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KarlMartell

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Für 120 Euro ins gelobte Land
« on: November 11, 2012, 12:03:07 pm »
ZUWANDERER

Für 120 Euro
ins gelobte Land


Roma aus Mazedonien und Serbien kommen nach Deutschland
und beantragen Asyl, ihre Zahl steigt. Auch die
Daheimgebliebenen planen die Abreise. Ein Bericht aus den
Elendsvierteln von Skopje und Belgrad. Von Özlem Gezer

Für Orhan beginnt der Weg nach
Deutschland in einem Internetcafé,
es liegt in einer Seitenstraße von
Shutka, dem Roma-Viertel im Norden der
mazedonischen Hauptstadt Skopje. Stromkabel
hängen von der Decke, eine weiße
Neonröhre beleuchtet die verstaubten
Bildschirme, statt einer Wand gibt es eine
Plastikplane, dahinter steht Orhan, 27, und
zündet sich eine Zigarette an. Er ist nervös,
seine Schwester Fatima sitzt vor einem
der Bildschirme, sie hat gleich ihr erstes
Date mit Deutschland.
Fatima wartet auf einem Holzstuhl in
Shutka, ihr Zukünftiger auf einer Ledercouch
in Düsseldorf, sie werden sich heute
zum ersten Mal sehen. Fatimas Ticket
nach Deutschland guckt in die Webcam,
trägt einen Kapuzenpullover, ist 19 Jahre
alt und ziemlich dick. Fatimas Mutter und
die Frauen aus der Nachbarschaft bewachen
das Treffen. Sie alle wollen wissen,
ob Fatima dem jungen Mann aus Deutschland
gefällt, denn dann, so hoffen sie,
könnte auch Fatimas Familie wegkommen
aus Shutka, der inoffiziellen Hauptstadt
der Roma in Europa.
Wer durch die Straßen von Shutka
läuft, hört die Menschen fluchen. Sie sagen:
„Scheiße Shutka“, „alle verarschen
uns hier“, „wir haben keine Kohle“ – sie
sagen das auf Deutsch.
Einige der Roma aus Shutka haben sich
in den neunziger Jahren als Tagelöhner
in deutschen Großstädten durchgeschlagen,
viele waren Kriegsflüchtlinge, sie
hatten während des Jugoslawien-Kriegs
Asyl in der Bundesrepublik gesucht und
wurden nach dem Ende des Konflikts wieder
abgeschoben. Sie haben noch Freunde
und Verwandte dort. In den Köpfen
der Menschen ist Deutschland immer präsent:
als ein Versprechen auf Wohlstand
und ein besseres Leben.
Orhan sagt, wenn die Eheanbahnung
gut läuft, wird der Fremde nach Shutka
kommen und Fatima mitnehmen nach
Düsseldorf. Orhan sagt, dass der neue
Schwiegersohn dann auch für den Rest
der Familie die Bustickets zahlen wird.
Und wenn alle sieben Familienmitglieder
erst einmal in Deutschland seien, werde
er für sie die Asylanträge stellen. Orhan
sagt, man braucht immer einen Helfer,
einen, der sich auskennt mit dem deutschen
Recht, einen Asyl-Lotsen, damit
alles klappt mit dem Neustart in Deutschland.
Auf eigene Faust mache man zu
viele Fehler.
Die Roma-Viertel der serbischen Hauptstadt
Belgrad liegen 450 Kilometer näher
an Deutschland, für die Menschen dort
scheint das Land jedoch viel weiter weg.
In der illegalen Siedlung Antena am Ende
der Buslinie 75 gibt es kein Internet, kein
Skype und keine Verwandten in Deutschland.
Und deshalb gibt es auch keinen,
der zeigen könnte, wie man am besten
dort hinkommt. Es gibt nur Menschen wie
Asim, 25, der hinter einem brennenden
Berg Abfall steht und sich die Hände
wärmt. Er hat keine Papiere, keine Geburtsurkunde,
und das bedeutet: keine
Arbeit, keine Sozialhilfe, kein Kindergeld.
