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KarlMartell

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Der gefährlichste Rivale
« on: December 23, 2012, 11:55:22 pm »
ÄGYPTEN

Der gefährlichste Rivale

Drei Männer führen die Opposition gegen Präsident Mursi
und die Muslimbrüder an. Der beliebteste von
ihnen ist Hamdin Sabahi, der bei den Wahlen knapp verlor.

Draußen bereiten sich die Menschen
gerade auf das Referendum
über die Verfassung vor, der Lärm
von Kairo dringt nur gedämpft hinein.
Hamdin Sabahi steht in einem Büro im
Botschaftsviertel Samalik und genießt die
Stille. Er ist gelassen, er ahnt noch nicht,
dass sein Leben an diesem Abend, am
Samstag vergangener Woche, in Gefahr
sein wird. „In der Stadt fühle ich mich
immer noch wie ein Fremder. Im Grunde
bin ich immer noch der Junge vom Dorf“,
sagt Sabahi und lächelt.
Seit Ende November führt Hamdin Sabahi
zusammen mit dem Friedensnobelpreisträger
Mohamed ElBaradei und Amr
Mussa, dem ehemaligen Generalsekretär
der Arabischen Liga, die „Nationale Rettungsfront“
an, das größte Oppositionsbündnis
gegen die Islamisten. Es ist eine
fragile Koalition mit großen ideologischen
Unterschieden, doch sie hat es geschafft,
den Frust über die Muslimbruderschaft
in einer neuen Protestbewegung
zu kanalisieren. Unter dem Druck
der Opposition trat nun auch der Generalstaatsanwalt
zurück, und die Richter
weigerten sich, die zweite Runde des Verfassungsreferendums
zu überwachen.
Geschlossen haben Sabahi, Mussa und
ElBaradei dazu aufgerufen, die Verfassung
abzulehnen – und wenn man der Opposition
glaubt, haben 66 Prozent der Ägypter
das in der ersten Runde getan. 57 Prozent
hätten dafür gestimmt, sagt dagegen Präsident
Mohammed Mursi. Die Frage ist,
wem die Menschen glauben werden.
An diesem Samstag folgt die zweite
Wahlrunde, und es wird sich entscheiden,
ob Ägypten bald eine islamistisch geprägte
Verfassung hat. Aber es stehen auch
die Erfolge der Revolution auf dem Spiel:
die Frage, ob das Volk mitbestimmen darf
und die Justiz unabhängig sein kann –
oder ob die Armee und ein paar alte Männer
weiterhin das Sagen haben.
Hamdin Sabahis Nächte waren kurz in
jüngster Zeit, er hat Proteste angeführt
und Reden gehalten, um das Referendum
zu verhindern. Er sieht müde aus, seine
Augen sind dunkel unterlaufen, der Anzug
ist knittrig. Dennoch wirkt er so selbstzufrieden
wie auf seinen Wahlplakaten, etwas
pausbäckig, grauhaarig, lächelnd: ein
57-jähriger ehemaliger Journalist, der vor
einem halben Jahr Präsident werden wollte.
Und es beinahe wurde.
Nun ist Sabahi wieder da, der vielleicht
lauteste Gegner der Muslimbrüder. Er hat
Präsident Mohammed Mursi zum Rücktritt
aufgefordert, weil „ägyptisches Blut
vergossen wurde“. Sabahi ist es auch, der
am meisten von der wachsenden Abneigung
gegen die Bruderschaft profitiert.
„Die Muslimbrüder verspielen gerade
ihre letzten Sympathien, sie belügen das
Volk. Aber die Menschen lassen sich nicht
mehr für dumm verkaufen“, sagt Sabahi.
„Unsere Bewegung dagegen wächst. Wir
sind jetzt besser organisiert.“ Er spricht
gern über die nahe Zukunft, in der die
islamistische Bruderschaft wieder von der
Macht verdrängt wird. Bald ist es so weit,
Sabahi hat keinen Zweifel.
Dann verlässt er das Büro und macht
sich auf den Weg zum Hauptquartier seiner
Partei. Doch dort haben sich bereits
Hunderte junger, bärtiger Männer versammelt,
