppe ins Leben gerufen, Finanzverhandlungen wurden geführt, ein Bebauungsplan wurde festgesetzt, und es wurden zwei Architektenwettbewerbe durchgeführt. Die Schule selbst hat sich inzwischen zur ersten Gemeinschaftsschule Neuköllns gemausert. Das Gebäude ist umfangreich umgebaut. Es wurden Prozesse über Prozesse geführt, um Zwischennutzer von den Grundstücken des Landes Berlin zu holen und darauf den Campus zu verwirklichen. Der erste Neubau, die Quartiers(sport)halle, wird Ende 2012 eingeweiht werden können. 2014 ist der geplante Baubeginn für die Schulerweiterung, die Arbeitslehre, das Elternzentrum, die Beratungsdienste und die Berufswerkstatt. 2016 soll alles fertig sein. Der Finanzaufwand wird dann etwa bei 35 Millionen Euro gelegen haben.
Wo es um so viel Geld geht, ist auch der Neid nicht weit. Selbst Neuköllner Schulen beklagen sich, dass dem Campus Rütli alles »vorne und hinten rein gesteckt wird« und sie gar nichts bekommen. Letzteres stimmt zwar nicht, macht sich aber aus dramaturgischen Gründen immer gut. Es haben immer noch nicht alle verstanden, dass Campus Rütli mehr ist als eine modernisierte
Schule.
Campus Rütli ist ein neuer Anlaufpunkt in der Größe von über 40 000 Quadratmetern für eine Einwohnerschaft von 20 000 Menschen. Dieser Sozialraum will die sozioökonomischen Kompetenzen im Gebiet ganzheitlich erfassen. Unter Aufbrechen aller bisher bestehenden Ressortstrukturen sowie traditioneller Versäulungen der öffentlichen Infrastruktur soll dort ein Zentrum des Lernens, der Freizeit, der Begegnung und des Heranwachsens entstehen. Krippe, Kindergarten, Hort, Grundschule, Mittelstufe, Oberstufe, Jugendclub, Berufsfindungswerkstätten, Elternzentrum, Jugend- und Gesundheitsamt, Spielplätze, Musik- und Volkshochschule – all diese Angebote sollen die Menschen des Quartiers auf den Campus führen, Identität und Wiedererkennungseffekte stiften und aus anonymen Anwohnern Nachbarn machen. Es ist der Versuch, mit einer neuen und anderen Form der Stadtstruktur auf den Wandel der Bevölkerung zu reagieren. Die Menschen haben ihre gewohnten Strukturen verloren, und wir müssen ihnen neue bieten.
So weit, so theoretisch. Das Konzept des Campus Rütli wird im In- und Ausland mit großem Interesse verfolgt. Das Auswärtige Amt warb mit ihm auf seiner Website weltweit für die Integrationsleistungen Deutschlands. Nach einigem Zögern entdeckte auch der Senat die Chancen, die in diesem Projekt für das internationale Renommee Berlins liegen. Insbesondere der ehemalige Schulsenator Prof. Zöllner entwickelte sich zu einem ausgesprochenen Förderer. Bis Mitte des Jahres 2012 haben über 300 nationale und internationale Gruppen den Campus besucht, und das Auswärtige Amt hat Staatsgäste zu uns geführt. Ich selbst werde die Einweihung des Gesamtareals nicht mehr im aktiven Dienst erleben. Es erfüllt mich aber mit Befriedigung, zum Gelingen beigetragen zu haben. Ein besonderer Gruß gilt an dieser Stelle noch einmal Christina Rau. Sie ist eine phantastische Frau, und wer weiß, ob Campus Rütli ohne sie jemals das Licht der Welt erblickt hätte.
Ein kleines Zwischenresümee: Früher war der fehlende Schulabschluss ein tragendes Kennzeichen der Leistungen der Schüler der Rütli-Schule. Bei der Jahrgangsprüfung 2011 haben vier Schüler keinen Abschluss hingekriegt. Die Schulleiterin legt aber Wert auf die Feststellung, dass es sich nur bei zwei Schülern um solche handelt, für die sie seit längerem Verantwortung trägt. Die anderen beiden Schüler waren aus anderen Schulen zwangsversetzt worden. Von den restlichen 120 Prüflingen erreichten 36 die Berechtigung zum Übertritt in die gymnasiale Oberstufe (!), und alle anderen Schüler schafften einen Abschluss in unterschiedlicher Güte. Beim letzten Schulinspektionsbericht erhielt die Schule in elf von 14 Bewertungskategorien die Bestnote. Auf 96 freie Schulplätze zum Schuljahreswechsel 2011/2012 meldeten sich 105 Schüler an. Das heißt, die Rütli-Schule ist inzwischen eine übernachgefragte, ja, eine der beliebten Schulen. Sie hat eine eigene Oberstufe und ist heute so weit, dass ein Drittel des Jahrgangs Abitur macht. Von Mobiliar, das aus dem Fenster im dritten Stock fliegt, keine Rede mehr.
Das Ziel ist noch nicht erreicht. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Hast du es weit, geh mit Freunden.« Die Rütli-Schule hat inzwischen viele starke Freunde. Sie ist eine Gemeinschaftsschule geworden, mit einer Grundschule und einer Realschule verschmolzen. Auch das war nicht einfach. Ein türkischstämmiger Vater der Realschule schrieb mir damals, dass die Eltern gegen die Fusion mit der Rütli-Schule protestierten. Er beendete seinen Brief mit der Formulierung: »Unsere Kinder fühlen sich zur Zeit wohl, und wir als Eltern werden unsere Kinder von der Heinrich-Heine-Schule abmelden, wenn es zu einer Zusammenlegung kommt.« Es ist eben nicht immer leicht, den Fortschritt zu erkennen. Egal, davon spricht heute niemand mehr. Die Rütli-Schule, ein Ort für Loser, das ist Geschichte.
*** Abrufbar unter: http://www.berlin.de/ba-neukoelln/migrationsbeauftragten/integrationspolitik.html
Was zu tun ist
Als Frau Prof. Dr. Böhmer im Sommer 2012 ihren neuen Bericht über »Die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland« vorstellte, war ich erst einmal ziemlich geklatscht. »Paradigmenwechsel von der nachholenden zur vorausschauenden Integrationspolitik: Neben der Reparaturwerkstatt öffnen wir die Zukunftswerkstatt«, verkündete die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung stolz. Jetzt haben sie es ja doch geschnallt, dachte ich, dein Buch kannst du in die Ablage tun. Ich war ziemlich vermault, was sich aber schnell legte, als ich mir die Erfolgsmeldung etwas genauer ansah.
Die Betreuungsquote der migrantischen Kinder unter drei Jahren in Kitas ist zwischen 2008 und 2011 um 53 % angestiegen. Donnerwetter, denkt da doch jeder, jetzt sind wir aber mit Siebenmeilenstiefeln unterwegs.
Dieser »sensationelle« Wert relativiert sich jedoch sehr schnell mit der Feststellung, dass dennoch gerade einmal 14 % der Kinder eine Einrichtung besuchen. Nicht nur, dass die Betreuungsdichte bei deutschen Kindern mit 29 % doppelt so hoch ist, der Abstand zwischen den Kindern mit und ohne Migrationshintergrund hat sich sogar weiter vergrößert. In der Schule sieht es nicht anders aus. Schüler nicht-deutscher Herkunft brechen die Schule mehr als doppelt so häufig ab wie ihre Klassenkameraden ohne Migrationshintergrund. Beim Übergang in das Berufsleben stoßen wir auf eine weitere riesige Baustelle. Der Anteil der Migranten im Alter zwischen 25 bis unter 35 ohne Berufs- oder Studienabschluss lag 2010 mit 31,6 % mehr als dreimal so hoch wie bei den gleichaltrigen Bio-Deutschen (9,2 %). Also, ganz ehrlich, Erfolgsberichte einer Zukunftswerkstatt stelle ich mir irgendwie anders vor.
Das Erklärungsmuster, warum die Trendwende auf dem Ausbildungsmarkt für jugendliche Migranten noch immer nicht gelungen ist, ist rituell abgedroschen. Dass Migranten einen wesentlich schwierigeren Zugang zu betrieblichen Ausbildungen haben, könnte an den »Selektionsprozessen« der Betriebe und daran liegen, dass die Unternehmen pauschal über die Gruppe der Migranten urteilen, meint Frau Prof. Dr. Böhmer. Mit anderen Worten: Die Firmen sind schuld. Sie grenzen aus und sind latent ausländerfeindlich. Das sagt Frau Prof. Dr. Böhmer zwar so nicht, aber das kann man inhaltlich so verstehen.
Da sind sie also wieder, unsere alten Bekannten: die Schönrederei und die beliebte Opferrolle. Ich denke, schon dieser kleine Seitenblick auf den Bericht der Bundesregierung zeigt, dass sich substantiell nicht viel geändert hat. Insofern kann ich mich getrost dem Schlusskapitel widmen, um darzulegen, was aus meiner Sicht zu tun ist.
Egal, wie jeder die einzelnen Teilaspekte der Einwanderung nach Deutschland und ihre Folgen bewertet, in einem müssten wir uns alle eigentlich einig sein: So, wie die Dinge sich in unseren Städten entwickelt und verfestigt haben, so können wir sie keinem weiteren Wildwuchs überlassen. Negativbeispiele der Entwicklung von ausgegrenzten Stadtlagen in anderen Ländern müssten genug Überzeugungskraft besitzen, gleiche oder ähnliche Entwicklungen nicht auch bei uns zuzulassen. Dies setzt eine fordernde und intervenierende Gesellschaft im Einklang mit einer aktiven, mutigen und konfliktbereiten Politik voraus. Die größte Voraussetzung ist allerdings ein Konsens, dass wir das alle so wollen. Ich persönlich glaube, die Integrationspolitik ist der ungeeignetere Ort für parteipolitische Sandkastenspiele, gleichwohl sind alle kräftig am Buddeln. Der jahrzehntelange parteiübergreifende Grundsatz, in allen die Grundfesten unserer Gesellschaft betreffenden Fragen das Einvernehmen zu suchen, war bisher immer ein Garant innenpolitischer Stabilität. Für mich gehört die Integrationspolitik zu den tragenden Säulen unserer Gesellschaft. Ein Fortsetzen der langjährigen Versäumnisse hätte katastrophale Folgen und würde irreparable Schäden für das gesellschaftliche Gefüge hervorrufen.
Aus meiner Sicht müsste eine Übereinstimmung zu folgenden Leitsätzen herstellbar sein:
Wir sind eine für jeden offene, tolerante Gesellschaft.
Jeder, der in dieses Land einwandert oder hier geboren wird, hat ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben frei von existentieller Not.
Jeder hat in diesem Land das Recht auf gleichen Zugang zu Bildung, Arbeit und Wohlstand.
Jeder ist in diesem Land willkommen, wenn er gewillt ist, seine Stärken zum Wohle der Gesellschaft und seiner Familie einzubringen.
Die Gesellschaft erwartet von jedem Hinzugekommenen und jedem noch Hinzukommenden Anerkennung und Achtung der geltenden Gesetze sowie den Willen zur Integration in das kulturelle Leben wie Wertegefüge.
Integrations-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik bedingen einander und sind nicht voneinander zu trennen.
Die vorstehenden Sätze beschreiben Selbstverständlichkeiten. Dennoch bin ich sehr sicher, dass bereits an dieser Stelle die Emotionen hochschlagen.
Das deutsche Politiksystem hat für Probleme und Fehlentwicklungen immer eine Hauptantwort parat. Die heißt Geld. Tun wir hier und tun wir dort einen zusätzlichen Geldschein hin, dann regelt sich alles von alleine. Bei der Integrationspolitik halte ich diesen Ansatz nicht nur für schädlich, sondern für tödlich. Geldscheine ersticken Aufbruchsstimmung, Aufstiegswillen und die Besinnung auf die eigenen Stärken. Steigende Zahlen für von Armut bedrohte Kinder bekämpft man effektiv nicht durch eine Erhöhung der Transfersätze, sondern mit einer Kompetenzerweiterung der Eltern zum eigenen Broterwerb und einem Jobangebot mit Löhnen, von denen man leben kann. Der Deutschkurs oder das Abitur sind schärfere Waffen gegen prekäre Lebensverhältnisse als zehn Euro mehr Kindergeld oder Hartz-IV-Regelsatz. Politische Spinnereien wie das bedingungslose Grundeinkommen oder die Verdoppelung des Kindergeldes lasse ich an dieser Stelle unkommentiert.
Eine sehr bemerkenswerte Standortmarkierung hat vor einigen Jahren Prof. Barbara John, die frühere Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, vorgenommen. Auszugsweise will ich ihre Gedanken hier wiedergeben:
»Herr Buschkowsky will mehr Geld für seinen Bezirk, wo nachweislich Gruppen von Einwanderern ihre soziale und ökonomische Isolation nicht überwunden, sondern sich darin eingerichtet haben. Mehr staatliches Geld auf Probleme ›werfen‹, das war und ist scheinbar noch immer das Allheilmittel. (…)Trotz dieser Unterstützung über teilweise Jahrzehnte haben viele Einwanderer keine Kompetenzen erworben, um eine Arbeit zu finden und ihre Kinder schulisch zu unterstützen. (…) Die Gründe liegen viel näher: Integration durch Bildung und Arbeit war für Migranten in Deutschland immer nur ein Angebot, nie eine Notwendigkeit, der man nicht ausweichen konnte. Es gab und gibt den Ausweg, auch ohne Aufstieg durch Bildung und Arbeit finanziell abgesichert zu leben, nämlich mit Hilfe öffentlicher Mittel. (…)Lange Abhängigkeit von sozialen Hilfen lähmt aber nicht nur die Eigeninitiative der Eltern. (…) Migranten über jahrelangen Bezug durch Transfermittel integrieren zu wollen, das konnte nur scheitern. (…) Zuwanderung zahlt sich für alle aus, wenn die Einwanderer über Bildung und Arbeit an unserer Gesellschaft beteiligt werden. (…) Mit den traditionellen Instrumenten des ›fürsorglichen‹ Sozialstaates wird dieses selbstverständliche Ziel nicht erreicht werden. Wie wäre es mal mit einem Konzept not made in Germany: Großzügig mit der Erlaubnis zur Arbeit und knauserig mit der Sozialhilfe?« Auch der weit über Berlin hinaus bekannte Pastor Bernd Siggelkow hat sich sehr klar zur Frage der Transferleistungen geäußert:
»Es bringt nichts, Hartz-IV-Empfängern mehr zu zahlen und die Sätze zu erhöhen. Die meisten Betroffenen leben ja nicht in einer finanziellen, sondern einer emotionalen Armut (…).50 oder 100 Euro mehr im Monat ändern daran doch nichts. Heranwachsende brauchen mehr finanzielle Hilfe. Denkbar wäre der vorgeschlagene Bildungschip, mit dem Kinder konkret Mittagessen, Nachhilfeunterricht und Musikstunden bezahlen können. Das wäre auch die richtige Unterstützung für alleinerziehende Mütter.« Ich teile beide Einschätzungen ohne jede Einschränkung. Der moderne Ablasshandel des Wohlfahrtsstaats – Nimm deinen Scheck, geh nach Hause und sei ruhig – ist keine
zeitgemäße Antwort auf das Problem der in bildungsferner Lethargie oder Kriminalität verharrenden Bevölkerungsschichten. Solange es so ist, dass Geringqualifizierte keine Chance haben, mit ihrer Hände Arbeit mehr Geld zu verdienen, als ihnen das Jobcenter ohne Gegenleistung überweist, solange werden wir die emotionale Aufstiegsblockade bei den Menschen nicht beseitigen.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #39 on: November 04, 2012, 09:43:45 am »
Nicht mehr Geld auf Probleme zu werfen bedeutet natürlich nicht, dass die Lösungen kostenlos sind. Gemeint ist vielmehr ein Systemwechsel. Weg von der teuren und dazu auch noch zukunftsfeindlichen Sozialalimentierung des Einzelnen hin zu Strukturen, die es ihm ermöglichen, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen. »Wenn ein Volk hungert, so schicke ihm kein Brot, sondern lehre es, die Äcker zu bestellen«, so lautet der alte Grundsatz der Entwicklungshilfe. Zehn Euro Kindergeld weniger werden durch ein kostenloses Mittagessen in der Schule mehr als aufgewogen. Das eine kommt dem Kind direkt zugute und führt auch zu Einsparungen im Portemonnaie der Eltern, das andere geht im Familienbudget manchmal unter.