Autoreifen stützen die Pappe, die seine
Wellblechhütte abdeckt. Drinnen sitzt
Asims Frau und stillt ihre sechs Monate
alte Tochter, die eine Windel aus Serviet-
ten trägt, die Asim im Müll der Belgrader
gesammelt hat. Die Toiletten der Erwachsenen
sind Erdlöcher. Es riecht nach verschimmelten
Lebensmitteln, das verbrannte
Plastik beißt in der Lunge.
Asim sagt, in Antena sei ein Tag gut
gelaufen, wenn die Totengräber auf dem
anliegenden Friedhof nicht das Wasser
abstellen, so dass sie mit ihren Plastikflaschen
welches holen können. Es ist gut,
wenn am Abend in der Wohnsiedlung
nebenan der Strom fließt und sie illegal
Elektrizität zapfen, es ist gut, wenn sie
es schaffen, nachts das Gesicht ihrer Tochter
vor Rattenbissen zu schützen. Asim
sagt: „Wann, wenn nicht jetzt, soll ich abhauen
aus diesem Elend?“
Seit Ende 2009 brauchen Bürger Mazedoniens
und Serbiens für Deutschland
kein Visum mehr. Die EU will den Staaten,
die Beitrittskandidaten sind, ihren
guten Willen zeigen. Doch für die Ärmsten
in Mazedonien und Serbien ist die
Visumfreiheit die Freiheit zur Flucht.
Weniger als ein Prozent der Asylanträge
aus Serbien und Mazedonien werden
angenommen. Die Menschen ahnen, dass
auch sie erfolglos sein werden, aber sie
verstehen nicht, warum. Sie kommen
trotzdem und wollen bleiben. Jeder sucht
seinen eigenen Weg ins vermeintliche
Glück. Orhan aus Mazedonien will seine
Schwester vorschicken. Asim aus Serbien
will einfach ins Ungewisse fahren. Die einen
sind arm und chancenlos, sie kommen,
weil sie wissen, wie reich Deutschland
ist; die anderen kommen, weil sie
ihr jetziges Leben nicht mehr aushalten.
Bis Ende Oktober dieses Jahres stellten
knapp 4000 Menschen aus Mazedonien
einen Asylantrag in Deutschland, etwa
fünfmal so viele wie im Vorjahr. Seit dem
Sommer kamen mehr Asylbewerber nur
noch aus Serbien, insgesamt knapp 7000.
Die meisten sind Roma.
Am Marktplatz von Shutka gibt es ein
Reisebüro, im Schaufenster hängen die
aktuellen Angebote. Ein Busticket von
Mazedonien nach Frankreich kostet 27
Euro, nach Düsseldorf sind es 120 Euro,
obwohl die Strecke kürzer ist. Orhan
sagt, die Nachfrage bestimme hier den
Preis, Deutschland habe nun mal den
besten Ruf bei den 40000 Menschen in
Shutka.
Sie haben hier den einzigen Bürgermeister
Mazedoniens, der selbst ein Rom
ist. Aber eine Heimat bietet Shutka trotzdem
nicht. Die Menschen am Marktplatz
träumen von einem Leben in Westeuropa,
die meisten von ihnen wollen nach
Deutschland. Im Gegensatz zu den Menschen
in der Belgrader Siedlung sind die
Menschen hier gut informiert über den
deutschen Sozialstaat. Sie sprechen vom
„Jobcenter“, manche sagen noch „Arge“.
Sie wissen, wie hoch das Kindergeld ist,
sie haben von den Krankenhäusern und
den Schulen gehört. Sie wissen auch, dass
Asylbewerber seit August mehr Geld bekommen.
Der gute Ruf Deutschlands in Shutka
liegt vor allem an jungen Männern wie
Orhan. Sie erzählen Sehnsuchtsgeschichten
vom Paradies zwischen Fürth und Osnabrück,
das sie aus ihrer Kindheit kennen.
Orhans Eltern flohen schon 1986 aus
Albanien nach Paderborn. Die Roma-Familie
stellte dort einen Antrag auf Asyl,
Orhan besuchte die Grundschule, lernte
die Sprache. Der deutsche Traum währte
sechs Jahre lang.
