J U S T I Z
Ein unmöglicher Prozess
Nicht nur der Soldat Robert Bales steht jetzt vor Gericht. Sein Verteidiger will einen
Krieg anklagen, der aus Menschen Mörder macht. Mohammed Wazir,
der sechs Kinder verlor, möchte den Täter hängen sehen. Von Guido Mingels
Die 33 Perlen einer Gebetskette gleiten
durch seine Finger, 33-mal
Allahu akbar, Gott ist groß.
„Mein Name ist Mohammed Wazir. Ich
weine nicht. Ich habe zehn Finger an meinen
Händen. So war mein Schmerz an
diesem Tag: als würde man mir alle zehn
Finger abschneiden. Ich hatte sieben Kinder.
Ein Sohn ist mir geblieben.
Es macht die Toten nicht lebendig,
wenn ich weine.“
Grundlos lächelt er. Auf seiner
Hand eine Tätowierung,
zwei gekreuzte Säbel.
„Man fragt Allah nicht: ,War -
um hast du das getan?‘ Ich muss
duldsam sein. Dann wird der
Prophet mich dafür belohnen
im Paradies.“
Mohammed Wazir, 35, den
Turban nach Art der Paschtunen
gebunden, sitzt im Garten einer
Herberge in Kabul und beantwortet
Fragen. Man sucht nach
Spuren der Verzweiflung in seinem
Gesicht. Man sucht die
Trauer in seinen klaren, dunklen
Augen, findet sie nicht. Drei
Männer begleiten ihn, quittieren
mit nickendem Kopf seine langsamen
Sätze. Sie alle wollen
morgen mit dem Flugzeug nach
Mekka aufbrechen, zur großen
Pilgerfahrt, der Hadsch, Pflicht
für jeden Muslim.
In der Nacht auf den 11. März 2012, einen
Sonntag, geht um etwa 2.30 Uhr ein
Mann durch die Dunkelheit auf das Haus
zu, in dem Wazir mit seiner Familie lebt.
Das Haus steht in einem Dorf namens
Najiban, Provinz Kandahar, Afghanistan,
ewiger Krieg. Laut Anklage heißt der
Mann Robert Bales, er ist Angehöriger
der U.S. Army im Rang eines Staff Sergeant,
3. Stryker-Brigade, 2. Infanterie -
division, 39 Jahre alt. Im Haus schlafen
sechs von Wazirs Kindern, seine Frau, seine
Mutter, sein Bruder, dessen Gattin und
ein Neffe. Wazir ist nicht da. Er hat seinen
jüngsten Sohn mitgenommen, um Verwandte
zu besuchen.
„Warum hat der Mörder nicht auf
mich gewartet? Warum tötete er meine
Kinder und hat nicht auf mich gewartet?“
Was in seinem Gehöft und in zwei weiteren
Häusern in den Dörfern Najiban und
Alkozai am 11. März 2012 geschieht, weiß
bald darauf die ganze Welt. Die Tat erhält
einen Namen mit einem dunklen Klang,
das Massaker von Kandahar, und gilt
schon heute als das vielleicht gravierendste
Kriegsverbrechen des jüngsten Afghanistan-
Konflikts. Es gab Haditha im Irak,
es gab My Lai in Vietnam. Und es gibt die
16 Toten in den Dörfern um das US-Camp
Belambay, Distrikt Panjwai, Provinz Kandahar.
Ghamgina Wraz, trauriger Tag, so
nennen die Angehörigen der Opfer diesen
11. März, in afghanischer Zeitrechnung
der 21. Tag im zwölften Monat des Jahres
1390 nach dem Auszug des Propheten.
„Erst mal sehen, wie viel sie beweisen
können“, sagt Anwalt John Henry
Browne. Ein stilisierter Stacheldraht umkreist
seinen Arm, ein Tattoo.