Die skandinavischen Länder gelten wohl weltweit als die Wohlfahrtsstaaten schlechthin und als die Gesellschaften, die die größten Erfolge bei der sozialen Gleichheit und der Generationen- wie Chancengerechtigkeit für die Jungen vorweisen können. Dass dort auch nicht alles Gold ist, was glänzt, ist nicht Thema dieses Buches. Ein offenes Geheimnis aber ist, dass die Effektivität des allumsorgenden Staates in diesen Ländern inzwischen stark in Zweifel gezogen wird und sich die starke Steuerlast lähmend in der Wirtschaft bemerkbar macht. So hat die dänische Regierung kinderreichen Familien das Kindergeld gekürzt und Migranten während der ersten sieben Jahre ihres Aufenthalts die Sozialhilfe halbiert. Man diskutiert sogar, Einwanderern weitere Sozialleistungen bis hinein in den Gesundheitsdienst zu streichen.
Nun will ich an dieser Stelle gar nicht den Dänen das Wort reden oder auf andere skandinavische Finessen kommen wie den völligen Fortfall von Sozialleistungen bei Arbeitsverweigerung, sondern nur anklingen lassen, dass in anderen europäischen Staaten ebenfalls dem Zusammenhang von Sozialleistungen und ihrer möglichen Kontraindikation zu Eigeninitiative immer mehr Beachtung geschenkt wird. Ich halte das nicht nur für vernünftig und richtig, sondern darüber hinaus auch für zwangsläufig.
Wenn Menschen sich bei der Suche nach mehr Glück und Wohlstand auf die Wanderschaft begeben, folgen sie einem natürlichen Instinkt. Selbstverständlich aber muss eine Gemeinschaft ebenso ihrem natürlichen Instinkt folgen und darauf bedacht sein, dass Hinzukommende sie stärken und ihr nutzen. Wenn weite Kreise der Linkspolitik schon derart triviale Grundprämissen diskreditieren, dann verwundern Auseinandersetzungen um geringere Angelegenheiten nicht.
Genauso verhält es sich nach meinem Dafürhalten mit den politischen Standards, die hochgehalten werden, um den jeweiligen politischen Gegner aus der Reserve zu locken. Sie heißen doppelte Staatsangehörigkeit und Wahlrecht für alle. Beidem stehe ich ablehnend gegenüber und befinde mich damit im Dissens zur Linie meiner Partei. Die Ideologen sagen, die zum Beginn des Integrationsprozesses dargebotene Staatsangehörigkeit ist ein Vertrauensvorschuss und ein Akt der Willkommenskultur. Die Gesellschaft beweist damit dem Neuankömmling ihre Wertschätzung. Sie bietet von Beginn an alle Rechte wohlfeil, über die ein Mensch bei uns als Staatsbürger verfügt. Der theoretische Überbau für das allgemeine Wahlrecht ist sehr ähnlich. Jeder, der legal im Land lebt, soll auch mitbestimmen. Egal, ob er morgen wieder fort ist.
Das allgemeine, gleiche und freie Wahlrecht ist das höchste Gut eines Bürgers in einer Demokratie. Durch Wahlen werden die Grundzüge und die politische Ausrichtung unserer Gesellschaft bestimmt. Deshalb ist dieses Recht für die gesetzgebenden Körperschaften, also für die Parlamente, auf Staatsbürger, bei uns also Deutsche, und auf der kommunalen Ebene auf EU-Angehörige, also Angehörige des Staatenverbundes, begrenzt.
Staatsbürgerschaft und Wahlrecht auf dem Altar der Beliebigkeit zu opfern halte ich für einen fundamentalen Irrweg. Ich glaube nicht, dass auf diese Weise irgendetwas zum Positiven bewegt werden kann. Stattdessen werden tragende Grundsätze über Bord geworfen.
Deutschland hatte in den letzten Jahren zweifellos einen Negativsaldo beim Bildungsstand der Ein- und Auswanderer. Nicht nur quantitativ, sondern auch substantiell. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise in der EU hat jedoch im Moment zu einer Verschiebung geführt. War es bisher so, dass es sich bei denjenigen, die auswandern, zumeist um gut ausgebildete junge Menschen handelte, während es sich bei den Einwanderern vorwiegend eher um Menschen ohne jegliche Schul- und Berufsausbildung handelte, so ist im Zuwandererbereich derzeit ein Trend zu mehr und höher qualifizierten Fachleuten zu verzeichnen. Sie kommen aus Griechenland, Spanien und Italien. Zumindest ist die Gruppe der Einwanderer heterogener geworden. Man kann nicht mehr nur von einer Einwanderung in die Sozialsysteme sprechen.
Beim Fortzug hochqualifizierter junger Leute stehen meist erhoffte Berufs- und Verdienstmöglichkeiten im Vordergrund, die über denen in Deutschland liegen. Teils werden ihre Erwartungen erfüllt, teils nicht. Ein Aspekt, der mir gegenüber immer wieder geäußert wird, ist die Abgabenlast. Es bleibt einfach zu wenig Netto vom Brutto. Der Solidaritätsgedanke und die Ausstattung des Sozialsystems werden eher defensiv aufgenommen. Auch dann, wenn in der eigenen Familie das Sozialsystem durchaus gegenwärtig ist.
Einwanderung vollzog sich in Deutschland im Wesentlichen völlig ungesteuert. Es wurden an der einen oder anderen Stelle, zum Beispiel im Zuwanderungsgesetz, je nach politischer Tagesform mal Erleichterungen oder Erschwernisse geschaffen. Eine konzeptionelle Einwanderungspolitik und eine daraus abgeleitete, systematisch gesteuerte Einwanderung gab es bei uns nie, und es gibt sie bis heute nicht.
In den Jahren 2000/2001 versuchte die von der rot-grünen Bundesregierung eingesetzte Süssmuth-Kommission diesen Mangel zu beseitigen. Das fiel aber auf keinen fruchtbaren Boden. Die CDU/CSU verschloss sich dem Gedanken einer gewollten, konzeptionell strukturierten Einwanderungspolitik. Und so blieb alles beim Alten. In 2010/2011 wurde versucht, die Ergebnisse der Kommission zu reanimieren. Der politische Diskurs scheiterte ohne Ergebnis. So müssen wir weiter mit der Situation leben, dass Länder wie Kanada oder Australien sehr wohl schauen, wer zu ihnen kommt und was derjenige mit- und einbringt, während wir uns nach dem Prinzip der Wundertüte überraschen lassen, welche Inspiration unsere Bevölkerung durch Zuzug von außen erfährt.
Dass in Kanada die Kinder von Einwanderern im Durchschnitt eine erfolgreichere Schulkarriere mit besseren Abschlüssen als die der Einheimischen erzielen, mag auch an einem anderen Schulsystem und anders ausgebildeten Lehrern liegen. Das kann ich nicht beurteilen. Ein Hauptgrund besteht aber mit Sicherheit darin, dass die Einwandererkinder infolge des Ausleseprinzips der Familien bei der Einwanderung im Durchschnitt einfach bildungsorientierter sind als die Masse der Inländer. Der Taxifahrer oder Hausanstreicher mit akademischem Abschluss wird alles daran setzen, dass seine Kinder einen besseren Job bekommen können als er. Und er wird sie mit positivem Input auf den Weg des Wissenserwerbs begleiten. Das unterscheidet uns von Kanada oder Australien und nicht die Höhe des social transfer.
Wir sind dabei, den globalen Wettbewerb um die klugen Köpfe zu verlieren. Wenn es nicht schon zu spät ist. Nach Erhebungen der Mercator-Stiftung wanderten von 2007 bis 2009 ganze 363 hochqualifizierte Arbeitnehmer nach Deutschland ein. Von Januar bis September 2009, also in nur neun Monaten, waren es in Großbritannien 15 530. Den Sonntagsreden über das internationale Renommee Deutschlands und die Attraktivität des deutschen Arbeitsmarkts machen diese Fakten schlicht den Garaus. Wir haben heute schon einen Mangel an Fachkräften in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT). Umgekehrt gehörte Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten zu den OECD-Staaten, welche die am schlechtesten qualifizierten Einwanderer angezogen haben. Aber vielleicht wird die neue Blue Card dazu beitragen, mehr ausländische Fachkräfte nach Deutschland zu locken. Mussten Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten dem Zuwanderungsgesetz nach bislang ein Jahresgehalt von 66 000 Euro
nachweisen, sind es jetzt nur noch 44 8000 Euro. Für die genannten Mangelberufe liegt das Mindesteinkommen mit 35 000 Euro im Jahr noch niedriger. Ausländische Hochschulabsolventen, die im Land bleiben wollen, haben jetzt nicht mehr nur zwölf, sondern 18 Monate Zeit, eine Anstellung zu finden. Unabhängig von dieser gesetzlichen Neuregelung scheint auch die Eurokrise an einer Stelle unser Verbündeter zu sein. Machen sich doch deutlich vermehrt auch hochqualifizierte Menschen aus Südeuropa auf den Weg zu uns.
Ich bin dafür, die gesamte Thematik der Einwanderung sehr viel rationaler als bisher zu betrachten. Einwanderung ist mehr als gewollter oder inszenierter Familiennachzug. Es ist richtig, nicht nur den Benefit für die Ankommenden zu betrachten, sondern auch den, den die Gesellschaft von der Einwanderung hat. Das bedingt sich wechselseitig. Die Einwanderung von Menschen, die nach menschlichem Ermessen in unserer Gesellschaft nur wenige Chancen haben werden, sollte sich auf den Asylbereich beschränken. Die Forderung von sprachlichen Mindeststandards halte ich genauso für zumutbar wie die Erwartung, dass sich ein 23-Jähriger entscheiden kann, mit welcher Staatsangehörigkeit er künftig leben möchte. Die große Politik unterstellt 16-Jährigen die politische Reife für das Wahlrecht, hält aber 23-Jährige für überfordert von der Aufgabe, sich klar darüber zu sein, wo sie hingehören. Logik geht anders.
Was uns weiterhin von anderen Einwanderungsnationen unterscheidet, ist das starre Bildungssystem. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir in der Zeit stehen geblieben sind, als in der Schulfibel Familien abgebildet waren, in denen die Mädchen blonde Zöpfe und weiße Kniestrümpfe und die Jungen kurze Hosen mit Hosenträgern und Linksscheitel trugen. Wie ich in den anderen Kapiteln ausgeführt habe, sieht unsere Gesellschaft so aber nicht mehr aus. Das Bildungssystem hat nicht die Aufgabe, sich eine neue Bevölkerung zu schaffen, sondern die auszubilden, die da ist. Innerhalb des Aufgabenspektrum der OECD gibt es keinen Bereich, in dem so starke Kritik an der Bundesrepublik laut wird wie beim Bildungswesen. Und dennoch stampfen unsere Bildungspolitiker weiterhin trotzig mit den Füßen auf und sagen: »Alles ist gut.«
Mein SPD-Boss Sigmar Gabriel erzählte mir unlängst, dass wir bei den Bildungsaufwendungen dem kleinen Dänemark »nur« um 50 Milliarden Euro hinterherhinken. Immer wieder bestätigt uns die OECD, dass der Lebensweg der Kinder in keinem anderen Industrieland so stark vom gesellschaftlichen und sozialen Stand der Eltern abhängt wie in Deutschland.
Die ungleichen Entwicklungschancen für Kinder beginnen schon bei der Vorschulerziehung. Dass Kinder einen Sozialraum mit anderen Kindern benötigen, dass die Herausbildung der kognitiven Fähigkeiten der Kinder bereits ab dem 13. Lebensmonat einer stürmischen Entwicklung unterliegt, dass das Sprachzentrum mit zwei und drei Jahren extrem belastungsfähig ist, dass Motorik und Feinmotorik stimuliert werden müssen, all diese Dinge sind völlig unbestritten. Dennoch sind bei uns Kindertagesstätten und Krippen nach wie vor mit einem Stigma versehen. Das hat dazu geführt, dass wir zum Beispiel auf dem Gebiet der Plätze für die unter 3-Jährigen ungefähr auf einer Stufe mit Bulgarien und Griechenland stehen. Führend sind hier natürlich die Skandinavier, aber auch die USA sind weiter. Das Gesetz von 2007, bis zum Jahre 2013 die Krippenplätze auf 35 % Bedarfsdeckung auszubauen, wird unser Ranking zwar verbessern, aber noch lange nicht den Durchbruch bedeuten.
Ein Jahr vor Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz pfeifen es alle Spatzen von den Dächern: Das Ziel wird verfehlt werden. Zu langsam und zu zögerlich sind Gemeinden und Städte an die Aufgabe herangegangen. Nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil die Finanzierung nicht so reibungslos lief wie versprochen. Auch die Annahme, dass der Bedarf mit 35 % ausreichend gedeckt ist, wird sowohl vom Deutschen Städtetag als auch dem Deutschen Gemeinde- und Städtebund bestritten. Den Anteil der Familien, die auf das Angebot einer Betreuung ihrer Kinder unter dem 3. Lebensjahr angewiesen sind, schätzt man dort auf 60 % bis 65 %.
Nach all meinen Erfahrungen und den Urteilen der Erzieherinnen, der Lehrerinnen und
Lehrer wie der Vertreter der übrigen Professionen, die sich in einem Gebiet wie Neukölln um das Wohlergehen von Kindern kümmern, bin ich zu dem Ergebnis gelangt, dass wir um eine Kindergartenpflicht nicht herumkommen werden. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Leidensdruck so zunehmen wird, dass auch die heute bei der etablierten Politik noch bestehenden Hemmnisse werden weichen müssen.
Ich habe bewusst von den Widerständen der etablierten Politik gesprochen. Mir scheint es, als wäre der Bewusstseinsstand der Eltern viel weiter. Ich bin bei meinen Vorträgen quer durch die Republik noch nicht ein einziges Mal auf formulierten Widerspruch gegen eine Kindergartenpflicht gestoßen. Bei einer Online-Bürgerbefragung »Zukunft durch Bildung – Deutschland will’s wissen« von Roland Berger, der Bertelsmann Stiftung, BILD und Hürriyet mit 480 000 Teilnehmern haben sich 87 % für eine Kindergartenpflicht ausgesprochen. Übrigens, zwei Drittel der teilnehmenden türkischen Migranten haben ebenfalls eine Kindergartenpflicht verlangt. 67 % sind auch dafür, dass die Kindertagesstätten kostenlos sein sollen. Die Umfrage war nicht repräsentativ, weil die Teilnehmer nicht ausgewählt wurden, sondern über ihre Teilnahme im Internet selbst entschieden.
Im Grundsatz stimmt eine übergroße Mehrheit der Kindergartenpflicht dennoch zu. Einräumen muss ich, dass es zur Frage, ab welchem Lebensalter diese Pflicht gelten soll, unterschiedliche Einschätzungen gibt und dass ich etwa einer Minderheit von 10 % bis 15 % angehöre. Als verschriener Kita-Fanatiker trete ich für eine Besuchspflicht ab dem 13. Lebensmonat ein. Das hat etwas mit den erwähnten Entwicklungsstadien des Kindes zu tun, aber auch mit den generellen Gedanken einer Infrastruktur für Kinder und einer Erwerbstätigkeit der Frauen.