bewaffnet mit Knüppeln und
Brechstangen, sie brüllen: „Oh Hamdin,
gib auf, oder es wird Blut fließen!“
Es sind Salafisten, Anhänger eines Predigers,
der Sabahi zu einem „Feind der
Religion“ erklärt hat. An diesem Samstag
voriger Woche wollen die Islamisten dem
angeblich Ungläubigen eine Lektion erteilen.
Sie haben Brandsätze dabei und
versuchen, die Parteizentrale anzustecken,
sie denken vermutlich, dass Sabahi
darin ist. Polizisten rücken mit gepanzerten
Wagen an, gerade noch können sie
den Mob aufhalten. Sabahi ist nur noch
ein paar Straßen entfernt, als er gewarnt
wird. Schnell lässt er sich an einen sicheren
Ort fahren. Aber er will sich von den
Islamisten nicht zum Schweigen bringen
lassen. „Wer glaubt, mich einschüchtern
zu können, der kennt mich nicht.“
Wäre ihm etwas zugestoßen, vielleicht
wäre Ägypten dann vollends ins Chaos
abgeglitten. Denn Hamdin Sabahi ist einer
der beliebtesten Politiker im Land.
„Wenn sie ihn töten, gibt es einen Bür-
gerkrieg“, sagt ein Freund, der Filmemacher
Chalid Jussuf. „Dann gehen auch
die Fischer und Fellachen auf die Straße.“
Während ElBaradei und Mussa die liberalen
und bürgerlichen Kräfte hinter
sich sammeln, sind unter Sabahis Anhängern
Arbeiter und Bauern, die religiös,
aber nicht islamistisch sind. Das macht
ihn zum gefährlichsten Rivalen der Islamisten,
denn er fischt in ihrem Revier.
Zur Präsidentschaftswahl war er scheinbar
aus dem Nichts aufgetaucht, im Ausland
ist er bis heute kaum bekannt. Und
doch landete bei der ersten freien Präsidentschaftswahl
im Mai ausgerechnet Sabahi
auf dem dritten Platz, nur knapp
hinter dem Muslimbruder Mursi und dem
Mubarak-Vertrauten Ahmed Schafik.
Der Kandidat berief sich im Wahlkampf
auf Ägyptens ersten Präsidenten und
Volkshelden der fünfziger Jahre, Gamal
Abd al-Nasser. „Er war unser erster Herrscher,
der den Armen wirklich half und
sich bemühte, die krassen Einkommensunterschiede
abzubauen“, pries ihn Sabahi.
„Daran denken die Landarbeiter, Bauern
und Arbeiter zuerst, wenn von Nasser
die Rede ist. Erst danach denken sie an
die Schattenseiten, an den Polizeistaat
und die Übermacht des Militärs.“ Die Nasser-
Nostalgie ist groß in Ägypten, während
der Revolution war der einstige Präsident
auf Plakaten und in den Parolen
präsent. Und so wie einst Nasser ist auch
Hamdin Sabahi ein begnadeter Populist.
Doch der Hauptgrund für seine Beliebtheit
ist seine Glaubwürdigkeit. 17-mal saß
Sabahi in den vergangenen drei Jahrzehnten
im Gefängnis wegen seines politischen
Aktivismus. Er legte sich sowohl
mit Präsident Anwar al-Sadat an als auch
mit dessen Nachfolger Husni Mubarak,
kritisierte den Friedensvertrag mit Israel
ebenso wie die neoliberale Wirtschaftspolitik,
die das soziale Gefälle in Ägypten
verschärfte. Als das Mubarak-Regime in
den neunziger Jahren Nassers sozialistische
Bodenreform abschaffen wollte, ermutigte
Sabahi die Kleinbauern zum zivilen
Ungehorsam. Er rief zum Sitzstreik
auf und wurde verhaftet. Für solche Aktionen
lieben ihn seine Anhänger.
Nur wenige Wochen nach dem Sturz
Mubaraks im Februar 2011 kündigte Sabahi
seine eigene Kandidatur für die Präsidentschaft
an. „Wahid minninna“, „Einer
von uns“, war sein Motto. Volksnah
wollte er sein, der Sohn eines Bauern aus
einem Fischerdorf an der Mittelmeerküste.
Und endlich mehr soziale Gerechtigkeit
schaffen. Sein Programm sah unter
anderem die Verstaatlichung aller Stahlwerke