Browne, 66, Löwenmähne, Hippie-Vergangenheit,
sechsmal geschieden, gilt als
Rockstar unter Amerikas Juristen, er hat
ein Leben lang Vergewaltiger und Mörder
vertreten, es waren Fälle, die Kameras
und Mikrofone anlocken. Außerdem mag
er Motorräder und spielte einst in einer
Band, die im Vorprogramm der Doors
auftrat. Einen Namen machte er sich
schon in den siebziger Jahren als einer
der Anwälte des Serienkillers Ted Bundy.
Was ihn treibt, beschreibt
Browne so: „Mich zieht juristisch
das Unmögliche an.“
Er faltet seine zwei Meter in
einen Mietwagen, weißer SUV,
und lässt sich zum Gefängnis in
Fort Leavenworth fahren, ein
Termin mit seinem Mandanten.
Auf dem Schoß hält er einen
Laptop, er scrollt durch ein
Dokument mit 5000 Seiten, die
Ergebnisse der militärischen
Ermittlungsbehörden im Fall
U.S. Army gegen Robert Bales.
34 Verstöße gegen das amerikanische
Wehrstrafrecht sind
aufgeführt, darunter 16 Morde,
6 versuchte Morde, mehrere
Fälle von Leichenverbrennung
sowie Missbrauch von Alkohol
und einem Anabolikum namens
Stanozolol.
Brownes Strategie vor Gericht
ist seit Jahrzehnten die
gleiche, und er wandte sie auch
im vergangenen Jahr an, als er
für den als „Barfuß-Banditen“
berühmt gewordenen Flugzeugdieb Colton
Harris-Moore eine milde Strafe erwirkte:
Er lenkt den Blick weg von der
Tat hin zu den widrigen Lebensumständen
des Angeklagten. Kaum hatte er das
Mandat für Staff Sergeant Bales übernommen,
erzählte er Reportern von dessen
zerstörerischen Kriegserfahrungen, von
seinen drei Einsätzen im Irak, von einer
im Dienst erlittenen Gehirnerschütterung,
von Symptomen eines posttraumatischen
Syndroms. Er sagte der „Seattle Times“,
Soldaten wie Bales seien „gebrochen, und
wir haben sie gebrochen“. Er sagte der
„New York Times“: „Nicht die Kreatur
ist das Monster, sondern Dr. Frankenstein,
der sie erschaffen hat.“ Er sagte der NBC:
„Hier steht der Krieg vor Gericht.“ Man
wird solche Sätze bald wieder hören von
ihm, wenn jetzt, am 5. November, in
Seattle und Kandahar die Anhörung in
einem Fall beginnt, den Browne als den
wichtigsten seiner Karriere versteht.
Die Garnisonsstadt Fort Leavenworth,
einst ein Symbol für die militärische Stärke
Amerikas, wird heute vor allem gemeinsam
mit Namen genannt, die Schande
über die Armee und die USA gebracht
haben. Charles Graner, einer der Folterer
von Abu Ghureib, saß hier seine Strafe
ab. Bradley Manning, mutmaßlicher Landesverräter
und Urheber der WikiLeaks-
Datensätze, war lange hier untergebracht.
Hinter einem Hügel liegt die Anstalt,
flach in die Ebene geduckt. Auf den Betonmauern
glitzert der Nato-Draht in der
heißen Sonne von Kansas. Irgendwo da
drin sitzt auch Robert Bales, den sie im
Internet „Kandahar-Killer“ nennen, den
seine Gattin Kari „den besten aller Ehemänner“
nennt.
Einmal, als Kari mit den beiden Kindern
Quincy, 5, und Bobby, 2, zu Besuch
war in Fort Leavenworth, da hat sie mit
ihrem Mann gefeiert, dass der kleine Bobby
das erste Mal aufs Töpfchen ging.
An den zwei jüngsten Leichen in Najiban,
jenen von Nabia, 4, und Palwasha,
1, konnten Zeugen keine Schusswunden
erkennen, der Täter hat sie vermutlich
bei lebendigem Leib verbrannt, oder sie
erstickten, als er seine Opfer auf einen
Haufen schichtete, mit Decken bewarf,
alles in Brand steckte.
Als Wazir seine toten Kinder beschreibt,
zählt er sie von den Fingern ab.