Ich erinnere an die Ausführungen zur demographischen Entwicklung und der zu geringen Geburtenrate in Deutschland von 1,4. Die Gewissheit, dass nach dem sehr engen Mutter-Kind-Beziehungsjahr der ersten zwölf Monate eine umfassende und gute Betreuung des Kindes zur Verfügung steht, würde mit Sicherheit dazu führen, dass auch beruflich erfolgreiche Frauen sich einen Kinderwunsch erfüllen. Welche Probleme Eltern heute haben, für ihr Kind unter drei einen Platz zu finden, wissen Sie vielleicht aus eigener Erfahrung oder aus Ihrem Bekanntenkreis. Oft scheitert der Versuch völlig. Manchmal hilft noch eine Tagesmutter. Berlin ist eine sehr komfortable Region in Sachen Krippenplatz. Trotzdem benötigen die Menschen mehrere Monate, um ihr Kind unterzubringen. Es ist keine Seltenheit, dass bereits Schwangere sich auf die Warteliste für einen heißumkämpften Kitaplatz im nächsten Jahr setzen lassen. Flexibilität hinsichtlich der Entfernung zur Wohnung oder zum Arbeitsplatz wäre auch nicht schlecht. Die Erwartungshaltung, eine Kindertagesstätte muss direkt vor der Tür sein, wird meist nicht befriedigt. Aus diesem Grund bleiben auch viele Einwandererkinder zu Hause.
Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die den Nutzen eines möglichst frühen und möglichst langen Kindertagesstättenbesuchs für die Entwicklung der Kinder bestätigen. Legen wir unseren Fokus auf die Einwandererkinder oder auch sonst sozial Benachteiligte, so verbessern sich deren Startchancen beim Schuleintritt deutlich, wenn sie vorher drei Jahre im Kindergarten waren. Interessant ist, dass sich bei einer Verweilzeit von nur einem Jahr keine nachweisbaren Verbesserungen ergeben. Hierbei handelt es sich um eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Wenn die Eltern keinen Bildungsabschluss haben und das Kind überhaupt nicht oder nur kurz in der Kindertagesstätte war, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es vom planmäßigen Schulstart zurückgestellt wird, bei 50 %.
Die Ergebnisse des DIW zeigen, dass ein Krippenbesuch die spätere Schulkarriere positiv beeinflusst. Dies wird durch die bereits erwähnten Untersuchungen der Bertelsmann Stiftung bestätigt. Den beeindruckendsten Bericht habe ich über ein Vorschulexperiment, das »Perry Preschool Project«, gelesen. Es wurde im Jahre 1962 begonnen. Man wählte damals 123 3- bis 4-jährige Kinder mit niedrigem IQ aus, die unter sozial schwierigen Bedingungen aufwuchsen. Sie kamen aus afroamerikanischen Elternhäusern. Die Eltern waren oft ohne Arbeit, und die Kinder lebten in unvollständigen Familien.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #40 on: November 04, 2012, 09:44:38 am »
58 Kinder wurden bis zum Schuleintritt täglich 2½ Stunden mit einem Programm, das dem in unseren Kindertagesstätten ähnelt, und einem 90-minütigen wöchentlichen Besuch der Erzieherin zu Hause betreut. Mit den anderen 65 Kindern geschah nichts, sie wurden nur regelmäßig beobachtet. Die Kinder von damals wurden im Alter von 40 Jahren abschließend befragt. Die Ergebnisse sind frappierend. Obwohl der Einfluss nur zwei Jahre im Kleinkindalter andauerte, waren die Erwachsenen lebenstüchtiger, intelligenter, mit einem höheren Schulabschluss versehen, verdienten mehr Geld, kamen seltener ins Gefängnis und hatten weniger Drogenprobleme als die nicht geförderten. Die Unterschiede betrugen bis zu 50 %. Ich kann die Ergebnisse dieser Langzeituntersuchung natürlich nicht bestätigen, ich war nicht dabei. Aber der amerikanische Nobelpreisträger James Heckman hat sie evaluiert und für belastbar erklärt. Also ein Plädoyer für die Kindertagesstätte als Bildungseinrichtung.
Ich will Ihnen auch nicht verschweigen, was ein leidenschaftlicher Gegner zu diesem Thema zu sagen hat. Der FOCUS-Online-Autor Alexander Kissler kam in einem Beitrag zu der Erkenntnis: »Brave Bürger züchtet sich der Staat desto leichter, je früher er ihrer habhaft wird. Schon das Kleinkind soll die Wonnen der Staatstreue auskosten. Erziehungs- und Bekenntnisfreiheit müssen hintan stehen. (…) Die Kita-Pflicht soll den Staatsbankrott verhindern. ›Alle Kinder‹ sollen durch Fremdbetreuung einen frühkindlichen Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten. Ihr Daseinszweck ist es, die ›Steuern und Sozialabgaben‹ der Eltern anwachsen zu lassen (…).« So etwas kann man in deutschen Politmagazinen lesen. Ist doch unterhaltend.
Dabei waren wir schon einmal viel weiter. Die SPD präsentierte 2005 einen radikalen Neuanfang in der Bildungspolitik. Für Kinder unter drei Jahren sollte ein flächendeckendes, ganztägiges und kostenloses Betreuungsangebot geschaffen werden. Und für die 3- bis 6-jährigen Kinder war eine verpflichtende und kostenfreie Ganztagsvorschule vorgesehen. Ab dem 6. Lebensjahr sollten alle Kinder eine ganztägige Gemeinschaftsschule besuchen. Die Auflösung des drei- bzw. viergliedrigen Schulsystems rundete die Vorschläge ab.
Natürlich kam von konservativer Seite sofort die Gegenwehr. Gleichmacherei und Zentralisierungswahn, hieß es da. Ganz ohne Wirkung blieben die Vorschläge der SPD aber anscheinend doch nicht. Die damalige Bundesfamilienministerin Dr. Ursula von der Leyen und die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Prof. Dr. Böhmer wiesen zwar den Gedanken an eine Kindergartenpflicht mit Abscheu von sich, erklärten aber in trauter Zweisamkeit, dass die Kindergartenbeiträge mittelfristig abgeschafft werden sollten.
Nun, an ihre eigenen Vorschläge erinnert sich die SPD heute nur noch ungern, und von kostenfreien Kindertagesstätten redet die CDU auch schon lange nicht mehr. Der Fortschritt für die Kinder war so nah und ist doch inzwischen wieder so fern. Heute setzen wir uns mit dem Rollback auseinander, Kinder gegen Geldprämie von der Kindertagesstätte fernzuhalten. Arme Kinder in Deutschland.
Mir ist schon bewusst, dass meine Radikalforderung nach der Kindertagesstättenpflicht ab dem 13. Lebensmonat wohl noch einige Zeit, eine sehr lange Zeit, benötigen wird, um sich durchzusetzen. Vielleicht schafft sie es auch nie. Generationen von Müttern werden ihr dann nachtrauern. Von den Gegnern einer Kindertagesstättenpflicht werden immer zwei Argumente ins Feld geführt. Zum einen würde sie gegen die Verfassung verstoßen, und zum anderen wäre es ein Generalverdacht gegen alle Eltern, sie könnten ihre Kinder nicht vernünftig erziehen. Beides ist Quatsch.
Artikel 6 unseres Grundgesetzes formuliert das Elternrecht wie folgt: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.« Der zweite Satz wird meist schamhaft verschwiegen. Er postuliert nämlich ein staatliches Wächteramt über unsere Kinder. Ich kann auch nicht nachvollziehen, wieso eine Kindertagesstättenpflicht das Grundrecht auf Pflege und Erziehung aushebeln sollte. So eine Verpflichtung bedeutet mitnichten automatisch eine Ganztagsbetreuung
Montag bis Freitag von morgens bis abends. Auch zwei- oder dreimal vier Stunden die Woche kann diese Pflicht beinhalten. Das wäre dann eine Kopie der früheren Mini-Clubs der Kirchengemeinden.
Schon vor Jahrzehnten haben Eltern im Bildungsbürgertum völlig zu Recht erkannt, dass die Kleinfamilie Kindern den Erfahrungsraum unter Gleichaltrigen geraubt hat. Eine ganze Sozialisationsebene ist weggebrochen. Deshalb schuf man die Mini-Clubs. Das hatte mit Jugendhilfe und Erwerbstätigkeit überhaupt nichts zu tun. Durch einen Teilzeitaufenthalt in der Kindertagesstätte das Grundrecht in Gefahr zu sehen ist einfach albern. Aber selbst bei einem Ganztagsbesuch steht das Erziehungsrecht der Eltern überhaupt nicht in Frage. Keine noch so gut ausgebildete Erzieherin vermag es, in das Beziehungsgeflecht und die engen emotionalen Bindungen zwischen Kindern und ihren Eltern einzudringen. Wenn immer wieder die sozialistische Einheitserziehung beschworen wird, dann dient das nur dazu, Eltern zu verschrecken, so, wie man Kindern Angst einjagt, indem man ihnen von dem bösen Schwarzen Mann erzählt.
Auch die Schule greift in das Bestimmungsrecht der Eltern ein. Schule ist staatlich angeordnete Freiheitsberaubung. Warum darf der Staat das, sobald das Kind fünfeinhalb oder sechs Jahre alt ist, mit 3-Jährigen aber nicht? Seit wann hängt ein Grundrecht vom Lebensalter ab? Zu guter Letzt, auch Grundrechtsartikel kann man ändern. Das ist eine Frage politischer Mehrheiten. Nicht mehr und nicht weniger. Eines will ich zu bedenken geben. Eine Pflicht für den Einzelnen bedeutet für die Gesellschaft auch immer eine Verpflichtung, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Einzelne diese Pflicht erfüllen kann. Nämlich die Plätze zur Verfügung zu stellen und für Kostenfreiheit zu sorgen. Mir wird immer gesagt, wir brauchen keine Kindertagesstättenpflicht, weil doch ohnehin schon alle hingehen. Das stimmt zwar nicht, aber mal angenommen, es wäre so: Dann können wir es ja erst recht machen. Es dürfte dann niemanden stören.
Bis wir an dieser Stelle einen Schritt weiter kommen, wird es wohl so bleiben, dass die Kinder des Bürgertums wie selbstverständlich in den Kindergarten gehen und die, die es am nötigsten hätten, ihrem Schicksal überlassen bleiben. Eine Gesellschaft muss sich immer daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Das sind nun einmal die Kinder. Es ist unsere Pflicht, nach ihnen zu schauen und uns auch um sie zu kümmern, wenn die Eltern es nicht ausreichend können oder wollen. Kinder sind eigenständige Lebewesen und keine Sache im persönlichen Eigentum ihrer Erzeuger. Deshalb müssen wir unser Wächteramt eben anders wahrnehmen als bisher. Nicht erst im Konfliktfall eingreifen und versuchen zu reparieren, was dann meist gar nicht mehr zu reparieren ist. Sondern vorher, präventiv, leitend und begleitend, helfend und fördernd. Eine Bekannte von mir hat sich nach Schottland verheiratet und bekam dort eine Tochter. Über eineinhalb Jahre erschien in den schottischen Highlands engmaschig eine Sozialarbeiterin und schaute nach dem Kind. Beide Elternteile sind Akademiker und fanden das völlig normal. Ich stelle mir das in Deutschland vor. Oder lieber nicht?
An die Vorschulerziehung schließt sich konsequenterweise die Schule nahtlos an. Unser Schulsystem hat es bis heute nicht geschafft, zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich bei der Schule in vielen Teilen des Landes nicht mehr nur um ein Institut der Wissensvermittlung handelt, sondern dass ihr auch die Rolle einer Integrationsinstanz zugewachsen ist. Sie muss bei vielen jungen Menschen insbesondere aus dem Einwanderermilieu die Aufgaben des Elternhauses mit übernehmen, weil das beschriebene Dreieck hier nicht funktioniert. Die Vertiefung des Lehrstoffs, also die Übungs- und Trainingsphase, die Erziehung im Sozialverhalten, das Vermitteln von Umgangsformen, Benehmen und die Akzeptanz von Normen, all das sind Dinge, die über die klassische Aufgabenstellung der Schule natürlich hinausgehen. Bei vielen unserer Kinder ist die Schule aber auch Elternersatz. Da reicht die Einflusssphäre der klassischen deutschen Halbtagsschule bei weitem nicht aus. Gerade in diesen Verhältnissen heißt Schulschluss um 13.30 Uhr Fernsehen ab 13.45 Uhr. Das klingt barsch, ist aber leider nicht aus der Luft gegriffen.
Die meisten europäischen Länder kennen eine Halbtagsschule überhaupt nicht. Schule ist
fast immer ganztags. Auch bei uns sind Privatschulen für viel Geld natürlich Ganztagsschulen. Langes, gemeinsames Lernen heißt die Zauberformel. Alle Studien, die ich zu diesem Thema kenne, kommen zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die Ganztagsschule der Teilzeitschule in allen Belangen überlegen ist. Das Aggressionspotential der Schüler ist niedriger, ihr Sozialverhalten verbessert sich, aber am überzeugendsten sind die Leistungswerte. Der Anteil der Klassenwiederholer, auf Deutsch Sitzenbleiber, beträgt bei der Teilnahme am offenen Ganztagsbetrieb lediglich 2,4 %. In gebundenen Ganztagsschulen sogar nur 1,4 %. Im Vergleich dazu beträgt ihr durchschnittlicher Anteil bei traditionellen Schulen mit 8,4 % das Sechsfache des Wertes der gebundenen Ganztagsschulen. Beim Sozialverhalten wurde speziell die Phase der Pubertät betrachtet. Das Störverhalten der Jugendlichen wird beim Ganztagsbetrieb als dezenter beschrieben, und fast 13 % der Schüler gaben an, dass sich, seit sie eine Ganztagsschule besuchen, ihr Verhältnis zu den Eltern verbessert hat. Ich stütze mich dabei auf Erkenntnisse, die vier Forschungsinstitute im Auftrag des Bundesbildungsministeriums erarbeitet haben.
Ich spreche mich also für einen weiteren Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland aus. Die erste Programmphase startete unter der rot-grünen Bundesregierung und war eine Antwort auf den Pisa-Schock. Von 2003 bis 2009 wurden vier Milliarden Euro investiert, um gut 7000 Schulen auf Ganztagsbetrieb umzustellen. Von den bundesweit rund 35 000 allgemeinbildenden Schulen hatten 2009 etwa 12 000 Schulen einen Ganztagsbetrieb. Also ein gutes Drittel. Leider hat sich die jetzige Bundesregierung entschlossen, nicht weiter in die Ganztagsschulen zu investieren. Auf die Frage, ob sie das Programm fortführen möchte, antwortete die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Prof. Dr. Schavan: »Nein, gebaut ist jetzt genug.«
Zum Thema Ganztagsschulen muss man noch wissen, dass es zwei Formen dieser Schulorganisation gibt. Die offene Ganztagsschule und die gebundene. Die offene Form bietet Nachmittagsangebote, die freiwillig wahrgenommen werden können und eventuell auch kostenpflichtig sind (Hortbetreuung). Also, normale Grundschule plus Hort gleich Ganztagsschule. Diese Formel streut Sand in die Augen. So schmückt sich das Land Berlin damit, dass über 83 % der allgemeinbildenden Schulen Ganztagsschulen seien. Richtig ist jedoch, dass noch nicht einmal 20 % der Berliner Grundschulen die gebundene Ganztagsbetreuung anbieten und bei den Sekundarschulen knapp die Hälfte. Auch trifft es nicht zu, dass jede Schule selbst entscheiden kann, ob sie offenen oder gebundenen Ganztagsbetrieb anbieten will, und die Verwaltung je nach Entscheidung das Personal servicemäßig bereitstellt. Richtig ist vielmehr, dass eine Genehmigung erforderlich ist, die versagt werden kann und auch versagt wird. Es lässt sich bei diesem Thema gut deutlich machen, wie verwirrend Informationen gestreut werden. Nur Insider sind noch in der Lage, die tatsächlichen Sachverhalte zu durchblicken. Dass es noch ein weiter Weg bis zur flächendeckenden Versorgung mit gebundenen, also echten Ganztagsschulen ist, sieht man auch daran, dass in Neukölln gerade einmal 28 % aller Grundschüler in einer solchen Einrichtung betreut werden.
In diesen Schulen ist die Betreuungszeit bis 16.00 Uhr für alle Pflicht, und sie ist natürlich kostenlos. Es wird niemanden verwundern, dass ich mich konsequent für den gebundenen Ganztagsunterricht ausspreche und alle kleineren oder größeren Schummeleien (das Angebot geht nur bis 15.00 Uhr, der verlängerte Betrieb ist nur an einigen Tagen eingerichtet) als Etikettenschwindel ablehne. Ganztagsschule heißt aber nicht ganztags pauken. Dann würden die Schüler schnell die Lust verlieren. Gefordert ist ein Konzept zum Wechsel zwischen Unterricht und Freizeit (außerunterrichtliche Aktivitäten). Eigentlich gehören ein Freizeitgebäude und eine Mensa zur selbstverständlichen Ausstattung.