vor sowie eine Reichensteuer.
Der linke Nationalist spricht die Massen
an, denn er klingt glaubwürdig, wenn
er von seinem Kampf gegen die Armut
spricht. Doch realistisch ist seine Vision
eines neonasseristischen Ägypten kaum.
Sabahi schwärmt zwar nicht mehr vom
Panarabismus, aber er wünscht sich ein
„unabhängigeres Ägypten“ und misstraut
den USA zutiefst.
„Sabahi hat Charisma, aber alles andere
fehlt“, sagt der Kairoer Politologe Hassan
Nafaa. „Seine Positionen bleiben oft
vage.“ Er warnt davor, allzu hohe Hoffnungen
auf Sabahi zu setzen, der sich von
einer weltfremden Naivität leiten lasse.
Doch gleichzeitig werden in Ägypten, diesem
gespaltenen, polarisierten Land, genau
solche Politiker wie Sabahi gebraucht,
um den Armen Hoffnung zu schenken.
Der Schlüssel zu Sabahis Erfolg liegt
in der Provinz, im Nildelta. In Dörfern
wie Sumbat, etwa 80 Kilometer von Kairo
entfernt, eingebettet zwischen Reis- und
Weizenfeldern, einer Hochburg der Sa -
bahi-Unterstützer. Jede zweite Stimme
gaben sie ihm hier bei der Präsidentschaftswahl.
Eine staubige, von Eselkarren
befahrene Straße führt vorbei an bunt -
getünchten Wohnhäusern und Gemischtwarenläden.
In den Straßen hängen noch
die Wahlplakate: Das von Mursi wurde
mit Dreck beworfen, Sabahi lächelt unbeschadet
von seinem Poster herunter.
„Für uns gibt es nur ihn“, schwärmt
Ragdab al-Chuti, 53, Schreiber von Beruf.
„Er ist einer von uns. Er liebt Ägypten.
Was wollen wir mehr?“ Sein Nachbar,
der Bauer Mohammed Abd al-Asis Ghanim,
58, sagt: „Sabahi war jahrzehntelang
in der Opposition, er hat vor niemandem
Angst. Er hat die Revolution im Blut, deshalb
verehren wir ihn.“
Bei YouTube kann man Videos sehen,
aufgenommen von seinen Anhängern,
auf denen Sabahi durch das Land reist
und überall auf Menschen trifft, die ihn
erkennen. Sie wollen ihn anfassen und
umarmen, drücken ihm Küsse auf die
runden Wangen. Sie halten weinend seine
Hände und schreiben Gedichte, in denen
sie ihn als „Kaktusblüte auf der Stirn
der Unterdrückten“ preisen.
Es kümmert sie nicht, dass Sabahi 2005
in einer Fernsehshow al-Qaida für Angriffe
auf US-Soldaten im Irak lobte. Dass
er Verständnis hatte für Diktatoren wie
Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi,
solange diese nur gegen die Hegemonie
des Westens waren.
Beide Männer in Sumbat, der Schreiber
und der Bauer, haben gegen den Verfassungsentwurf
gestimmt. „Wenn diese Verfassung
durchkommt, ist das Betrug“, sagt
Ghanim. „Dann geht die Revolution in
eine neue Runde.“ Früher, erzählt er, seien
die Islamisten den Menschen hier egal
gewesen. Aber dann seien sie ins Dorf gekommen
und hätten erzählt, sie kämen
in den Himmel und die Dorfbewohner in
die Hölle, wenn sie nicht die Muslimbrüder
unterstützten. Seitdem würden sie
ihre letzten Anhänger in Sumbat verlieren.
„Jetzt hassen wir sie“, sagt Ghanim.
„Ich habe an Mursi geglaubt“, sagt Sabahi,
der Nasserist. „Aber er ist nicht der
Gleiche wie früher.“ Machthungrig sei
Mursi geworden, und er, Sabahi, habe
nun Angst, dass es auch ihm eines Tages
so ergehen könnte. Deshalb wolle er eigentlich
gar nicht mehr Präsident werden.
Er überlegt einen Moment. „Außer man
würde mich darum bitten.“

NICOLA ABÉ, DANIEL STEINVORTH,
VOLKHARD WINDFUHR

DER SPIEGEL 52/2012, S. 94/95
« Last Edit: December 24, 2012, 12:00:11 am by KarlMartell »

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