Anfang der neunziger Jahre war er vorbei.
Die nordrhein-westfälische Landes -
regierung wollte die Roma wieder los -
werden. Doch statt sie umstandslos abzuschieben,
ersann die SPD ein sogenanntes
Re integrationsprogramm. Die Idee war,
den Menschen vor Ort in ihrer Heimat
zu helfen. Orhans Vater nahm das Rückführungsangebot
der Deutschen an, er
bekam 300 Mark Reisebeihilfe und sechs
Monate lang 400 Mark, dann sollte er in
Shutka Fuß gefasst haben.
Das von Nordrhein-Westfalen bezahlte
Haus der Familie war 60 Quadratmeter
groß, es stand in Shutka, an einem Ort
ohne Kanalisation, fließend Wasser und
Müllabfuhr – niemand hier hatte eine realistische
Chance auf Arbeit. Die meisten
der Reintegrierten sahen Shutka zum ersten
Mal. Die Helfer gingen wenige Jahre
später, Orhan zeigt das verlassene Gebäude
vom Roten Kreuz, die ehemalige Niederlassung
der Caritas, einen Schuttberg.
Für Orhan ist Shutka Europas größtes
Ghetto. Ein Ort, wo die Menschen draußen
leben, klauen, Drogen nehmen. Ein
Ort, wo das Wasser für einen ganzen Straßenzug
aus einem grünen Schlauch
kommt. Wo ein Mann mit zitterndem
Bein vor seiner Haustür sitzt und vergebens
auf einen Krankenwagen wartet,
nachdem ein Auto ihn angefahren hat. Es
gibt kein eigenes Krankenhaus, keine eigene
Feuerwehr. Die Polizei kommt nur
selten. Shutka überlebt am Tropf von Western
Union: Am Schalter auf dem Marktplatz
lassen sich die Menschen die Transfers
ihrer Verwandten aus Deutschland
auszahlen. Manchmal kommt das Geld
auch aus Italien oder aus der Schweiz.
Auch Orhan erhält ab und zu von Verwandten
Geld, mal 50 Euro, manchmal
70. Wie fast alle seine Freunde ist auch
Orhan arbeitslos. „Ich arbeite privat“, so
nennt er es, wenn er für fünf Euro am
Tag an einer Autowaschanlage steht und
zwölf Stunden lang Autos poliert, wenn
er 300 Plastikflaschen sammelt, um vier
Euro dafür zu bekommen.
Orhan hat zwei Kinder, die Pampers
für den Jüngsten kauft er einzeln, weil
das Geld meist für eine Packung nicht
reicht. Seit Jahren ist der Strom abgestellt,
weil Orhan die Rechnung nicht bezahlt
hat.
Auch Orhans bester Freund Dino ist
ein Reintegrierter aus Deutschland.
Abends sitzen die beiden im Café am
Marktplatz, einem Treffpunkt für arbeitslose
junge Männer, sie sprechen Deutsch
miteinander. Draußen fahren Busse vorbei,
eine Spende aus Deutschland, an der
Tür klebt noch eine Pappe: „Bitte Fahrkarte
vorzeigen“. Das gelobte Land ist in
Shutka allgegenwärtig.
Orhan war vor einigen Monaten zu Besuch
in Paderborn, tagsüber hat er Autos
poliert. Für 50 Euro am Tag, schwarz.
Dino reiste nach Köln, seitdem träumt er
von neuen Klamotten von H&M und
Zara. Und einem Kindergarten für seine
drei Töchter. Er möchte nicht mehr mit
seiner Frau auf der Couch seines Großvaters
leben. Er sagt: „Deutschland hilft
doch jedem, Afrikanern, Arabern, warum
nicht uns?“
Orhan und Dino, die Deutschland-Experten,
sprechen von ihrer alten Heimat,
und alle, die noch nie dort waren, hören
gespannt zu. Vor allem Dino kann gut reden,
er verdient sogar ein bisschen Geld
damit. Wenn eine Frau Depressionen hat,
dann treibt Dino böse Geister aus. Wenn
ein Kind zu viel zappelt, ist der Neid der
Nachbarn schuld, den Dino dann verscheucht.