Wer für Ganztagsschule ist, der ist bei der CDU/CSU falsch. Die SPD hält hier nach wie vor die Fahne hoch. An dieser Stelle ist sie noch nicht eingeknickt wie bei den Kindertagesstätten. Erst 2011 hat die SPD ein Programm vorgelegt, in dem sie 7000 neue Ganztagsschulen bis 2015 verspricht. Bis zum Jahr 2020 sollen dann alle übrigen Schulen zu Ganztagsschulen erweitert werden mit dem Ziel, einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Ganztagsschule zu schaffen.
Wie sollte es anders sein – natürlich gibt es auch Widerstände gegen die Umstellung aller Schulen auf einen Ganztagsregelbetrieb. Sie kommen erwartungsgemäß aus dem bürgerlichen Lager. In der Theorie sind wir uns ja immer alle sehr schnell einig. »Überwindung sozialer Schranken, Chancengleichheit für alle und langes, gemeinsames Lernen«, so lauten dann immer die Fanfarenstöße. Viele denken aber noch einen Halbsatz hinzu, der da lautet: »… aber natürlich nicht mit meinem Kind.« Ich erinnere an das Fiasko der Verlängerung der Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre in Hamburg. Da haben die Häuser mit dem Blick auf die Elbe einmal gezeigt, wie das so ist mit der Übereinstimmung von Reden und Handeln.
Der Vollständigkeit halber erwähne ich, dass bei der bereits zitierten Online-Umfrage von Berger/Bertelsmann 81 % der Befragten für die Ganztagsschule votiert haben. 42 % als Pflicht und 38 % als freiwilliges Angebot.
Das hört sich alles gut an, weist nach vorne, und jedes Auditorium nickt beifällig. Wir sollten aber nicht vergessen, dass auch Lehrer mitunter den Drang verspüren, den Weg des Wassers zu wählen. Es ist ein Irrglaube, davon auszugehen, dass alle Kollegien Jubelschreie bei dem Angebot ausstoßen, eine Ganztagsschule zu werden. Erst im Jahr 2012 hatte ich das Erlebnis, dass ein Kollegium die Idee wenig prickelnd fand. Arbeitszeit bis 16.00 Uhr? Igitt, igitt! Außerdem kenne man viele Eltern in der Umgebung, die gar keine Ganztagsschule wünschten. Deshalb trete man für Angebotsvielfalt ein. Bla, bla, möchte man nur sagen. Die zuständige Schulaufsicht erklärte daraufhin, gegen den Willen des Kollegiums, ja, da könne sie auch nichts machen. Ein schönes Beispiel dafür, wie Theorie und Praxis auseinanderklaffen.
Die Schulorganisation ist sicherlich das eine, aber die Binnenstruktur ist der andere Baustein, der zu einem verbesserten Output führen muss. Auch an dieser Stelle leben wir immer noch mit dem Aufbau von vor Jahrzehnten. Es gibt Lehrer, eine Leitung, einen Schulrat als Aufsicht und ein Bildungsministerium. Und alles schön hierarchisch von oben nach unten organisiert. Dieser Zentralismus führt natürlich dazu, dass die Dinge nach Schema F beurteilt und gestaltet werden. Schule ist Schule. Nein, ist sie eben nicht! Auch Schule muss sich anpassen. In gutbürgerlichen Bezirken heißt der Gegner Wohlstandsverwahrlosung, und die Schulleitung muss sich mit der Klage von Vati Rechtsanwalt gegen die 4 minus in der Physikarbeit herumschlagen. Bei mir in Neukölln heißt der Gegner in vielen Fällen Bildungswüstenei und Asozialität. Beide Formen erfordern unterschiedliche Reaktionen. Persönlichen Vulgärattacken muss man anders begegnen als akademischer Schaumschlägerei.
»Bildungseinrichtungen in Stadtteilen mit besonderem Handlungsbedarf bedürfen einer besonderen Ausstattung – materiell und personell. Neben Schulsozialarbeit und Ergänzungsdeputaten ist es hier zwingend erforderlich, zügig Ganztagsangebote vorzuhalten«, so schreibt es der Regierende Bürgermeister. Darunter verstehe ich, dass eben Schule im sozialen Brennpunkt nicht gleich Schule in der Schlafstadt ist. Die besten Lehrer, so sagt man immer wieder, sollen zu uns nach Neukölln. Und die Schulen sollen die besten Profile haben, um das Wegziehen der Eltern zu verhindern. Und die Realität? Nach wie vor zwangsversetzte Lehrer, unbesetzte Schulleiterstellen, Burnout und innere Emigration in den Kollegien. Eine Folge davon ist, dass in den Neuköllner Grundschulen knapp 60 % und in den integrierten Sekundarschulen knapp 30 % des Deutsch- und Mathematikunterrichts nicht fachgerecht vermittelt werden. Das ist mitunter aufgrund verschiedener Gegebenheiten durchaus auch gewollt, aber in den genannten Größenordnungen natürlich nicht. In den Gymnasien liegt der Anteil bei unter 5 %. Als Zeichen der gerade zitierten »besonderen Ausstattung« möchte ich nicht vergessen zu erwähnen, dass im aktuellen Schuljahr 2012/2013 in 23 Neuköllner Schulen rund 410 Stunden für Förderunterricht und Klassenteilungen, nein, nicht etwa zusätzlich bewilligt, sondern gestrichen wurden.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #41 on: November 04, 2012, 09:45:52 am »
So kann man den Teufelskreis nicht durchbrechen. Schulen in sozialen Ausnahmegebieten müssen freier werden, müssen individueller handeln können, und sie müssen sich vor allen Dingen ihr Personal selbst aussuchen dürfen. In London geht das, müsste dann doch eigentlich auch bei uns
gehen. Ich weiß: das Beamtenrecht, der personelle Überhang, der untergebracht werden muss, der Personalrat, die Kosten, das Schulverfassungsgesetz und so weiter und so weiter und so weiter.
Nein, die Schulen müssen weg von der Gängelei durch mittelmäßige Schulaufsichtsbeamte. Sie müssen in der Lage sein, sich ihr Kollegium direkt von der Uni zu holen. Warum kann es nicht verpflichtend sein, dass junge Lehrer nach ihrem Studium einen gewissen Zeitraum von zum Beispiel zwei Jahren in einem sozialen Brennpunkt tätig sein müssen? Die Arbeit in schwierigen Gebieten muss einen Punktevorteil geben beim Auswahlverfahren für spätere andere Aufgaben. Zulagen für die Arbeit in Brennpunkten. Reduzierung der Unterrichtsverpflichtung, abgesenkte Klassenfrequenzen, eigene Budgetverantwortung. Das alles sind Vorschläge, die die Schullandschaft verändern würden. Genauso wie erweiterte Kompetenzen der Schulleitungen. In finanzieller Hinsicht, aber auch in disziplinarischer. Ich weiß, dass alle diese Vorschläge Stirnrunzeln hervorrufen. Bestimmt ist auch einiges schwierig wie die Ablösung einer Schulleitung durch das Kollegium. Aber ich weiß genauso, dass wir mit einem »Weiter so wie bisher« mit Vollgas an die Wand fahren. Wir brauchen andere Schulen: autark, interdisziplinär und visionär.
Ich befinde mich mit der Fokussierung auf »Stärkung der Schulen vor Ort« übrigens in guter Gesellschaft mit der Robert-Bosch-Stiftung. In deren Studie über die Bildungsreformen in New York und Berlin wird festgestellt, dass beide Städte vor vergleichbaren Herausforderungen stehen, die am Hudson River aber der an der Spree bei so wichtigen Reformen wie Schulautonomie, Leistungsverantwortung und Ausbau von Führungskompetenzen zehn Jahre voraus ist. In New York wird die Stärkung der schulischen Eigenverantwortung als ein wesentlicher Baustein für einen »Schul-Turnaround« gesehen, also das Umdrehen einer schwierigen Schule. Dementsprechend haben die New Yorker Einrichtungen weitreichende Freiheiten in Finanz- und Personalangelegenheiten. Die Stiftung und der Berliner Senat wollen nun gemeinsam ein »Programm für Schulen in kritischen Lagen« initiieren. Ob wir davon Honig saugen können, kann ich natürlich noch nicht beurteilen. Ich kenne das Programm ja noch gar nicht. Aber die Hoffnung, dass der Knoten platzt und unsere Schulen fit gemacht werden für ihre Aufgabe als Integrationsinstanz, stirbt bekanntlich zuletzt. Vielleicht sind London und New York ja gute Paten, und die Landesschulverwaltung in Berlin hört endlich auf damit, vom grünen Tisch aus in jede Schule, ja, bis in jede Klasse hineinzuregieren und zu glauben, die Zusammensetzung der Schüler bestimmen zu müssen. Von Schulautonomie, Eigenverantwortung und Kompetenzzuweisung für die einzelnen Schulleitungen sind wir hier heute weiter entfernt als früher – trotz weiter Reisen wichtiger Personen.
Im Zusammenhang mit der Frage, wie Schulen auf die Verhältnisse umzustellen sind, wird auch immer wieder die Begrenzung des Anteils an Einwandererkindern vorgeschlagen. Da die Schüler aber nun einmal da leben, wo sie leben, ist ihre Zuordnung zur Schule nicht beliebig gestaltbar. »Bussing« heißt der dann sofort ins Spiel gebrachte Begriff. Er bedeutet, dass die Kinder in andere Stadtgebiete zur Schule gefahren werden, um eine Durchmischung zu erreichen. Da es aber keine leeren Schulen gibt, müsste in dem anderen Stadtgebiet ein Teil der dortigen Kinder ihre Schulplätze für die Neuköllner freimachen und ihrerseits nach Neukölln gebracht werden. Organisatorisch ist das leistbar, finanziell auch. Ob es sich allerdings auch politisch durchsetzen ließe, da habe ich so meine Bedenken, wenn ich an die gescheiterte Grundschulreform in Hamburg oder meine aus Neukölln weggezogenen Eltern denke. Irgendwie ist die Vision amüsant. Uns entfliehen Eltern, und wir bringen ihre Kinder mit dem Bus wieder nach Neukölln. Ich glaube, so ein Modell umzusetzen ist schwieriger, als die Kindertagesstättenpflicht einzuführen. Trotzdem hält sich der Vorschlag seit vielen Jahren.
Das Thema Schuluniformen ist ebenso ein Dauerbrenner. Fällt aber in Deutschland in die Kategorie »Man könnte, man sollte, man müsste«. In anderen Ländern klappt das reibungslos, bei uns kommt es in den Schulen über Diskussionsabende nicht hinaus. Wir haben es in Neukölln unseren Schulen freigestellt, Schuluniformen einzuführen. Davon Gebrauch gemacht hat bisher
noch keine. Für Zwang mit der Folge endloser Auseinandersetzungen wiederum ist die Frage nicht bedeutend genug. Ich persönlich fände es aber durchaus sinnvoll und identitätsstiftend. Der ständige Wettkampf, wer welche Klamotten anhat, würde aufhören. Und es wäre allemal hübscher als kleine Mädchen mit Kopftüchern schon in der Grundschule. Eine Schulleiterin hat mir so nebenbei erzählt, dass ihr Versuch, das Tragen von Kopftüchern in ihrer Grundschule zu unterbinden, mit einer unverblümten Morddrohung quittiert wurde.
Kindertagesstätten und Schulen sind die beiden Instanzen der Gesellschaft und des Staates, die besonders dicht an den Menschen sind. Wir nutzen sie aber nicht ihrer Bedeutung entsprechend. Ich halte das für einen Fehler, einen sehr schweren Fehler. Natürlich kosten alle von mir angesprochenen Veränderungen Geld. Aber die öffentliche Infrastruktur kostet immer Geld. Wir haben mit dem Albert-Schweitzer-Gymnasium und der Rütli-Schule den Beweis erbracht, dass wir auch junge Leute ins Boot holen können, denen es nicht in die Wiege gelegt ist. Die Gymnasiasten im Albert-Einstein-Gymnasium, Bio-Deutsche wie Einwandererkinder, sie finden ihren Weg sicher alleine. Falls nicht, helfen Papa und Mama. Dort sind schon tolle Mädels und Jungs. Und es macht richtig Spaß, sie zu beobachten und ihre Leistungen zu bewundern. Um sie muss niemandem bange sein. Aber wenn wir die Rohdiamanten bei Rütli oder in der Albert-Schweitzer-Schule begeistert und zu funkelnden Brillanten geschliffen haben, dann entfalten sie das gleiche Feuer. Es geht. Was wir brauchen, ist ein echter Veränderungswille und eine Aufbruchstimmung.
Zum Schuljahreswechsel 2012/2013 konnte zum Beispiel die Rütli-Schule 30 % Neuanmeldungen von bio-deutschen Eltern verzeichnen. Noch vor kurzem hätte man jemanden, der einen solchen Wert für möglich gehalten hätte, ausgelacht. An anderen Schulen ist das noch immer so. Auf Nachfrage erklärten mir andere, ebenfalls in Nord-Neukölln beheimatete Grundschulen, dass im Extremfall nicht eines der Kinder aus deutschen Familien, die im Einzugsgebiet der Schule wohnen, bei ihnen angekommen ist. Es ist offenkundig, dass Veränderungen, Engagement und ein neues Profil in der Bewohnerschaft sehr wohl zur Kenntnis genommen werden und eine positive Resonanz erfahren. Hieraus kann und muss man die Lehre ziehen, dass die Stadtviertel der Segregation, die wir soziale Brennpunkte nennen, nicht alleingelassen werden dürfen. Wer dies tut, versündigt sich an den Menschen, die dort leben. Er betrügt die nächste Generation um ihre Lebenschancen, er erhöht die Soziallasten, füllt die Gefängnisse und spaltet die Gesellschaft. Man kann individuell diesen Vierteln durch Fortzug entfliehen, den gesellschaftlichen Folgen entgeht man dadurch allerdings nicht.
Ich kann und will Ihnen hierzu allerdings nicht die Information ersparen, dass 80 % der Teilnehmer an der schon mehrfach zitierten Online-Studie den Reformwillen der Bildungspolitiker als gering oder sehr gering einschätzen. Ein Vertrauensbonus sieht anders aus. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass 92 % der Teilnehmer an derselben Studie für einheitliche Lehrpläne in allen Bundesländern sind. Wie erwähnt, gilt diese Studie als nicht repräsentativ. Doch auch einer Forsa-Umfrage zufolge wünschen sich 91 % aller Eltern, dass die Verantwortung für die Schulen ihrer Landesregierung aus der Hand genommen wird – und auf die nationale Ebene kommt. Offensichtlich sind es die Menschen leid, dass nach jeder Landtagswahl das Schulwesen bei den Koalitionsverhandlungen zum Gegenstand von Sandkastenspielen der Parteiarbeitsgruppen wird.
Nach der vorschulischen Erziehung in der Kindertagesstätte und der Epoche der Wissensaneignung in der Schule folgt mit der Berufsausbildung die nächste Weichenstellung. Ich erinnere daran, dass 28 % aller Neuköllner Hartz-IV-Empfänger über keinen Schulabschluss verfügen und 67 % über keine Berufsausbildung. Konsequenterweise hat sich die Bundesregierung mit den Regierungschefs der Bundesländer in der »Qualifizierungsinitiative für Deutschland« 2008 das Ziel gesteckt, die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss bis zum Jahr 2015 auf 4 % im Bundesdurchschnitt zu halbieren und dies gleichermaßen bei den ausbildungsfähigen jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluss von 17 % auf 8,5 % zu erreichen.