„Esmatullah war mein ältester Sohn. Er
war etwa 15. Er ging in die Koranschule
in der Moschee. Er konnte lesen und
schreiben. Wir hatten Hochzeitspläne für
ihn. Faizullah war etwa 11. Er fuhr gern
Fahrrad. Er brachte uns Tee auf die Felder.
Masooma war 9. Ihr Name bedeutet ,Unschuld‘.
Sie bastelte kleine Puppen und
nähte ihnen Gesichter. Farida war 7. Sie
half ihrer Mutter. Nabia war vielleicht 4.
Palwasha war noch ganz klein.“
Was ist Gerechtigkeit, John Henry
Browne?
„Gleichheit vor dem Gesetz. Darum
verteidige ich jene, die am Rande stehen,
die Unverteidigbaren. Solche wie Bales.
Wenn der Staat sie fallenlässt, sie willkürlich
zum Tod verurteilt, ist unsere gesamte
Verfassung nichts wert.“
Was ist Gerechtigkeit, Mohammed Wazir?
„Wir wollen diesen Mann hängen sehen.
Ich werde seinen Namen nicht aussprechen,
ich möchte meinen Mund nicht beschmutzen.
Ich selbst möchte ihn erhängen.
Ich werde zum Mahkama nach Amerika
gehen, zum großen Gericht, um ihn
hängen zu sehen. Dann wird mein Herz
ruhig sein.“ Seine Begleiter nicken träge.
Mahkama, Paschtu für „Gerichtsversammlung“:
So nennt Mohammed Wazir
das Podium, vor das er treten will.
Article 32 Hearing: So nennen John
Henry Browne und die amerikanische Militärjustiz
die Anhörung, die am 5. November
beginnen wird und bei der überhaupt
erst entschieden wird, ob und zu
welcher Art von Strafverfahren es kommen
wird in der Zukunft. Sie wird gleichzeitig
in Tacoma bei Seattle und in Kandahar
stattfinden, die Anklage wird ihre
Erkenntnisse präsentieren, Zeugenaus -
sagen von Überlebenden werden live in
den Verhandlungssaal an der US-Westküste
gesendet. Staff Sergeant Robert
Bales wird zugegen sein. Am Ende wird
der Vorsitzende entscheiden, ob die Ermittler
genügend belastendes Material
gesammelt haben, um das oberste US-Mi -
litärgericht einzuberufen, General Court-
Martial genannt, und er wird auch entscheiden,
ob es zu einem Prozess mit dem
Antrag auf Todesstrafe kommen wird,
wie es die Anklage zweifellos fordern
wird. Bis zu einem Urteil kann es Jahre
dauern.
Mohammed Wazir räuspert sich, speit
Kautabak zu Boden.
„Das Gericht in Amerika“, so erklärt
er nun, „wird den Mörder schuldig sprechen.“
Anschließend werde man ihn, Wazir,
und die anderen Angehörigen der Opfer
fragen, wie der Täter bestraft werden
soll. Erschießen, sagt Wazir, sei nicht qualvoll
genug. Als wäre nicht längst klar, was
er sich wünscht, verdeutlicht Mohammed
Wazir mit Gesten seinen Wunsch nach
Gerechtigkeit, er legt sich eine unsichtbare
Schlinge um den Hals, zieht sie zu.
John Henry Browne halbiert im Frühstücksraum
des „Q Hotel + Spa“ nahe
Fort Leavenworth einen Bagel. Das Treffen
mit seinem Mandanten sei gut verlaufen,
sagt er, Bales sei bei guter Moral, vermisse
aber seine Familie. Während er
kaut, resümiert Browne die Beweislage.
„Es gibt keine Fingerabdrücke. Es gibt keine
Blutproben. Es gibt keinerlei forensische
Daten. Es gibt kein Geständnis.“ Und
sein Mandant habe keinerlei Erinnerung
an die Tatnacht.
Die Toten wurden, wie es Brauch ist
unter Muslimen, so rasch wie möglich beigesetzt,
es gab keine Obduktionen, es
wurden keine Projektile sichergestellt.