Orhan und Dino verlassen Shutka selten.
Sie sagen, wer aus Shutka komme,
finde im Zentrum von Skopje keine Arbeit.
Aber auch in Shutka wird es schlechter:
Ein Drittel der Händler auf dem großen
Basar haben ihre Stände geschlossen
und sind in den Westen aufgebrochen.
Ein deutscher Freund von Dino hat ihm
bei Facebook vor ein paar Wochen geschrieben:
„Bruder, alle deine Leute sind
hier, warum kommst du denn nicht?“
Mehr als alles andere sind es die
Deutschland-Geschichten, die sich die
Heimkehrer erzählen, die andere dazu
bringen, selbst aufzubrechen. Auch Asim
in der Müllsiedlung in Serbien gab eine
solche Geschichte den letzten Anstoß. Vor
ein paar Wochen saß er das erste Mal mit
jemandem zusammen, der von Deutschland
schwärmte. Sie hockten vor dem
brennenden Plastik, und der Mann erzählte.
Von der AOK-Karte, mit der einen alle
Ärzte behandeln, von den sauberen Straßen
in Bonn und von seinem Lieblingsverein
Bayern München. Die Geschichten
hätten ihm Hoffnung gemacht, sagt Asim.
Seit einigen Tagen hat er eine Visitenkarte
von einem serbischen Rom, der mit
einem Kleintransporter auch Menschen
ohne Papiere über die Grenze schmuggelt.
Die Reise nach Deutschland würde
Asim 680 Euro kosten. 200 Euro für ihn
und seine Frau, 80 für die sechs Monate
alte Tochter, 400 Euro, um die Beamten
an der serbischen Grenze zu schmieren.
Asim sagt, alles sei besser, als hier im
Dreck der anderen herumzukriechen.
„Lieber illegal in Deutschland als unsichtbar
in Serbien.“
Seit 2009 hat Belgrad sieben von mehr
als hundert illegalen Roma-Siedlungen
wie Antena aus dem Stadtkern entfernt.
Die serbischen Grenzen wurden in den
vergangenen Wochen strenger kontrolliert,
die Balkanregierungen treibt die
Sorge, dass man die Visumfreiheit wieder
verlieren könnte. Schuld daran sind sechs
EU-Innenminister, die sich über den Anstieg
an Asylanträgen von Menschen aus
Mazedonien und Serbien beschwert haben,
darunter auch Bundesinnenminister
Hans-Peter Friedrich. „Der massive Zustrom
serbischer und mazedonischer
Staatsangehöriger muss unverzüglich
gestoppt werden“, forderte der CSUMann.
Friedrichs Befürchtungen sind in Antena
nicht angekommen, die Schlepper
nehmen weiter Bestellungen an. Asim
will im Dezember losfahren. Den Schleppern
könne er das Geld dann in Raten
zahlen, wenn er in Deutschland angekommen
sei und Geld vom Staat bekomme.
In Shutka kennen die Menschen die
politische Debatte genau, ihre Reisepläne
ändern sie deswegen nicht.
Auch Orhan hat Grund zu hoffen, dass
es bald losgeht. Der Fremde aus Düsseldorf
hat ausrichten lassen, dass ihm Fatima
gefallen habe. Er werde in den nächsten
14 Tagen kommen und um ihre Hand
anhalten. Fatima sitzt in einem der hinteren
Zimmer. Sie hatte sich extra die Haare
nicht gekämmt, die abgekauten Fingernägel
nicht lackiert. „Er ist so dick“,
sagt sie immer wieder.
Aber sie sagt auch, vielleicht sei es das
Beste für sie und ihre Familie. Orhan sagt,
sie werden für Fatima 5000 Euro Brautgeld
fordern, sie sei schließlich noch Jungfrau.
Wenn der neue Schwiegersohn dann
nicht helfen sollte bei der Einreise, würden
sie das Ganze selbst in die Hand nehmen.
Orhan sagt, es werde Zeit, rauszukommen
aus Shutka, dem Ghetto, zurück
in die alte Heimat.

DER SPIEGEL 46/2012, S. 38-41

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