Es sind nur noch zweieinhalb Jahre Zeit. Im Jahr 2010 haben 6,5 % der Schüler keinen
Abschluss erreicht (Ausländer 12,8 %). Der Anteil der Migranten im Alter von 25 bis unter 35 Jahren ohne Berufs- oder sonstigen Abschluss betrug rund 32 %. Ohne Migrationshintergrund waren es rund 9 %. Diese Werte noch einmal zur Wiederholung aus dem bereits zitierten Bericht der Bundesregierung. Der Anteil der Einwandererkinder, die in Neukölln ohne Abschluss die Schule verlassen haben, betrug im Jahre 2006 erschütternde 22 %, die sich bis 2011 auf 18 % vermindert haben. Die Berliner Werte liegen im gleichen Zeitraum mit 18 % und 14 % zwar etwas niedriger, aber immer noch weit vom Bundesdurchschnitt entfernt. Von den Zielwerten ganz zu schweigen.
Für Neukölln bedeuten die Prozentwerte in absoluten Zahlen ohne Differenzierung nach Herkunft rund 350 Schüler pro Jahrgang ohne Schulabschluss. Hinzu kommen etwa 700 Schüler mit Hauptschulabschluss, so dass allein in Neukölln gut 1000 von etwa 2500 junge Menschen jedes Jahr in ein Berufsleben entlassen werden, dessen Start mindestens mit Schwierigkeiten behaftet ist, ja für viele nicht stattfinden wird.
Aufgrund der demographischen Entwicklung gleichen sich die Ausbildungsplatzangebote und die Bewerberzahl immer mehr an. In Brandenburg gab es 2011 bereits mehr unbesetzte Plätze in Betrieben als junge Leute, die einen Ausbildungsplatz suchen. Ende September 2011 registrierte die Bundesagentur für Arbeit bundesweit 30 000 offene Ausbildungsplätze für 12 000 unversorgte Bewerber. In Berlin ist die Nachfragesituation bisher nicht gekippt. In der Schlussphase für das neue Ausbildungsjahr 2012 standen noch 5000 Angebote für 7500 Bewerber zur Verfügung.
Im Juli 2012 bewarben die Industrie- und Handelskammer (IHK) und Handwerkskammer (HWK) 1500 freie Ausbildungsplätze mit intensiver Öffentlichkeitsarbeit. Die HWK bot sogar eine App an. Trotzdem konnten nur 350 Plätze besetzt werden. Der alljährlich letzte Versuch, Ausbildungswillige mit einer Anschreibe-Aktion doch noch zu erreichen, steht für 2012 noch aus. Allerdings stimmen die Ergebnisse aus den Vorjahren nicht überbordend optimistisch.
Im Jahr 2011 wurden bei der Last-minute-Aktion 1300 Suchende wie alljährlich angeschrieben. Es kam gut ein Viertel. Das war kein Novum, sondern entsprach den Erfahrungen vergangener Jahre. 2009 konnten bei der Nachvermittlungsaktion von IHK und HWK für 2000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz mangels Masse an Interessenten nur 60 Ausbildungsverträge geschlossen werden.
Die Fachwelt geht davon aus, dass inzwischen jeder fünfte Ausbildungsplatz unbesetzt bleibt. Dabei suchen die Unternehmen nicht den Super-Azubi. Deutschlandweit organisiert bereits jedes zweite Unternehmen eine betriebliche Nachhilfe, in Berlin sind es sogar über 60 %. Auch die Neuköllner Verwaltung hat sich mit einem Projekt »Zweite Chance« an bis dato gescheiterte junge Leute mit Migrationshintergrund gewandt. Wie im Kapitel »Das System Neukölln« geschildert, sind wir gescheitert. Die Defizite in den sozialen Grundkompetenzen waren einfach zu groß. Über solche Erfahrungen berichten mir immer wieder auch die Neuköllner Betriebe einschließlich der türkischen Friseurmeisterin und des arabischen Bäckermeisters. Es gibt in Neukölln freie Ausbildungsplätze. Dass jemand keinen Ausbildungsplatz erhält, kann sein. Es liegt dann aber nicht daran, dass es keine freien Plätze gäbe. Im Übrigen hat der Schlamper- und Unlustvirus längst auf viele junge Leute ohne Migrationshintergrund übergegriffen.
Man muss zu diesem Themenkreis noch wissen, dass ein erheblicher Teil der Ausbildungsverhältnisse vorzeitig wieder gelöst wird. In Berlin sind das immerhin 27 %. Alles in allem ist davon auszugehen, dass in Deutschland jedes Jahr 150 000 Jugendliche ohne Ausbildungsabschluss bleiben, obwohl ein großer Anteil von ihnen sogar über einen Realschulabschluss verfügt. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat einmal errechnet, dass die Kosten für einen so hohen Anteil junger Menschen ohne Ausbildung sich auf 1,5 Milliarden Euro pro Jahrgang summieren. Das bedeutet, wenn wir zehn Jahre lang weiter zusehen, wie junge Leute an der Hürde zum Berufsleben scheitern, dann haben wir das Sozialsystem allein dadurch um weitere 15 Milliarden Euro »bereichert«.
Ich habe ja schon berichtet, welche Konsequenzen man in den Niederlanden aus einer
vergleichbaren Situation gezogen hat. Zum einen werden Berufsbilder geschaffen, die speziell auf die Jugendlichen mit Handicap zugeschnitten sind. Sie haben eine kürzere Ausbildungsdauer und verlangen ein geringeres Einstiegswissen. Zum anderen werden alle arbeits- und ausbildungslosen Jugendlichen vom Arbeitsamt ständig in sogenannten Speedmeetings mit Angeboten von Arbeitgebern konfrontiert. Ungefähr 200 junge Leute wandern im Dreiminutentakt von Tisch zu Tisch. Hinter jedem Tisch sitzt ein Arbeitgeber, der eine Beschäftigungsmöglichkeit anbietet. Man wird sich schnell einig oder nicht. Auch hier gilt die bekannte Regel: Erscheinen die jungen Leute zu diesen Speedmeetings nicht, ist die Sozialhilfe futsch. Eine derart enge Führung könnte man bei uns genauso organisieren. Wir hatten in Neukölln vor Jahren ein Jobcenter nur für unter 25-Jährige eingerichtet. Dies führte dazu, dass die Leine kürzer wurde. Nicht alle jungen Kunden fanden das positiv. Wir störten ihren gewohnten Tagesablauf. Einige verabschiedeten sich freiwillig aus dem Leistungsbezug.
Außer mit dem Jugend-Jobcenter haben wir mit einer allgemeinen Filiale in einem Wohnblock experimentiert. Auch das hat sich als Erfolg herausgestellt. Die Aufhebung der Anonymität, der direkte Kontakt, die entstehende soziale Kontrolle durch die stärkere Nähe und Bekanntschaft führen dazu, dass viele Hartz-IV-Empfänger sich doch in die Verantwortung nehmen lassen. Es gibt auch die, die eigene Lösungen zum Bestreiten des Lebensunterhalts finden und sich auf Nimmerwiedersehen aus der liebevollen Umarmung des Jobcenters lösen. Insbesondere bei den »marktfernen« Kunden konnte die Jobcenter-Filiale fast bessere Ergebnisse erzielen als das Haupthaus.
Ich plädiere für kleinteilige Vor-Ort-Jobcenter. Im IT-Zeitalter dürfte das technisch kein Problem sein. Die Kunden unter 25 Jahren sollten aus dem allgemeinen Betrieb ausgegliedert und einer besonderen Organisationseinheit mit speziellen Betreuungsformen zugeführt werden. Wenn es dann noch gelingt, die Ausbildungsbereitschaft in der ethnischen Ökonomie zu steigern, dann sehe ich gute Chancen, ein Stück Perspektivlosigkeit gerade bei Einwandererkindern zu beseitigen. In Deutschland gibt es etwa 300 000 migrantische Unternehmen mit rund 1,5 Millionen Arbeitsplätzen. Davon allein 80 000 türkische Selbständige mit 400 000 Beschäftigten und einem jährlichen Umsatz von 34 Milliarden Euro. Bei der Ausbildung hapert es jedoch. Sie kostet Geld und macht Mühe. Davor scheinen sich migrantische Unternehmer gern zu drücken. Ich kann schwer beurteilen, ob die Verbände und Kammern nicht doch den Druck auf ihre Mitglieder in diese Richtung erhöhen könnten und sollten.
In diesem Zusammenhang sollte man auch über eine Wirtschaftsförderung für soziale Brennpunkte nachdenken. Ein ähnliches Instrument hatten wir früher mit der Zonenrandförderung. Denkbar wäre aus meiner Sicht, Unternehmen steuerlich zu begünstigen, die in sozialen Brennpunkten Arbeitsplätze, aber vor allem Ausbildungsplätze schaffen und besetzen.
Ein Thema, das immer wieder zu leidenschaftlichen Diskussionen und Gefühlsausbrüchen führt, ist die Frage der Anwendung von Ordnungs- und Sanktionsprinzipien in der Integrationspolitik. Die Formulierung einer Berliner SPD-Abgeordneten ist dafür symptomatisch: »Dass man Eltern in die Pflicht nimmt, finde ich ok. Sanktionen, vor allem finanzielle, sind aber nicht der richtige Weg.« Ich stehe immer etwas ratlos vor solchen Sprechblasen. Wie soll ich jemanden, der sich verweigert, in die Pflicht nehmen, ohne Sanktionen anzuwenden?
Warum gilt das, was die Gesellschaft mit mir und Millionen anderer Menschen tagtäglich macht, für Einwanderer plötzlich nicht? Nämlich regelkonformes Verhalten durch die Androhung von Sanktionen zu stimulieren. Unser gesamtes tägliches Leben ist ohne »Wenn-Dann«-Situationen überhaupt nicht denkbar. Wenn du dieses oder jenes tust, dann droht dir Folgendes! Wenn du das und das nicht machst, dann musst du blechen! Selbst wenn mir das Statistische Landesamt einen Fragebogen schickt, wird die Aufforderung mit einer Bußgeldandrohung garniert, nur so für den Fall, dass ich den Bogen nicht zurücksende. Jeder einzelne von uns kann Dutzende von Beispielen aufzählen, bei denen der Staat eine vorgetragene Bitte mit dem Hinweis auf die Gehorsamspflicht
beziehungsweise die drohende Sanktionskeule verbindet. Das falsche Abstellen eines Autos ist bei uns geächteter und hat spürbarere Konsequenzen als zum Beispiel die Nichtwahrnehmung der Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 der Kinder. Letztere trauen wir uns nicht einmal zu Pflichtveranstaltungen für Eltern zu erklären. Die Maßstäbe in unserem Land sind nicht für jeden verständlich. Verstehen Sie sie?

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #42 on: November 04, 2012, 09:47:10 am »
Lassen Sie mich bei dem Beispiel bleiben. Es wird ein gutes Gesetz im Rahmen des Kinderschutzes erlassen, mit dem die Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht werden. Das Gesetz enthält aber bewusst keine Klausel einer Bußgeldandrohung – mehr käme hier sowieso nicht in Frage –, falls Eltern diese Pflicht verletzen. Also wie immer: Musste nicht machen, passiert sowieso nix. Die Teilnahme am Sprachunterricht für Vorschüler ist erst vor kurzem dem Schulbesuch gleichgestellt worden. Und damit wurde das Nichterscheinen des Sohnes oder der Tochter in den Bußgeldkatalog aufgenommen. Vorher war es auch beliebig. Ich erinnere an meine Ausführungen zu den Eltern, die freiwillig keinerlei Kontakt zum Amt wünschen.
Schulschwänzen und Sanktionen sind ein wunderbares Thema in diesem Zusammenhang. Wir haben durchaus die theoretische Möglichkeit, nach einer Schulversäumnisanzeige ein Bußgeldverfahren einzuleiten und mit einem Bußgeldbescheid in Höhe von 50 bis 300 Euro abzuschließen. Dann wandert der Vorgang zum Gericht. Ich habe bereits über den Fortschritt berichtet, dass seit einiger Zeit wenigstens die Jugendrichter damit befasst werden und nicht mehr die Verkehrsrichter. Das Ordnungswidrigkeitsverfahren ist jedoch sehr formell, langwierig und kompliziert. Es ist eben ein dem Strafrecht vorgeschaltetes System. Sechs bis zehn Monate gehen da schon ins Land.
»Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht aufs Konto« wäre einfacher zu handhaben und für jeden verständlich. Es würde sich auch sehr schnell die Erkenntnis durchsetzen, dass das Fernbleiben der Kinder von der Schule teuer wird. Wie die Erfahrungen in den Niederlanden gezeigt haben, kann bereits das bloße Vorhandensein einer Sanktion ausreichen, um eine Verhaltensänderung zu bewirken, so dass von der Sanktion vielfach erst gar nicht Gebrauch gemacht werden muss. Die Befürchtung von Klaus Wowereit, dass die Kinder verhungern würden, wenn Schulschwänzen in die Haushaltskasse einschlägt, halte ich, ehrlich gesagt, für ziemlichen Quatsch.
Bespielen, bespaßen, alimentieren und über den Kopf streicheln, ist das wirklich eine glaubwürdige und vor allen Dingen effektive Integrationspolitik? Für mich nicht. Für mich ist das nichts anderes als Wegsehen, Beruhigen, Ignoranz und Faulheit. Die Gesellschaft darf nicht nur beobachten, nicht nur reparieren, sie muss auch agieren, intervenieren und vor allen Dingen gestalten. Die Normen gelten für alle. Inländer, hinzugekommene »Inzwischen-Inländer« und Ausländer. Sie sind von allen zu beachten und von der Staatsgewalt durchzusetzen. Eine Gesellschaft, die ihre Normen nicht exekutiert, macht sich nicht nur zum Kasper, sondern darf sich auch nicht wundern, wenn das entstehende Vakuum sofort durch alternative Lebensregeln gefüllt wird.
Die Demokratie ist eine sehr anstrengende Gesellschaftsform. Sie setzt das aktive Engagement und die Partizipation ihrer Bürger voraus. Das mag für den Einzelnen mühselig sein. Demokratie ist aber nicht gleichzusetzen mit Beliebigkeit. Das wäre bequem und wird daher immer wieder versucht. Natürlich muss der Staat mit seinen demokratisch legitimierten Organen die Rechtsordnung durchsetzen. Nur er hat das Primat dazu. Er darf keine rechtsfreien Räume oder einen »Gegenstaat« zulassen. Das fängt bei einer »anderen« Straßenverkehrsordnung an und hört beim Ehrenmord auf.
Ein Land kann sich auch zu Tode liberalisieren. Ich bin nicht bereit, barbarische Unkulturen, die ich in einer zivilisierten Welt für immer verschwunden glaubte, plötzlich als normal und tolerabel zu akzeptieren. Am Rande des Prozesses vor dem Landgericht Detmold über einen Familienritualmord an der Tochter erklärt nach einem Medienbericht ein angeblich hochstehender
Religionsgelehrter: »Man kannte unsere Regeln, als man uns Asyl gab. Jetzt sagen immer mehr, wir dürfen so nicht leben. Wir werden unsere Religion aber nicht aufgeben.« Dieser Äußerung lässt sich unschwer entnehmen, dass der Religionslehrer das Geschehen für durchaus vereinbar hält mit den tradierten Werten der archaischen Einwanderer-Lebenswelt. Dazu dürfen wir nicht schweigen. Wenn, wie im Frühjahr 2012 geschehen, ein Muslim einem anderen das Messer ins Gesicht rammt, weil dieser angeblich seine Frau zu lange angeschaut hat, dann empfinde ich für ein solches animalisches Verhalten nur Abscheu. Meine Gedanken sind hierzu klar sortiert: So etwas will ich nicht. Ich möchte auch keine Religionsfanatiker, ob sie sich nun Salafisten oder sonst wie nennen, die scheinheilig Bücher Gottes und des Friedens verteilen, aber Polizisten angreifen und unsere demokratische Grundordnung zugunsten eines Gottesstaates abschaffen wollen. Das Grundrecht auf freie Religionsausübung muss dort seine Schranken finden, wo es den sozialen Frieden der Gemeinschaft stört. Die demokratischen Grundrechte bieten zu Recht Schutzräume vor Willkür und Unterdrückung. Es ist direkt perfide, die eigenen Schutzräume dann als Vehikel gegen die Grundrechte anderer missbrauchen zu wollen.
