Hatten die Gefangenen die Möglichkeit, Kontakt nach außen aufzunehmen?
In den ersten drei, vier Monaten gar nicht. Da wurden sie gefoltert, und kein Kontakt nach außen war erlaubt. Man durfte nicht einmal telefonieren und den Eltern sagen: Ich bin inhaftiert worden. Die Eltern wussten nicht, wo ihre Kinder sind. Nachdem die erste Zeit der Verhöre und Folter vorbei war, durfte man anrufen. Manchmal durften die Eltern ihre Kinder im Gefängnis besuchen. Hinter einer Glasscheibe sahen sie sie für fünf Minuten und konnten durch einen Hörer mit ihnen sprechen. Gefangene durften auch an die Eltern schreiben – vier Zeilen.
Was sagt man den Eltern, wenn man sie wiedersieht?
Erst mal ist man sprachlos. Alle Gefangenen stehen hinter der Scheibe, auf der anderen Seite stehen die Eltern, die weinen, wenn sie ihre Kinder sehen. Die meisten Gefangenen hatten verletzte Beine. Die Glasscheibe reichte aber nur bis zur Brust herab. Die Eltern konnten also nicht sehen, was mit ihren Kindern war. Die kamen alle humpelnd rein. Manche Gefangene wurden so stark geschlagen, dass sie keine Haut mehr unter den Fußsohlen hatten. Ein Arzt, der selbst Gefangener war, hatte eine Methode entwickelt, die Haut von anderen Körperteilen Gefangener zu entfernen. Die Haut hat er an der Fußsohle wieder angenäht. Wenn Sie heute Bilder dieser Gefangenen sehen, fällt Ihnen auf, dass sie riesige Flecken und Narben an verschiedenen Stellen ihres Körpers haben, dort, wo die Haut entfernt wurde.
Sie selbst sind ins Gefängnis gekommen, weil jemand Sie unter Folter verraten hat. Sind Sie böse auf diese Person?
Überhaupt nicht.
Kann man unter solchen Verhörmethoden überhaupt widerstehen? Ist es möglich, sich zu wehren?
Ich habe niemanden verraten.
Aber Sie sind trotzdem nicht böse auf diese Person?
Nein. In Iran nennt man diese Menschen Tawab. Das sind diejenigen, die brechen. Sie werden quasi Mittäter im Gefängnis. Und es gibt unterschiedliche Grade von Tawabs. Da waren die, die gefoltert worden sind und irgendwann nicht mehr konnten und eben aussagten. Dann diejenigen, die, nachdem sie gebrochen worden waren, mitgemacht haben: bei der Essensausgabe zum Beispiel, und sie haben strenge Anweisungen weitergegeben. Ich bin überhaupt nicht böse. Ich habe über diese Sache viel geforscht und geschrieben. Ich denke, diese Menschen waren selbst Opfer. Der Mensch weiß nie, wo seine Grenze ist. Wie weit kann man gehen, was hält der Körper aus? Und es gibt Menschen, die nicht mehr können. Die Frau, die mich verraten hat, ist später hingerichtet worden. Ich habe diese Frau getroffen im Gefängnis. Es gab manchmal eine Versammlung der Gefangenen. Da durfte man die Augenbinde abnehmen, und ich habe diese Frau wiedererkannt. Sie konnte kaum mehr laufen. Sie hat unter Tränen gesagt: Verzeih mir. Und ich habe in diesem Augenblick das Gefühl gehabt, dass es nichts zu verzeihen gibt. Es gibt nur einen, dem man nicht verzeihen kann, und das ist das iranische Regime. Diese Menschen im Gefängnis sind Opfer.
Wie schafft man es in diesen Verhören, zu widerstehen?
Ich weiß nicht, wie. Menschen sind unterschiedlich. Ich kann für mich sagen: Mir war wichtig, dass kein Mensch durch mich in die Situation kommt, die ich gerade selbst erlebe. Da gab es keine Ideologie, keinen politischen Willen. Das spielte plötzlich keine Rolle mehr.
Gab es auch Gefängniswärter, die menschlich gehandelt haben? Die versucht haben, ein bisschen Menschlichkeit in den Alltag zu bringen?
Ich glaube, die Wärter haben verschiedene Rollen gespielt. Es waren ja alles Männer. Sie haben sich gegenseitig Bruder genannt, und die Frauen waren die Sklaven. Entschuldigung, aber es war so. Und die Brüder haben alle einen bestimmten Ruf gehabt: Dieser Bruder ist besser, dieser andere Bruder ist ganz schrecklich. Das war ein Spiel unter ihnen, glaube ich, dass einer sagte: Ich bin nett und bringe dir ein Glas Wasser. Und der andere kommt und schlägt einem auf den Kopf.
Das ist alles sehr lange her. Doch Sie sagen, es hat nicht aufgehört. Woher wissen Sie das?