Die amerikanischen Ermittler erhielten
aus Sicherheitsgründen erst mehrere Tage
nach der Mordnacht Zugang zu den Tat-
orten, als alle Spuren längst verwischt
waren. Aus Sicht von Browne ist bis heute
nicht erwiesen, wie viele Menschen gestorben
sind, die Identitäten seien unklar,
er habe keine Totenscheine gesehen. Für
John Henry Browne existiert nur, was bewiesen
werden kann. Für John Henry
Browne sind die Toten von Najiban und
Alkozai nicht mehr als Gerüchte.
Mohammed Wazir zählt Perlen ab mit
seinen Fingern, 33-mal al-hamdu lillah,
Gott sei gelobt. Die Amerikaner hätten
ihn gefragt, ob man die Leichen seiner
Familie exhumieren dürfe, für Unter -
suchungen. Er sagt: „Niemals würden
wir zulassen, dass unsere Märtyrer geschändet
werden. Ich habe sie gese -
hen. Sie sind tot. Der Mörder ist im Gefängnis.
Was wollen diese Leute noch
beweisen?“
Er bezweifle, sagt Anwalt Browne in Fort
Leavenworth, dass es Zeugen gebe, die seinen
Mandanten identifizieren können, „es
war ja stockdunkle Nacht“. Für die An -
hörung wird er im November nach Kandahar
fliegen, wird im gepanzerten Fahrzeug
zu einem Armee-Camp fahren, um Überlebende
zu verhören, alles synchron übersetzt
und live übertragen nach Seattle. Etliche
Zeugen allerdings, „vor allem die Frauen“,
sagt Browne, würden jede Aussage
verweigern. Was ihm nur recht sein kann.
„Niemals geht eine Frau zum Mahkama“,
sagt Mohammed Wazir. Solange
eine Frau einen männlichen Verwandten
habe, der für sie sprechen könne, werde
sie nicht zum Gericht geschickt. Die Opferfamilien
haben bereits bestimmt, wer
Zeugnis ablegen soll vor dem Gericht, es
sind die Ältesten, die Respektspersonen.
Dass sie nicht dabei waren, spielt keine
Rolle, Wahrheit ist hier nicht abhängig
von Augenzeugenschaft, sondern von
Autorität.
Rafiullah aber war dabei.
Er spielt im Garten des Hotels in Kabul
mit einem Mobiltelefon. Auch er kennt
sein Alter nicht genau, Wazir sagt, er sei
etwa so alt, wie sein Ältester war, als er
starb, also 15. Ein Flaum über der Oberlippe,
pechschwarzes Haar.
„Wir hatten erst eine Seite Schlaf.“ Das
ist die Antwort von Rafiullah, dessen
Haus der Täter wohl zuerst heimsuchte,
auf die Frage, wann er aufgewacht sei
vom Lärm der Schüsse, am 11. März 2012.
Er messe das Verstreichen der Zeit in der
Nacht anhand seiner Schlafposition, erklärt
er. Wache er in derselben Lage auf,
in der er und seine Geschwister sich hingelegt
hätten, seien vielleicht ein paar
Stunden vergangen seit dem Einschlafen.
Klar ist: Als der Täter das Haus von
Rafiullah im Dorf Alkozai wieder verlässt,
hat er vier Menschen umgebracht, die
erste Beute dieser Nacht. Etliche weitere
sind verwundet, darunter Rafiullahs
Schwester Zardana, die eine Hirnverletzung
erleidet und später mehrere Monate
zur Behandlung in den USA verbringt,
sie kann nicht mehr richtig gehen. Rafiullah
selbst überlebt mit einem Durchschuss
am linken Oberschenkel und einem
Streifschuss am rechten. Seit seine
Schwester zurück sei, sagt Rafiullah, würden
sie beide nicht mehr genug Schlaf bekommen,
weil „in fast jeder Nacht einer
von uns schreiend aus einem Traum erwacht
und den anderen weckt“.