Unter das Stichwort »Unkulturen« fällt bei mir auch die Vielweiberei, die in der muslimischen Bevölkerung in erschreckendem Maße zugenommen hat und nach meinem Eindruck weiter zunimmt. Im Kapitel »Neukölln heute« habe ich das Thema bereits angesprochen. An dieser Stelle geht es mir um den Aspekt, inwieweit wir auch im Zivilrecht gesellschaftliche Rückschritte unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit dulden dürfen. Wenn wir die Rechtsvorstellungen des Alten Testaments wieder für gesellschaftlich akzeptiert erklären würden, dann gute Nacht demokratischer Rechtsstaat. Wir nennen es als Straftatbestände Bigamie und Polygamie. Und plötzlich ist eine Vielehe eine kulturelle Bereicherung. Im Zweifel steht unser Sozial- und Gesundheitssystem für die Folgen solcher Urzeitfamilienverhältnisse ein. Wo sind eigentlich die Frauenrechtsorganisationen geblieben bei dieser Entwicklung? Imam-Ehen sind nach deutschem Recht nicht anerkannt und entfalten keinerlei rechtliche Wirkungen. Dreimal »Ich verstoße dich«, und die Frauen können sehen, wo sie bleiben. Das hört sich nach Mittelalter an. Ist aber Realität in der Bundesrepublik Deutschland. Ein arabischstämmiger Familienhelfer schätzt, dass 30 % aller Ehen in seiner Ethnie mit dem Begriff »islamisch getraut« umschrieben werden können. Diese Frauen gelten als alleinerziehend mit allen Konsequenzen für sich selbst, für die Kinder und die deutschen Behörden.
Verbal ist selbst die ordnungspolitische Welt der Integrationspolitik meist in Ordnung. Formale Angriffsflächen werden strikt vermieden, es sei denn, es rutscht jemandem eine unachtsame Bemerkung heraus. Niemand ist gegen Ordnungsprinzipien. Da ist häufig vielmehr die Rede von Druck, Bestrafung, Riegel vorschieben, klare Kante zeigen und von staatlichen Eingriffen sowie Konsequenz. Im Text von Klaus Wowereit liest sich das dann so:
»Natürlich dürfen wir nicht zulassen, dass junge Menschen nicht mehr zu Schule kommen, dass der Schwimmunterricht gemieden wird, dass Religion als Deckmantel für Diskriminierung genutzt wird oder gar zur Rechtfertigung krimineller Auseinandersetzung. Wir müssen einfordern, dass Aufstiegswille zur akzeptierten Haltung wird. Denn dort, wo er nicht mehr da ist, sowohl bei Deutschen als auch bei Einwanderern, muss dieser Aufstiegswille geweckt werden – durch Hilfestellungen, wo sie nötig sind, aber auch mit Druck. (…) Ebenfalls unbestritten ist, dass es auch Menschen gibt, die unser System ausnutzen wollen. Das ist überall auf der Welt so. (Ja? Wie kommt er darauf?) Und solche Versuche gehören bestraft. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden mit allen Gesetzen und Maßnahmen, die heute vorhanden sind. Das Instrumentarium steht zur Verfügung. Es ist ausreichend und muss bei Bedarf konsequent angewandt werden. (…)Klare Kante gilt es auch beim Thema Jugendgewalt zu zeigen oder bei Tendenzen, die Religion über das Recht zu stellen. Ja, es gibt Clans, die Deutschlands freiheitliche Gesellschaft für kriminelle Machenschaften ausnutzen. Ja, es gibt Milieus, die sich abkapseln. Ja, es gibt archaisch organisierte Familien, Gewalt und Unterdrückung. Gegen diese Strukturen gehen wir vor. (…) Nicht jede Kritik
ist gleich rassistisch zu verstehen, nicht jeder Einwanderer ist heilig und will den ganzen Tag in seiner Nationaltracht Folklore aufführen. (…) Jede und Jeder ist an das Grundgesetz gebunden. Hier wird geregelt, was geht und was nicht geht. Ebenso klar ist, dass wir von Jeder und Jedem einfordern, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und ihren Beitrag zu leisten. (…) Dort, wo das nicht geschieht, muss der Staat eingreifen. (…) Aus diesem Grund darf sich ein Staat nicht damit zufrieden geben, durch sozialstaatliche Maßnahmen Menschen zu alimentieren, oder sagen wir es etwas forscher: ruhig zu stellen.« Das sind starke Worte. Genauso wie sein Ansatz, die Integrationswilligkeit einzufordern und Mehrfachtäter abzuschieben.
Der frühere Fraktionsvorsitzende der Berliner SPD und heutige Senator Michael Müller machte vor Jahren den Vorschlag, die Sozialleistungen zu kürzen, wenn Eltern ihren Pflichten nicht nachkommen. Der damalige GRÜNEN-Fraktionschef nannte das »populistischen Unsinn«. Die SPD-Abgeordnete und heutige Integrationssenatorin fand, dass Sanktionen nur die Atmosphäre vergiften. Inzwischen will sie aber Eltern in die Pflicht nehmen: Die Schulen sollen Zielvereinbarungen mit ihnen schließen, was ihre Pflichten sind. Und was machen wir mit den Eltern, die sich weigern, eine Vereinbarung zu schließen? Oder mit denen, die sie nicht einhalten? Ich vermute einmal, natürlich nichts.
In Hannover will man seit 2011 andere Wege gehen. Dort fallen monatlich 200 Bußgeldverfahren wegen Schulschwänzens an. »Es geht darum, den Kindern mit 13, 14, wenn die Pubertät zuschlägt, nicht jegliche Bildungschancen fürs Leben zu nehmen«, sagt ein dortiger Jugendrichter. Deshalb will man, wenn Kinder mehr als 20 unentschuldigte Fehltage haben und massive Probleme in der Familie vorliegen, den Eltern das Sorgerecht in schulischen Angelegenheiten entziehen. Ich finde, mit meiner Drohung, das Kindergeld zu kürzen, bin ich dagegen noch recht human. Wer sagt aber eigentlich, dass es nicht auch Eltern gibt, die es schick finden werden, wenn sie das Sorgerecht für die Schule los sind? Prima, könnten sie denken, kümmert sich jetzt ein anderer darum.
Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass den rund 2500 Bußgeldbescheiden in Hannover bei gut 500 000 Einwohnern rund 900 bis 1000 Bußgeldbescheide in Berlin bei 3,4 Millionen Einwohnern gegenüberstehen. Allerdings scheint Berlin aufzuwachen. Bereits 2011 teilte der Regierende Bürgermeister mit, dass die Eltern vom ersten Tag, an dem ihr Kind die Schule schwänzt, per Telefon, SMS und E-Mail informiert werden. Zum Schuljahr 2012/13 soll jetzt ein Testbetrieb dafür gestartet werden. Mit einer endgültigen Einführung ist frühestens 2013/2014 zu rechnen. Aber selbst diese Terminangaben sind noch mit einem dicken Fragezeichen versehen. Seien wir nicht zu streng und ungeduldig. Wenn es 2015 wird, ist doch auch gut. Für manche ist Schulschwänzen eben nur ein nachrangiges Problem, eine Art Kavaliersdelikt. Viel bemerkenswerter als die Zeitfrage finde ich etwas anderes. Wie man hört, will man die Eltern vorher darum bitten zuzustimmen, dass mit ihnen auf diese Art Kontakt aufgenommen werden darf.
Also, wir fragen Eltern, ob sie es uns erlauben, ihnen mitzuteilen, dass ihre Kinder die Schule schwänzen. Es könnte ja schließlich sein, dass sie das nicht interessiert und sie in Ruhe gelassen werden wollen. Ist doch echt rücksichtsvoll, oder? Solange wir uns wie Waschlappen zur Schau stellen, kann man nur sagen: Lieber Gott, lass Abend werden.
Schneller sollte nach meinem Dafürhalten aber der Unfug beendet werden, dass Eltern für ihre Kinder, die im Knast sitzen, Kindergeld bekommen. »Wie verrückt muss eine Gesellschaft eigentlich sein, die noch Kindergeld für Kinder zahlt, die andere halb totgeschlagen haben und im Knast sitzen« – so nochmals das Zitat des Jugendrichters. Ich finde, er hat recht.
Der Gedankenansatz, den Sanktionskatalog des Staates auch auf Kürzungen von Geldbeträgen im Transferbereich zu erweitern, ist nicht neu und entstammt auch nicht nur dem verirrten Denken eines Bezirksbürgermeisters. Bei der Reform des § 1666 BGB im Jahr 2006 leitete der Berliner Senat eine entsprechende Forderung der Berliner Richterschaft an das Bundesministerium der Justiz weiter. Der Text der Empfehlung lautete damals: »Hierzu hat uns
seitens der richterlichen Praxis die Anregung erreicht, dass in diesen Fällen, sofern die Voraussetzungen für eine Herausnahme der Kinder aus der Familie nicht sicher vorliegen oder unverhältnismäßig erscheinen, der Entzug finanzieller Mittel, beispielsweise eine Kürzung der Kindergeldleistung oder anderer staatlicher Leistungen, geeignet erschiene, die Eltern zur Erziehung ihrer Kinder zu motivieren.« Die Anregung wurde von der Bundesregierung nicht aufgegriffen. Vielleicht sieht man das heute dort anders.
Sigmar Gabriel sagte einmal zu mir, er würde als Berliner Innensenator ständig eine Einsatzhundertschaft in Neukölln demonstrativ sichtbar in Position bringen, die jederzeit in der Lage ist, die Normen des Zusammenlebens durchzusetzen. Er ist bisher nicht Berliner Innensenator geworden, so dass wir seinen Vorschlag nicht gemeinsam ausprobieren konnten.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich stimme den zitierten Aussagen von Klaus Wowereit und Michael Müller zu. Meine Kritik richtet sich lediglich darauf, dass derartige Ansagen über ihr verbales Stadium nicht hinauskommen. Natürlich hat auch Sigmar Gabriel recht. Der öffentliche Raum muss der kriminellen Szene entzogen werden. Das geht aber nicht mit Wattepusten. Da muss Staat schon Staat zeigen. In welcher Form auch immer. Es muss zumindest aufhören – und ich finde, das ist eine lächerliche Minimalforderung –, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei, des Ordnungsamtes und selbst der Rettungsdienste tagtäglich bedrohen, beschimpfen und angreifen lassen müssen. Es kann auch nicht sein, dass unser Melderecht inzwischen so liberalisiert ist, dass es zu nichts mehr taugt. Jeder kann sich überall beliebig anmelden und somit eine »amtliche« Anschrift besorgen. Davon wird auch reichlich Gebrauch gemacht. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie eines Morgens um 6.00 Uhr das SEK in Ihrer Wohnung haben, weil es die Person X sucht, die bei Ihnen angemeldet ist, ohne dass Sie davon überhaupt wissen. Bei der Zustellung von Lohnsteuerkarten oder Wahlbenachrichtigungen haben wir allein in Neukölln bis zu 10 000 Scheinadressen aufgedeckt. Das ist zwar kein originäres Thema der Integrationspolitik. Aber natürlich erleichtern die Liberalisierungen und die Stärkung der Bürgerrechte denjenigen das Handwerk, die sie zu missbrauchen gedenken. Freiheit und Sicherheit sind nun einmal kommunizierende Röhren. So weit der Stand bis Ende Juni 2012. Inzwischen hat der Deutsche Bundestag das Melderecht wieder stärker formalisiert. Bei An- und Abmeldungen müssen Bestätigungen des Vermieters vorgelegt werden. Das ist gut so. Damit wird einigen Tausend Straftaten der Nährboden entzogen.
Ein ganz wesentlicher Punkt zur Stärkung der Interventionsfähigkeit staatlicher Institutionen muss eine neue Form der Zusammenarbeit werden. Weg von der Versäulung in vorgegebenen Zuständigkeiten hin zu einem tatsächlich gemeinsamen Arbeitsauftrag. Hier sind andere Länder weiter. Es geht darum, die Anonymität der Großstadt zu beseitigen, Strukturen offenzulegen und, soweit es geht, das Instrument der sozialen Kontrolle zu nutzen. Ob es in Deutschland sinnvoll erscheint, etwas Ähnliches wie die Police Cadets oder die Neighbourhoods Police ins Leben zu rufen, mögen andere entscheiden. Ich denke aber, es ist vernünftig, dass die Polizei in Brennpunkten einen engen Schulterschluss mit den Bürgern und den anderen staatlichen Stellen pflegt. Die Gegenseite ist organisiert und changiert chamäleonhaft. Dem kann man nur mit einem gut funktionierenden Informationsnetz beikommen.
Das Vor-Ort-Prinzip in anderen Städten hat mich überall beeindruckt. Wenn wir tatsächlich in die Alltagsgeschehnisse eingreifen wollen, müssen die staatlichen Akteure den Sozialraum kennen, wissen, wie er tickt, und vor allem schnell sein. Staatliche Reaktionszeiten von mehreren Monaten sind wirkungslos. Aus all den Gründen rede ich Möglichkeiten der Vernetzung das Wort, wie sie etwa im Safety House in Tilburg und im Transfer Informatie Punt in Rotterdam bestehen. Eines ist dafür aber zwingend notwendig. Der Datenschutz in seiner bisherigen Form müsste novelliert werden. Es müssten zumindest, wie in den Niederlanden, Möglichkeiten geschaffen werden, durch öffentliche Verträge einen Datenfluss zwischen den beteiligten Stellen zu gewährleisten.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #43 on: November 04, 2012, 09:47:58 am »
Unter dem Stichwort Ordnungsprinzipien will ich einige kurze Bemerkungen zum Thema Kopftuch- und Burkaverbot machen. Beide Bekleidungsstücke für Frauen halte ich für entbehrlich. Sie passen nicht nach Mitteleuropa und auch nicht in unsere Zeit. Sie sind Sendboten einer Geschlechterhierarchie und des Eigentumsrechts des Mannes über die Frau. Aus diesen Gründen lehne ich beides ab. Bei Schulkindern sagt mir mein Gefühl, dass man es zumindest in der Grundstufe verbieten sollte. Auch im hoheitlichen Bereich der Verwaltung haben derartige Bekennerutensilien einer anderen Gesellschaft als der unsrigen nichts zu suchen. Man kann sich nicht in Distanz zu einer Gesellschaftsform begeben und gleichzeitig ihr Vertreter sein.
Aber wir sind ein liberales Land. Es kann sich jeder in Cowboy-Kleidung, Bhagwan-Kutte oder mit Kopf- und Körperverhüllung nach der Art der Muslime in der Öffentlichkeit zeigen. Das ist so, und das Toleranzgebot schützt die Individualität eines jeden Menschen. Ob sich das auch auf eine Bekleidungsform wie die Burka erstreckt? Da habe ich erhebliche Zweifel. In unseren Breiten schaut man sich an, wenn man miteinander redet, wir zeigen dem anderen offen unser Gesicht. Mit unserem Gesicht und unserer Mimik geben wir auch ein Stück unserer Persönlichkeit preis. Wer das nicht möchte, wer sich selbst oder einen anderen mit einem Textilgefängnis verschandeln will, hat aus meiner Sicht in Mitteleuropa nichts verloren. Ob man allerdings wie Belgien und Frankreich zu einem Verbot der Burka greifen sollte, halte ich für genauso fragwürdig. In Frankreich, sagte man, gibt es 2000 Burka-Trägerinnen. Für Deutschland kenne ich keine Zahl. Ich weiß nur, dass ich in Neukölln regelmäßig auf Burka-Trägerinnen stoße. Wie viele es sind, weiß ich nicht. Denn ich kann ja nicht erkennen, ob es immer dieselben sind. Eigentlich habe ich mich zum Ertragen in Gelassenheit entschieden. Interessant ist allerdings der Gedankenansatz des Rotterdamer Bürgermeisters Aboutaleb. Er meint, mit einer Burka führt ein Mensch seine Arbeitslosigkeit vorsätzlich selbst herbei. Er verliert damit den Anspruch auf Unterstützung durch die Gemeinschaft.