Ich weiß es, weil immer noch Menschen aus Iran flüchten, die in den Gefängnissen waren. Immer noch kommen Flüchtlinge nach Deutschland, immer noch werden junge Leute inhaftiert. Allein nach der sogenannten Grünen Revolution in Iran vor zwei Jahren wurden sehr viele verschleppt. Sie berichten von denselben Zuständen im Gefängnis, wenn nicht noch schlimmeren. Ich habe in meiner psychotherapeutischen Praxis Patienten, die in den letzten Jahren geflüchtet sind und die im Gefängnis waren. Sie sagen, dass die Folter genauso, wenn nicht noch schlimmer. . .
… verfeinert wurde?
Systematisiert. Ich frage mich häufig, woher sie die vielen Methoden kannten. Die haben sehr systematisch verhört.
Was glauben Sie, woher die Folterer ihre Methoden kannten?
Es gab ein Gerücht, das ich nicht bestätigen kann. Man sagte, der Savak habe mitgemacht. Das war bis 1979 der iranische Geheimdienst. Sehr viele alte Savakis hätten bei den Verhören geholfen. Aber ich habe auch das Gefühl, die haben sich immer weiterentwickelt, immer neue Folter- und Verhörmethoden erfunden. Immer neue Arten, den Menschen zu quälen und zu brechen. Es hat nicht aufgehört. Ich glaube, allein die Angst hat die Grüne Revolution erstickt. Leute haben sich unter die Demonstranten gemischt und ihnen Messer in den Bauch gesteckt, einfach so, immer wieder. Viele sind abgeholt worden und nie wieder zurückgekommen.
Was müsste passieren, damit es irgendwann doch einmal aufhört?
Als Politikerin ärgere ich mich seit Jahren. Über das Atomprogramm wird ständig geredet, ob die iranische Regierung eine Atombombe hat oder dieses oder jenes hat, oder welche Rolle Iran im Nahen Osten spielt. Deutschland ist eines der wichtigsten Importländer für Iran, auf dem dritten Platz, seit Jahren. Aber Menschenrechte spielen in der Außenpolitik fast keine Rolle. Tribunale wie das in Den Haag sind ein Zeichen: dass über die Verbrechen geredet wird und dass die Verbrecher bestraft werden sollen. Ich glaube, dass die Menschen, die nach Den Haag kommen, zwei Hoffnungen haben: Erstens, das Schweigen zu brechen, über das zu reden, worüber auch aus Scham und aus Angst seit Jahren nicht geredet wird. Und zweitens will man zeigen, dass Demokratie nicht durch Einmarschieren geschaffen werden kann. Man muss sich für Menschenrechte einsetzen. Damals wäre es für uns gut gewesen, wenn jemand gesagt hätte: Politische Gefangene müssen befreit werden. So geht es heute vielen Menschen, die Opfer von Folter und Verfolgung sind. Es muss ein Zeichen gesetzt werden, dass diese Menschen nicht ihre Jugend, ihre besten Jahre im Gefängnis oder auch nur in Angst verbringen müssen. Ich bin Politikerin geworden, um für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie zu kämpfen.
Wie kamen Sie aus dem Gefängnis heraus?
Die haben mich gerufen und vor ein Pseudo-Gericht gebracht. Da wurde gesagt, dass sie bis jetzt noch nichts gefunden haben. Ein paar Monate vorher hatte ich mein Todesurteil unterschreiben müssen. Ich musste unterschreiben, dass ich, falls sie irgendetwas herausfänden, hingerichtet werde. Aber auch nach eineinhalb Jahren haben sie nichts gefunden. Und so durfte ich das Gefängnis auf Bewährung verlassen. Vielleicht habe ich mich selbst gerettet, indem ich niemanden verraten und ihnen keine Informationen gegeben habe. Ich hatte großes Glück, dass außer dieser einen Frau niemand gegen mich ausgesagt hat. Denn das hatte ja System im Gefängnis, einer hat den anderen verraten. Nun, nach der Entlassung, hieß es: Sie müssen sich einmal im Monat melden. Und wenn wir was Neues finden, werden Sie wieder inhaftiert. Mir war klar, dass ich in diesem Land nicht mehr leben kann.
Wie lange sind Sie dann noch geblieben?
Fast zehn Monate.
Und hatten eine kleine Tochter.
Ja.
Wie haben Sie sich in dieser Zeit verhalten?
Ich hatte das Gefühl, dass unser Haus immer beobachtet wird und dass ich ständig verfolgt werde. Auf Schritt und Tritt, egal, wo ich hinging. Immer, wenn es an der Tür klingelte, hatte ich Angst, dass sie kommen. Sie hatten mich auch noch einmal sehr kurz, für zwei Tage, inhaftiert. Sie haben gesagt, sie hätten wieder etwas gefunden. Dann haben sie eine sehr große Summe Geld von meinem Vater gefordert, und als sie die hatten, haben sie mich wieder freigelassen. Im Prinzip hatte ich jeden Tag Angst, dass sie wiederkommen und einen mitnehmen. Und die Erfahrung gab es ja auch. Sehr viele, die freigelassen worden waren, wurden kurz darauf wieder festgenommen, weil irgendjemand sie verraten hat. Oder was auch immer.
Konnte man das Land denn einfach so verlassen?
Ich durfte das Land nicht verlassen.
