Author Topic: Neukoelln ist ueberall  (Read 4583 times)

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #15 on: November 04, 2012, 09:06:01 am »
Am deutlichsten wird dies beim Kontakt oder der Begegnung mit staatlichen Institutionen. Was mir die Mitarbeiter des Ordnungsamtes von ihrer Arbeit auf der Straße berichten, wie sie sich beschimpfen lassen müssen, wie ihnen Gewalt angedroht wird, ja, welcher konkreten Gewalt sie sich ausgesetzt fühlen und es mitunter auch sind, das ist nicht hinnehmbar. Und trotzdem nehmen wir es hin. Es sind auch keine Exzesse des Augenblicks, sondern es geht für die Platzhirsche immer wieder darum, wohlüberlegt zu demonstrieren, dass die Deutschen ihnen gar nichts zu sagen haben und dass die Regeln ihnen scheißegal sind. Ganz erfolglos sind sie damit auch nicht. Ich selbst habe immer wieder beobachtet, wie Streifenwagen an Situationen vorbeifahren, bei denen sie normalerweise anhalten würden. Eine Eskalation mit Widerstand ist wahrscheinlich, und die Polizisten sind zu wenige. Natürlich bestreiten die Polizeibehörden ein solches Verhalten. Würde ich an ihrer Stelle auch tun.
In der Neuköllner Sonnenallee wird zum Beispiel häufig in drei Spuren geparkt. Der erste Wagen steht auf dem Bürgersteig, der zweite in der normalen Parkspur, der dritte in der zweiten Reihe, also der ersten Fahrspur. Wenn Sie als Autofahrer Pech haben, dann hält vor Ihnen in der zweiten Fahrspur jemand an und unterhält sich lautstark mit denjenigen, die dort vor dem Café sitzen und Tee oder Kaffee trinken. Machen Sie jetzt nicht den Fehler zu hupen oder auszusteigen, Sie könnten in eine unangenehme Situation geraten. Ein Problem, das Sie eventuell haben, könnte gleich »geklärt« werden, oder wenn Sie als Deutscher glauben, hier den Chef markieren zu können, würde man Ihnen zeigen, dass Sie gleich die Stiefel Ihres Gegenübers lecken. Anders ergeht es der Polizeistreife auch nicht. Das ist einfach nicht wie im Städtchen in der Heide oder dem Badischen Land. Dort hält die Streife an, zwei Polizeibeamte steigen aus, monieren die Situation, und alle sind bemüht, bloß keinen Stress zu haben und vor allem kein Geld bezahlen zu müssen. Ja, sagen sie, Herr Wachtmeister, wir regeln das gleich.
Bei uns passiert erstmal gar nichts. Dann achten die Polizeibeamten darauf, möglichst nicht unter Armeslänge an die Person heranzugehen. Es könnte sonst sein, dass – schwups – die Mütze oder noch andere Dinge weg sind. Es setzt dann ein lautes Palaver ein, worum es denn überhaupt gehe, keiner wisse, wem die Autos gehörten, und die Polizisten sollten weiterfahren und nicht stören. Das alles passiert meist in aggressiver Haltung und aggressivem Ton. Eskaliert die Situation, müssen die Streifenbeamten Verstärkung herbeirufen. Und es kommt zu einem richtigen Einsatz. Unter Umständen auch mit körperlicher Gewalt. Da kann es dann hinterher schon einmal passieren, dass die Streifenbeamten von ihrem Dienstgruppenleiter gefragt werden, ob sie schon mal was vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört haben. Ob ihnen nicht klar gewesen ist, dass mit Widerstand zu rechnen war? Ob sie nicht wissen, wie solche Einsätze vom Gericht beurteilt werden?
Neuköllner Dienstgruppenleiter wie Polizeihauptkommissar Karlheinz Gaertner haben unzählige Stunden bei Gerichtsverhandlungen verbracht und dort sehr häufig erleben dürfen, dass hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hoch im Kurs steht. Diese Verhandlungen endeten meist mit einem Freispruch zugunsten der Verkehrsrüpel, wobei im Gegenzug der Polizist froh sein konnte, nicht selbst verurteilt zu werden. Eine Vielzahl von Richtern ist eben nicht bereit, den Polizisten bei deren staatlichem Auftrag, die Verkehrsüberwachung durchzuführen, zu unterstützen bzw. geltendes Recht anzuwenden. Sie sehen nur die Widerstandshandlungen im Verhältnis zur Ordnungswidrigkeit. Welche Aggressionen der Beamte bei seiner Ahndungspflicht über sich ergehen lassen muss und wie er das Recht in solchen Fällen überhaupt durchsetzen soll, interessiert diese praxisfremden »Gutmenschen-Urteiler« wenig. Wer eine solche Gerichtserfahrung einmal erlebt hat, der fährt eben auch vorbei, wenn er nur ansatzweise erkennt, welche »Krawallmacher« ihn dort erwarten.