Seit etwa zwei Jahren ist Neukölln ein beliebter Zuzugspunkt für Menschen aus Südosteuropa. Bis vor kurzem nannte man sie auch Wanderarbeiter oder Zigeuner. Die letztere Bezeichnung gilt inzwischen als diskriminierend und verletzend. Man spricht von den Volksgruppen der Sinti und Roma. Meist sind es Roma, die aus Bulgarien und Rumänien in die übrigen EU-Staaten einwandern. Sie machen sich auf die Suche nach mehr Wohlstand, als ihnen ihre Heimatländer zu bieten haben. Es geht ihnen dort nicht besonders, und behandelt werden sie auch nicht gut. Sie haben also nichts zu verlieren. Seit der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in die EU unterliegen die Bürger dieser beiden Staaten der gleichen Freizügigkeit innerhalb des Schengenraumes wie Sie und ich.
Wenn die Lebensstandards verschiedener Länder extrem voneinander abweichen, dann ist bei herrschender Freizügigkeit eine Armutswanderung unausweichlich. Deutschland hat als einziges EU-Land die völlige Freizügigkeit für Rumänien und Bulgarien bis zum 1. Januar 2014 hinausgeschoben. Bis dahin gilt eine maximale Aufenthaltsdauer von 90 Tagen ab Grenzübertritt. Da der sich jedoch unkontrolliert und ohne Sichtvermerk im Pass vollzieht, kann niemand kontrollieren, ob die 90-Tage-Frist eingehalten wird. Verstöße gegen das Freizügigkeitsrecht der EU sind darüber hinaus folgenlos. Sie stellen noch nicht einmal eine Ordnungswidrigkeit dar. Das Überschreiten der Aufenthaltsdauer führt zwar zu einer gewissen Form der Illegalität, die aber niemand verfolgt. Mit der Perspektive 1. Januar 2014 schon gar nicht. Zumal es noch ein weiteres Schlupfloch gibt. Selbständig Gewerbetreibende sind von der Beschränkung des Aufenthalts ausgenommen. Und so haben wir in Neukölln in den letzten zwei Jahren einen ganz erstaunlichen Wirtschaftsboom durch die Gründung von 2500 Gewerbebetrieben durch rumänische oder bulgarische Staatsangehörige erlebt. Die Branchen sind Reinigungsgewerbe, Bauhilfsarbeiten, Transporte oder promotion assistent (Zettelverteiler). Die angebliche Gewerbetätigkeit öffnet ihnen den Zugang zum Sozialsystem, und so kommen sie meist als vielköpfige Familie gut zurecht. Einige erliegen auch den Verlockungen der Kriminalität. Wie das immer so ist.
Die Menschen leben in überbelegten Wohnungen, werden je nach Verweildauer mit
Kopfmieten von 100 bis 300 Euro im Monat abgezockt, campieren im Freien und arbeiten für zwei bis drei Euro die Stunde, um die sie am Ende des Tages auch noch betrogen werden. Rechnen Sie mit mir mit: 20 Köpfe mal 100 Euro in einer Wohnung ergibt 2000 Euro pro Monat. In einem Jahr sind das 24 000 Euro Einnahmen aus einer einzigen Wohnung. Wenn das Haus mit Seitenflügel über 20 Wohnungen verfügt, ergibt das 480 000 Euro Mieteinnahmen für Substandard, den sonst keiner akzeptieren würde. Ich habe Ihnen nur die Minimalvariante vorgerechnet. Für ein Haus mit »Dauergästen« kommen schon mal 1 440 000 Euro im Jahr zusammen. Man kann also mit den Roma »prima« Geschäfte machen. Das passiert auch reichlich. Für das Ausfüllen eines Kindergeld- oder Hartz-IV-Antrages werden bis zu 2000 Euro aufgerufen. Die Begleitung zum Amt kann schon einmal 500 Euro Freundschaftssalär auslösen. Es gibt in jeder Ethnie Typen, die sich noch an den Ärmsten gesund stoßen.
Ich spreche das Thema an dieser Stelle bewusst an, obwohl es mit der originären Integrationspolitik eigentlich nichts zu tun hat. Wir dürfen nicht die gleichen Fehler ein weiteres Mal machen. Die Roma werden nicht wieder zurückgehen. Sie werden bleiben und sagen das auch ganz offen. Eine sehr große Mehrheit dieser EU-Einwanderer spricht kein Deutsch. Wenn wir nicht das Entstehen einer weiteren Parallelgesellschaft stillschweigend fördern wollen, muss der Fokus auf der Vermittlung der deutschen Sprache liegen. Das heißt: Sprach- und Integrationskurse für Bulgaren und Rumänen. Es bedeutet Beschulung der Kinder, und zwar vom Zeitpunkt ihres Eintreffens an. Die Kinder und Jugendlichen haben zum Teil noch nie eine Schule besucht und sprechen kein Wort Deutsch. In Neuköllner Schulen unterrichten wir inzwischen rund 700 eingewanderte Roma-Kinder. Jeden Monat kommt eine neue Klasse hinzu.
Anderthalb Jahre haben wir gekämpft, damit unsere oberste Schulbehörde die sich erneut verändernde Schülerschaft überhaupt zur Kenntnis nimmt. Man hat uns sogar Lug und Trug vorgeworfen. Da müsse der Bezirk mit seinen vorhandenen Ressourcen eben flexibel umgehen. Wir sollten doch die Kinder ins »Sprachbad« der Regelklasse tun, lautete der kluge Ratschlag, als wir Sprachmittler für Rumänisch und Bulgarisch anforderten. Uns fehlt es heute massiv an Aushilfslehrern, die wenigen, die wir haben, sind meist nicht ausreichend qualifiziert. Und an Sprachmittlern, die sich um die Kinder in der Schule kümmern, um sie möglichst schnell schulfähig zu machen. Ich weiß nicht, wie viele Roma inzwischen in Neukölln leben. Gehe ich von unseren 700 Schülern aus und multipliziere diese Zahl mit drei Geschwistern und Papa und Mama, dann sind das gut 4000 Personen. Zuzüglich der Illegalen ist wohl von einer Größenordnung um 7000 bis 9000 Menschen auszugehen. Nehme ich allerdings die Zahl der »Gewerbebetriebe« und multipliziere sie mit fünf Personen, ergibt das schon 12 500. Nichts Genaues weiß man nicht.
Im Land Berlin hat man nach zwei Jahren nun als Ad-hoc-Maßnahme Arbeitsgruppen eingerichtet, und vor Ort steppt inzwischen der Bär. Es gibt Probleme, insbesondere mit der türkischen und arabischen Nachbarschaft. Man mag sich nicht. Ich erspare Ihnen die kaum zu glaubenden Details. Nur eine kleine Geschichte, sie ist harmlos, aber symptomatisch. Mich fragte ein türkischstämmiger Imbissbetreiber, wie lange die in seiner Nachbarschaft zugezogenen Roma noch bleiben. Ich antwortete ihm: »Vermutlich sehr lange, denn sie sind eingewandert und bleiben hier. Als EU-Bürger haben sie das gleiche Recht hier zu leben wie Sie.« Ich dachte, der Imbissbetreiber lyncht mich. Er schrie mich an, dass er sich jede Gleichsetzung mit den »Zigan« verbitte. Er lebe seit 40 Jahren in Deutschland, arbeite hier und zahle Steuern. Dass ich ihn auf eine Stufe mit den Roma stelle, disqualifiziere mich als seinen Bürgermeister.
Wenn ich öffentlich mehr Lehrer und mehr Geld fordere, erhalte ich E-Mails der deutschen Bevölkerung, warum ich das tue und ob ich nicht wisse, dass auch für die deutschen Kinder Lehrer fehlen. Wir baden vor Ort das aus, was die große Politik mit Lächeln im Blitzlichtgewitter unterschrieben hat. Ich weiß von meinen Besuchen in anderen deutschen Städten, dass dort die Situation identisch ist. Ein Jugendamtsleiter sagte auf einer Tagung zu mir: »Wenn ich das Kinder- und Jugendhilfegesetz auf die Roma-Familien bei uns anwende, ist meine Stadt in einem Jahr pleite.
Die Menschen leben in einer anderen Kultur nach anderen Gesetzen.« Ich denke, er hat recht. Auf unser Sozialsystem kommt eine neue Herausforderung zu. Auch bei den Roma gibt es zur Integration keine Alternative.
Wir berieten eines Tages auf Verwaltungsebene eine Stellungnahme des Senats zur Roma-Einwanderung. Es war davon die Rede, dass Berlin Europas Referenzstadt für die Integration der Roma werden solle. Als ich anregte, dann aber wenigstens eine pauschale Formulierung in den Text aufzunehmen, dass auch Gelder hierfür bereitgestellt werden, lautete die Antwort eines Senatsmitglieds: »Sind Sie verrückt? Wir machen es denen hier doch nicht noch bequemer!« So weit zum Problembewusstsein und zur Glaubwürdigkeit von Politikersprüchen.
Der Vollständigkeit halber möchte ich hier eine Lanze für das Programm »Soziale Stadt« brechen. Seit 13 Jahren wird mit diesem System der Städtebauförderung versucht, in die scheinbar naturgesetzlichen Abläufe der sozialen Brennpunkte einzugreifen. Auf diesem Weg gab es viele Erfolge. Dennoch konnte der große Durchbruch nicht gelingen. Denn auch Quartiersmanagement ist wieder nur ein unverbindliches Angebot. Man kann es annehmen und mitmachen oder es sein lassen. Die Konsequenz aus dieser Philosophie ist, dass es ein Instrument für die in den Gebieten verbliebenen deutschen Bürger ist. Bei Veranstaltungen frage ich häufig: »Wo sind denn die Migranten?« Ich denke, die Kraft des Quartiersmanagements müsste gestalterischer wahrnehmbar werden. Dazu gehört auch, dass ihm eine mitbestimmende Funktion im Sozialraum eingeräumt wird. Vielleicht machen dann auch mehr mit. Die Quartiersräte werden im Wohngebiet gewählt. Die Wahlbeteiligung ist so lächerlich gering, dass ich mich nicht traue, sie hier zu nennen. Mitunter genügt ein intakter Bekanntenkreis im Hausaufgang oder ein großer Stammtisch in der Eckkneipe, um seinen Platz im Quartiersrat sicher zu haben. Das ist ein bisschen bösartig, ich weiß. Quartiersmanagement ist eine tolle Sache, nur die Verzahnung mit der Bevölkerung in ihrer ganzen Breite, die haben wir noch nicht überall hinbekommen.
Kostenlose Kindergärten und ihr flächenmäßiger Ausbau, die Umstellung unseres Schulsystems komplett auf Ganztagsschulen, eine besondere Ausstattung für Brennpunktschulen, die Fortführung des Quartiersmanagements, eine Wirtschaftsförderung für soziale Brennpunkte, all diese Strukturverschiebungen werden nicht kostenlos zu realisieren sein. Wir werden Geld in die Hand nehmen müssen. Und zwar nicht wenig. Eine neue Infrastruktur für Kinder herzustellen, um damit gleichzeitig auch der Integrationspolitik völlig neue Impulse zu verleihen, ist ein Stück soziale Revolution. Das geht nicht von heute auf morgen, nicht mit einem Parteitagsbeschluss und auch nicht aus der Portokasse. Aber wir werden irgendwann begreifen müssen, dass uns die Entwicklung überhaupt keine Handlungsspielräume mehr lässt. Die weitaus erfolgreicheren Schwerpunktsetzungen anderer Länder zeigen, dass wir uns bei den Bildungsfragen, die der Kulminationspunkt von allem sind, von der Entwicklung in den OECD-Staaten abgekoppelt haben. Der Vorsitzende des Vorstands der Bertelsmann Stiftung, Jörg Dräger, beschreibt in seinem Buch Dichter, Denker, Schulversager sehr eindringlich die Notwendigkeiten eines Kurswechsels.
Doch wo sollen die Milliarden nun herkommen? Zum einen muss Einvernehmen darüber hergestellt werden, dass Deutschland mehr Geld in die Bildungspolitik investieren muss. Ich glaube, die Streitphase zu diesem Thema ist überwunden. Auf dem Bildungsgipfel 2008 wurde vereinbart, den Anteil der Bildungsausgaben bis 2015 auf 7 % (10 % für Bildung und Forschung) des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. 2008 lagen die Bildungsausgaben in Deutschland bei 4,9 %, der OECD-Durchschnitt bei 5,9 % und in Dänemark bei 7,4 %. Damit stehen wir auf Platz 30 von 36 Ländern, für die entsprechende Daten erhoben werden. Bei den Bildungsausgaben ist Deutschland also nach wie vor eindeutig unterbelichtet.
Um das Ziel des Bildungsgipfels zu erreichen, müssen wir noch ordentlich zulegen und mindestens 25 Milliarden Euro in die Hand nehmen. Allerdings muss ich darauf hinweisen, dass es für einen Laien ausgesprochen verwirrend ist, die unterschiedlichen Zahlen, die vorgelegt werden, zu interpretieren. Die OECD und die Bundesregierung definieren Bildungsausgaben unterschiedlich.
Bei den Erhebungen der OECD bleibt ein Teil der Bildungsausgaben, die in das nationale Bildungsbudget einfließen, unberücksichtigt. Hierunter fallen Weiterbildungsausgaben sowie sonstige bildungsrelevante Aufwendungen beispielsweise für Krippen, Horte und Volkshochschulen. Deutschland würde sich unter Einbeziehung dieser Posten sicherlich um ein, zwei Plätze verbessern können. Doch wie Deutschland bei Erweiterung der engen OECD-Kriterien etwas zulegen würde, so wäre das auch bei anderen Ländern der Fall. Man kann es also drehen und wenden, wie man will. Wir können uns die Bildungsausgaben nun einmal nicht schöner rechnen.
Gut im Rennen liegen wir hingegen bei den Ausgaben des Gesundheits- und Sozialsystems. Bei der Familienförderung können wir mit 3 % des Bruttoinlandsprodukts, das sind etwa 180 Milliarden Euro, stärker punkten. Hier geben wir das meiste Geld aller OECD-Staaten aus. Bei der Effizienz belegen wir allerdings nach einer Wertung aus 2008 den drittletzten Platz. Nur Nord-Korea und die Slowakei sind hinter uns. Woran liegt das? Weniger Geld und bessere Ergebnisse in anderen Ländern. Die anderen geben etwa 50 % der Fördermittel in die Institutionen der Kindererziehung, also Krippen, Kindergärten, Horte, Ganztagsschulen, Erzieher, Lehrer. Bei uns sind es nur 20 % bis 25 %. In Deutschland liegt der Schwerpunkt bei den Direktleistungen an die Eltern. Gelänge es, an dieser Stellschraube zu Veränderungen zugunsten der Institutionen zu kommen, dann würde sich auch der Bildungs-Input für die Kinder und damit letztendlich der Output der Leistungsfähigkeit verändern.
Es ist ein völliger Wildwuchs entstanden. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums gibt es über 150 verschiedene Leistungen für Familien in Deutschland, die mit 125 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Hierin sind steuerliche Erleichterungen noch nicht einmal enthalten. Von Erfolg jedoch keine Spur. Die Geburtenrate ist auf einem historischen Tiefstand. Plakativ formuliert, kann man sagen: Noch nie hat Deutschland so viel Geld für die Familienförderung ausgegeben. Noch nie war die Geburtenrate so niedrig wie heute. Noch nie war die Familienpolitik so erfolglos wie im Moment. Es ist einfach nur ein Desaster. Wir glauben, mit punktuellen Geldprämien die Strukturmängel für Familien kompensieren zu können. Das ist jedoch kindisch. Für 20 Euro mehr Kindergeld, 150 Euro Herdprämie oder 1800 Euro Elterngeld für 14 Monate treffen Menschen keine Grundsatzentscheidung und wandeln ihre Skepsis nicht in Zustimmung für eine Familiengründung. Dazu gehört mehr. Nämlich ein dauerhaftes System an optimaler Betreuung der Kinder und Flexibilität in der Arbeitswelt. Die vorhandenen Programme sind zum großen Teil ein Lehrstück für Mitnahmeeffekte. Familienförderung ist wie Integrationspolitik. Man muss sie wirklich wollen und dann Nägel mit Köpfen machen. Ein bisschen rumkleckern hier und da bringt gar nichts.