Wie sind Sie rausgekommen?
Mit gefälschten Papieren. Das einzige Land, das ein Visum verkauft hat, für 20 000 Toman oder so was, war Deutschland. Damit und mit den gefälschten Papieren bin ich aus Iran geflohen.
Woher hatten Sie die Kontakte, dass Sie an gefälschte Papiere kamen?
Wenn Sie Geld zahlen, finden Sie schon irgendwie jemanden. Da hatte jemand einen Bekannten, der hatte noch einen Bekannten, und so fanden Sie dann den Händler. Man fragte rum.
Nun sind Sie schon lange hier. Aber die Narben bleiben.
Ich glaube, was ich und viele andere Menschen erlebt haben, kann sich kein Mensch vorstellen. Für mich ist ein Ziel, diese Botschaft weiterzugeben. Es ist merkwürdig: Es ist so viele Jahre her, aber es gibt nichts, das diese Wunden heilen kann.
Haben Sie eine Antwort auf die Frage gefunden, warum Menschen so sein können. So böse?
Ich glaube, das ist die Macht. Der Wunsch, Macht zu haben und zu bewahren, macht Menschen zu vielem fähig. Das habe ich als Siebzehnjährige im Gefängnis nicht verstanden. Ich habe mich nur gefragt: Wie kann das sein? Das ist doch ein Mensch. Der kann mir und den anderen das doch nicht antun. Ich glaube, ich habe das nicht verstanden, weil ich das nur in einem menschlich-humanen Sinne betrachtet habe. Ich habe nicht gewusst, dass Menschen zu allem fähig sind, um die eigene Macht zu bewahren. Dass manche zu Folter und anderen Verbrechen fähig sind, aber auch zu Demütigungen und Verletzungen. Aber das tun sie aus Angst. Nicht aus Stärke. Sie sind im Prinzip absolut feige. Ein mutiger Mensch braucht keinen anderen Menschen so zu entmutigen.
Der Mutige braucht keine Macht, der Feige braucht sie?
Nein, ein mutiger Mensch muss nicht ständig seine Macht beweisen, indem er andere erniedrigt. Man muss nicht andere brechen, um zu zeigen: Ich bin der Mächtige. Es ist eine alte, komplexe Debatte, die wir immer wieder führen, warum Menschen zu solchen Verbrechen fähig sind. Warum tun Menschen anderen Menschen weh? Dazu gibt es viele Forschungen und viele Antworten. Aber ich glaube, für die Opfer gibt es keine Antwort.
Welche Rolle spielte, dass Sie eine Frau sind?
Ich war ja schwanger, als ich ins Gefängnis kam. Ich habe meine Tochter im Gefängnis zur Welt gebracht. Diese Verletzbarkeit, die man, allein, weil man Frau ist, erlebt, wird unheimlich ausgenutzt. Vergewaltigung heißt nicht nur, dass einen das Geschlechtsorgan eines Mannes vergewaltigt. Im Gefängnis wird man tagtäglich vergewaltigt. In der Seele vergewaltigt. Als Frau ist man da schutzlos.
Ihre Schwangerschaft hat Sie nicht vor der Folter geschützt?
Nein. Nein.
[Stille]
Ich habe meine Tochter mit verbundenen Augen zur Welt gebracht.
[Stille]
Schwangerschaft ist kein Schutz, im Gegenteil. Jede schwangere Frau fühlt, ich muss mein Kind beschützen. Man hat stundenlang auf dem Boden gesessen und wurde von den Männern mit riesigen Militärstiefeln in den Bauch getreten. Und die wussten, dass manche Frauen schwanger sind. Und das war noch nicht mal eine Verhörsituation.
Einfach so.
Einfach so. Man musste einen Schleier tragen, und manchmal schauten da ein, zwei Haare drunter hervor. Das wusste man selbst nicht, weil ja die Augen verbunden waren. Dann sind die Männer gekommen und haben einem mit den riesigen Stiefeln in den Bauch getreten. Und gesagt: Jetzt bedeck mal deine Haare. Die Männer aber hat man nie gesehen, man hat nur die Stiefel gesehen. Ich habe keinen dieser Männer jemals in meinem Leben gesehen. Und ich glaube, das ist es auch etwas, was bei diesem Tribunal wichtig ist. Sie sind von Menschen gefoltert, erniedrigt, vergewaltigt worden, von denen sie nicht einmal ein Gesicht kennen.
Nur die Stimmen.
Ich kenne die Stimmen. Es gibt Berichte darüber. Man hat andauernd diese Stimmen, in Träumen, im Kopf.
Haben Sie manchmal diese Stimmen im Kopf?
Man vergisst sie nicht. Aber man hat keine Gesichter, keine Namen. Für diese Verbrechen gibt es keinen Namen und kein Gesicht. Und das ist das Ziel des Tribunals: dem Verbrechen einen Namen und ein Gesicht zu geben.
Gibt es einen Trost, wenn man so etwas erlebt hat?
Mein Trost ist, dass ich politisch aktiv bin.
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/opfer-des-chomeini-regimes-ich-kenne-nur-die-stimmen-11940962.html