Hinzu kommt, dass die frühkindliche Bildung bei uns im Vergleich zu den Hochschulen nicht besonders gut angesehen ist. In den USA ist das genau umgekehrt. Jörg Dräger bemängelt zu Recht, dass bei uns Studiengebühren von 83 Euro im Monat als sozialschädlich wieder abgeschafft, aber bis zu 600 Euro im Monat Kosten für einen Kita-Platz als völlig normal akzeptiert werden. Dahinter steht natürlich die Ideologie, dass Kindererziehung Sache der Eltern ist und den Staat nichts angeht.
Die klassische Form der Finanzierung von zusätzlichen Staatsaufgaben ist die Kreditaufnahme. Das geht leicht und ist auch bequem. Die Rückzahlung dieser Schulden bürdet man künftigen Generationen auf. Ein bisschen das System Griechenland, wenn es da die dumme Schuldenbremse nicht gäbe. Als bei der Finanzkrise unsere Bankenwelt am Zusammenkrachen war, klappte das System aber noch ganz gut. Ich habe den Überblick verloren, wie viele Milliarden Euro der sprichwörtliche Steuerzahler beisteuern musste. Ich erinnere mich aber gut daran, dass unser Finanzminister befragt wurde, ob er für eine Kindergartenpflicht sei. Er sagte, nein, das wäre zu teuer, weil zu viele Plätze gebaut werden müssten. Zwei Tage später kam dann die Meldung, dass die Hypo Real Estate weitere 100 Milliarden Euro Risikoabschirmung benötigt. Der Commerzbank musste mit 18 Milliarden Euro unter die Arme gegriffen werden. Die bundesweite Umstellung aller Schulen auf Ganztagsbetrieb kostet, nach Berechnungen des Bildungsexperten Klaus Klemm für die
Bertelsmann Stiftung, bis 2020 jährlich zehn Milliarden Euro. Die SPD rechnet mit 20 Milliarden Euro inklusive der zusätzlichen Personalkosten. Wenn man, wie Peer Steinbrück 2006 meinte, für vier bis sechs Euro Kürzung des Kindergeldes die gesamte Vorschulerziehung in Deutschland kostenfrei anbieten könnte, dann dürfte diese Maßnahme mit etwa zwei Milliarden Euro zu Buche schlagen. Das ließe sich gut mit dem freiwerdenden Geld verrechnen, wenn die Herdprämie wieder eingestampft wird.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #44 on: November 04, 2012, 09:48:51 am »
Welche Maßnahme welchen Finanzbedarf im Einzelnen hervorruft, ist an dieser Stelle nicht von entscheidender Bedeutung. Für mich geht es vielmehr um einen Paradigmenwechsel bei der Bildungs- und Familienpolitik. Wir müssen unser Geld in eine Infrastruktur für Kinder und nicht in das Familienbudget stecken. Konkret bin ich für jedwede zusätzliche Förderung von Kindern. Aber als Sachleistungen und nicht in das Portemonnaie der Eltern. Beispiele hierfür sind gebührenfreie Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, Mittagessen in den Schulen und Förderungen durch die Musikschule, die Sportvereine oder Nachhilfeunterricht. Ich fand die Idee von Ministerin von der Leyen mit einer Förder-Chipkarte für Kinder gut. Sie war nicht mehrheitsfähig, und der politische Kompromiss lautete dann BuT (Bildung und Teilhabe). Ein Bürokratiemonster zum Kindererschrecken. Das Ziel ist richtig erkannt, nur der Weg dorthin ist grottenschlecht.
Sachleistungen suggerieren im ersten Augenblick, man würde den Eltern in die Tasche greifen wollen. Doch das trifft nicht zu. Die Eltern erhalten die Unterstützung lediglich auf eine andere Art. Es geht nicht darum, die Leistungen für Familien und Kinder zu kürzen, sondern es geht um ihren Ausbau, um ein stärkeres gesellschaftliches Engagement. Viele sagen, Kindergeld für Gutbetuchte solle abgeschafft werden. Wenn es denn rechtlich geht, habe ich damit kein Problem. Die direkte Alimentation jedoch noch zu erhöhen auf 320 Euro, wie die SPD es will, halte ich für den völlig falschen Weg. Kinder werden dadurch immer stärker zum Einkommensfaktor und zu einem Absicherungsfaktor gegen die Wechselfälle des Lebens. Das gilt im Allgemeinen, aber ganz besonders in den sozialen Brennpunkten.
Bei der Finanzierungsdiskussion spielen natürlich auch sofort Steuererhöhungen eine Rolle. 1 % Mehrwertsteuer bringt acht Milliarden Euro, eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 % mindestens fünf Milliarden Euro, und zusätzliche Besteuerung von Finanzgeschäften schlägt mit zweistelligen Milliardenbeträgen zu Buche. Wenn es denn gelingt, auf diese Art Geld für die Bildung herbeizuschaffen, nun gut. Die Erbschaftssteuer hatte ich noch übersehen. Die ist auch immer gut für Finanzierungsvorschläge. Das hat alles etwas von Robin Hood. Nimm den Reichen, gib den Armen.
In Deutschland erhalten die Familien das dritthöchste Kindergeld innerhalb Europas. Nur die Schweiz und Luxemburg zahlen mehr. Insgesamt wendet die Gesellschaft für das Kindergeld und die korrespondierenden Steuerabschläge durch die Kinderfreibeträge bei der Einkommenssteuer jährlich rund 38 Milliarden Euro auf. Kürzte man diese Summe auf die Hälfte, bliebe ein spürbarer direkter Finanztransfer in die Familien erhalten, aber es würden jährlich 19 Milliarden Euro freigesetzt für den Aufbau eines neuen Bildungssystems. Ohne ungerechte Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Ich bin davon überzeugt, dass man dafür eine Mehrheit gewinnen könnte. Allerdings müsste über ein Stiftungs- oder Fondssystem sichergestellt werden, dass das Geld auch wirklich dort ankommt, wo es hin soll, und die Bildungsmaßnahmen auch tatsächlich stattfinden. Die Menschen sind der Politik gegenüber misstrauisch geworden. Mit dem Wegnehmen geht es immer schnell, nur mit dem Einhalten von Zusagen gibt es häufig Probleme, die weitschweifig erklärt werden. Das interessiert aber die Bürgerinnen und Bürger wenig.
Es sind ja alles nur Gedankenspiele. Es besteht nicht die Gefahr, dass in unmittelbarer Zukunft tatsächlich etwas passiert. Es muss erst alles noch sehr viel schlimmer kommen. Selbst wenn morgen alle notwendigen Entscheidungen für ein neues Bildungs-, Einwanderungs- und Integrationssystem getroffen werden würden, so würde eine spürbare Veränderung doch nicht vor
2025 oder 2030 eintreten. Das ist ein langer Zeitraum. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden, dass der Fortschritt nun einmal eine Schnecke ist. Andere Völker haben auch schöne Töchter. Schauen wir uns doch einfach um. Es muss nicht jeder jeden Fehler von anderen wiederholen. Ohne Integration wird es nicht funktionieren. Ohne Bildung wird die Integration nicht funktionieren. Und ohne Bildung und Integration wird unsere Wirtschaft nicht funktionieren. Deswegen wird der Leidensdruck die Politik irgendwann zum Handeln zwingen. Ich möchte mit einem trefflichen Zitat von Klaus Wowereit schließen: »Wenn wir aber weiterhin ideologische Debatten führen, während die Spaltung der Gesellschaft weiter voranschreitet, dann muss einem vor unserer Zukunft Angst und Bange werden.«
Siehe da, ich bin doch nicht der einzige, der von Spaltung und Parallelgesellschaften spricht. Noch liegt es in unserer Hand, ob diese düstere Vision zur Realität wird.
Das kleine Finale
Zum großen Finale und Feuerwerk mit Krachbumm eignet sich das Thema dieses Buches wenig. Sie haben sich tapfer bis hierher durchgearbeitet und sind vielleicht, nachdem ich Ihnen von meinen Erfahrungen berichtet habe, von einer gewissen Ratlosigkeit befallen. »Ja, und nun?«, lautet die Frage. Ein Patentrezept gibt es nicht. Bei gesellschaftspolitischen Themen gibt es eigentlich so gut wie nie das Rundum-Sorglos-Paket für alle. Entscheidend ist, dass wir begreifen: Es ist reichlich zu tun, und wir müssen uns sputen.
Aus tiefer Überzeugung glaube ich, dass eine der krassesten Beschreibungen unserer integrationspolitischen Brennpunkte zutrifft und dass sie uns den Weg vorgibt. Sie stammt von dem bildungspolitischen Sprecher der Berliner GRÜNEN. Er sagte einmal zum Thema Segregation: »Ja, sie (Anm. d. Verf.: die Menschen) entscheiden mit den Füßen, und zwar längst nicht mehr nur deutsche Eltern. Aber gesamtgesellschaftlich gesehen ist das keine Lösung. Es bedeutet nämlich, sich mit Ghettos abzufinden und auch mit Parallelgesellschaften. Doch spätestens, wenn diese Ghettos explodieren, wird es zu unser aller Problem. Ich finde es ja auch die staatsbürgerliche Pflicht eines jeden, nicht den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.« Das Zitat ist schon einige Jahre alt, aber es ist so aktuell wie damals.
Ich habe in diesem Buch versucht darzulegen, welchen Weg unsere Gesellschaft aus heutiger Sicht wird gehen müssen.
Deutschland ist ein Einwanderungsland und aus demographischen Gründen nahezu gezwungen, eines zu bleiben und um die klugen Köpfe dieser Welt zu konkurrieren.
Wir brauchen eine konzeptionell strukturierte Einwanderungspolitik. Zufall und Bildungsferne werden unsere Gesellschaft nicht stärken, sondern schwächen und die Sozialsysteme sprengen.
Die Integration aller in unser Wertesystem und in die hier geltenden gesellschaftlichen Lebensregeln ist keine Wohlfahrtsveranstaltung, sondern die Voraussetzung zum Überleben unserer Gesellschaft nach heutigen Maßstäben.
Die Integration in eine Leistungsgesellschaft ist ohne Bildung und ohne Bereitschaft zur Bildung nicht möglich. Das berechtigte Streben nach Wohlstand darf nie das Sozialsystem zur Grundlage haben.
Der Wunsch des Einzelnen nach einem eigenen Lebensentwurf und einem emanzipierten Leben steht auf einer Stufe mit der Pflicht der Gesellschaft, die Wege dafür durch Chancengerechtigkeit zu öffnen.
Unser Bildungssystem muss sich stärker auf die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen aus Unterschichten und dem Milieu der Bildungsferne einstellen. Kindergartenpflicht und gebundene Ganztagsschulen werden hierfür die konsequenten Bausteine sein.
Eine zwischen den gesellschaftlichen Schichten ausgewogene Geburtenrate ist langfristig von immenser Bedeutung. Aus diesem Grund dürfen familienpolitische Stimulanzen nicht ausschließlich auf die Unterschicht ausgelegt sein.
Deutschland muss in die Zukunft des Landes und damit in die Infrastruktur für Kinder investieren und nicht reparieren und alimentieren.
Die Würde jedes Einzelnen ist unantastbar. Unser demokratisches Staatsgefüge mit einem Gesellschaftsaufbau nach Maßgabe der Grundrechte und mit den Prinzipien der Toleranz und des Humanismus ist gegen jeden aktiv zu verteidigen. Es gibt keine Deckmäntel, wie immer sie auch heißen, die einen Kulturrelativismus akzeptabel machen.
Die Ordnungsprinzipien des täglichen Lebens gelten auch für Einwanderer. Wer mit den Gesetzen dieses Landes nicht leben kann oder leben will, wem das Leben zu liberal und zu gottlos ist und wer sich nach feudalen Lebensverhältnissen sehnt, dem sei viel Erfolg bei der Suche nach einem Ort irgendwo auf der Welt gewünscht, der seinen Idealen besser entspricht.
Ich glaube, dass es viele Menschen unterschiedlichster politischer Herkunft gibt, die sich hinter den vorstehenden Punkten versammeln können. Die Frage ist immer nur, wie wir solche Grundsätze im Alltag leben. Mit verklärtem oder mit klarem Blick?
Kurz vor dem Abschluss der Arbeiten zu diesem Buch nahm ich an einer der üblichen Tagungen teil. Ich war wie immer als Mann der klaren Sprache eingeladen, sollte den Konterpart zu den anwesenden Gutmenschen darstellen, auf Neudeutsch also den bad boy geben. Was bestellt wurde, habe ich geliefert. Ohne dramaturgische Übertreibungen und rhetorische Kunstkniffe. Ich habe einfach nur so aus meinem Alltag berichtet. Das reicht erfahrungsgemäß für Zuhörer aus dem gehobenen Bildungsbürgertum völlig aus. Viele können sich die Lebensverhältnisse in einem sozialen Brennpunkt noch nicht einmal im Traum vorstellen.
Ich bekam anschließend von dem Vorsitzenden einer großen deutschen Stiftung tüchtig Schimpfe. Er könne überhaupt nicht verstehen, warum ich so negativ und resignierend vor ihm gesprochen hätte. (Hatte ich gar nicht!) Es gebe doch viele gute Beispiele, die Mut machten. Er zitierte Frau Prof. Dr. Böhmer, dass wir in jüngster Vergangenheit bei der Integration einige große Schritte nach vorn gemacht hätten. Spontan erinnerte ich mich dabei an ihre Aussage, dass es nur noch eine Frage kurzer Zeit wäre, bis Kanada Deutschland um seine Integrationserfolge beneiden würde. Das ist nichts anderes als eine autosuggestive Scheinwelt, die den außenstehenden Betrachter sprachlos macht. Dazu passt die Abschiedsbotschaft des Berliner Integrationsbeauftragten Günter Piening im Sommer 2012: »Die (Bundes-)Länder haben ihre Bildungseinrichtungen von der Krippe bis zur Sekundarschule interkulturell fit gemacht.« Man kann sich aber auch alles schönreden.
Natürlich ist es so, dass es viele gute, Mut machende und vorbildliche Einzelschicksale, Projekte, Maßnahmen oder Vorhaben gibt. Darüber besteht nirgendwo Dissens. Ich fragte aber eingangs, woran man die Verkehrssicherheit einer Kreuzung misst: an der Zahl der Fahrzeuge, die sie reibungslos passieren, oder an den Unfällen, zu denen es dort kommt.
Wenn es so bleibt, dass die einen auf dem Berg stehen und auf ihre Erfolge verweisen und die anderen auf dem Nachbarberg auf die im Tal Verbliebenen zeigen, dann wird deutlich, was der Wissenschaftler und Autor Hamed Abdel-Samad meint, wenn er die deutsche Gesellschaft eine asymmetrische Gesellschaft nennt. Eine Gesellschaft, die auseinanderstrebt und in der die Kluft zwischen den gesellschaftlichen Schichten immer größer wird. Also eine, die Abiturienten in Berlin-Neukölln hervorbringt und sie dann nach Berlin-Steglitz segregieren lässt, während der Anteil der Ausgegrenzten in Neukölln unvermindert aufwächst. Das bedeutet, dass alle, die sich nur am partiellen Erfolg ihrer gelungenen Projekte berauschen, aber konsequent die Augen vor den Zurückgebliebenen verschließen, trotz allen Engagements und aller guten Taten zu Architekten der asymmetrischen Gesellschaft werden.
Es gibt viele asymmetrische Gesellschaften auf dieser Erde. Es gibt bei uns auch Parallelgesellschaften. Beide mag ich nicht. Ich bleibe beim Idealbild der integrierten Gesellschaft und habe mir dafür den Ansatzpunkt bei den Kindern ausgesucht.
Wir werden den Knick im Tunnel, hinter dem das Licht an seinem Ende zu sehen ist, erreichen. Das ist sicher. Neukölln ist überall. Aber vielleicht werden spätestens dann andere Städte froh sein, zum Kreis der Neuköllns zu gehören. Gemeinsam sind wir stark. Deshalb wird es für alle immer mehr zur Gewissheit:
Wo Neukölln ist, ist vorne.
Sollten wir einmal hinten sein, ist eben hinten vorne.


                                    ENDE
« Last Edit: November 04, 2012, 09:56:32 am by KarlMartell »