Dass sie in bestimmten Situationen bei der Polizei anrufen, aber niemand kommt, tragen mir
Bürger immer wieder vor. Angeblich wird ihnen sogar geraten wegzuziehen. Sie wüssten doch, wo sie leben. Natürlich sind es meist Bagatellfälle. Und ich kann die Beamten auch verstehen, dass sie keine Lust haben, wegen ein paar rauchender und lamentierender junger Männer einen Großeinsatz zu provozieren. Aber wer provoziert ihn eigentlich?
In den regelmäßigen Konsultationen mit der Polizeiführung werden die Ereignisse natürlich anders dargestellt. Menschlich kann ich das nachvollziehen. Ich wehre mich aber auch ein klein wenig dagegen, dass alle Bürger, die mir solche Berichte geben, nicht mehr richtig im Kopf sein sollen. Es gibt die normative Kraft des Faktischen, und es gibt Entscheidungen der Vernunft. Die Wirkung auf die Menschen ist allerdings negativ. Sie haben den Eindruck, die Straße habe die Macht übernommen.
Spinnen wir den konkreten Fall einfach weiter. Grundsatz bei uns ist, festgesetzte Personen so schnell wie möglich ins Fahrzeug zu verbringen, und dann ab durch die Mitte. Ist man nicht schnell genug weg, kann es passieren, dass das Polizeiauto sich unangenehmen Attacken ausgesetzt sieht, dass es umzingelt wird und gar nicht mehr wegfahren kann. Die Fälle der versuchten Gefangenenbefreiung erscheinen nur in den Medien, wenn sie eine bestimmte Dimension erreicht haben. Ich kenne die genauen Zahlen für die letzten Jahre in Neukölln nicht. Die von Berlin schon gar nicht. Fest steht aber, dass versuchte Gefangenenbefreiung ein nicht seltener Vorgang im Alltag unserer Polizeibeamten in Neukölln ist. »Wir haben gelernt, damit umzugehen«, sagte mir einer.
Derartige Beschreibungen lassen sich beliebig fortsetzen. Kontrollen und Überprüfungen in Grünanlagen zur Einhaltung des Grillverbotes sind nur mit Polizeischutz möglich. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ordnungsamtes würden schlicht und ergreifend verhauen werden. Den Polizeibeamten könnte das Gleiche passieren, wenn sie zu wenige sind. Kontrolle von nichtangeleinten Kampfhunden oder ähnlichen »Nettigkeiten« führen schon mal dazu, dass die Beamten des Ordnungsamtes bespuckt werden, dass man ihnen ein Messer an den Hals hält oder sie niederschlägt.
Das ist unser Revier, hier herrschen unsere Gesetze, verpisst euch! –, lautet die Botschaft. Sie ist es, die das Verhältnis der Menschen untereinander von Grund auf belastet. Der erwähnte, seit Jahrzehnten in Neukölln tätige Polizeihauptkommissar Gaertner sagte mir neulich, er könne sich nicht erinnern, während seiner gesamten Dienstzeit einen Handtaschenraub oder einen Überfall von Einwandererjugendlichen auf eine Frau mit Kopftuch bearbeitet zu haben. Das Feindbild sind die verhassten Deutschen, sie sind das Ziel ihrer Aggressionen, und sie haben dem Flashmob nichts entgegenzusetzen: Per SMS-Rundruf finden sich in wenigen Minuten zahlreiche Menschen ein, die sofort eine drohende Haltung einnehmen. Deutsche gelten als leichte Opfer. Hiermit kann jeder im Alltag in Berührung kommen. Es kann Ihnen passieren, dass Sie bei einem lapidaren Auffahrunfall eine Überraschung erleben. Nämlich dann, wenn Ihr Unfallpartner äußerlich eindeutig als Einwanderer zu erkennen ist. In diesem Fall werden Sie und Ihr Kontrahent in Blitzesschnelle von mehreren »Zeugen« umgeben sein, die alles genau gesehen haben. Nicht Ihr Hintermann ist auf Sie aufgefahren, sondern Sie sind ihm schneidig im Rückwärtsgang reingefahren. Im Zweifel gilt es, der ethnischen Schwester und dem ethnischen Bruder zu helfen. Was wahr ist und was nicht, hat bei einem »Ungläubigen« keine Bedeutung. Das sind so die kleinen Erlebnisse, die die Menschen hier mitunter so »fröhlich« stimmen.
Wir erziehen unsere Kinder zur Gewaltlosigkeit. Wir ächten Gewalt in der Begegnung und bringen das unserem Nachwuchs bei. Andere bringen ihren Jungs bei, stark, tapfer und kampfesmutig zu sein. Die Ausgangssituation ist einfach ungleich. Wir sind in unseren Breiten auf solche Auseinandersetzungen der Selbstjustiz nicht mehr vorbereitet und auch nicht mehr eingerichtet. Ich finde, das ist auch gut so. Wir sind über dieses hirnlose Gesetz der Straße »Recht hat der Stärkere« hinaus. Insofern bedaure ich die Unterlegenheit der deutschen Jugendlichen nicht, sondern ich kritisiere, dass unsere Gesellschaft diese anarchistischen Zustände auf unseren Straßen kommentarlos hinnimmt. Ja, nicht nur das, sondern sie auch schönredet oder verschweigt.
Ein Beispiel hierfür war die Diskussion an einer Neuköllner Schule über Deutschen-Mobbing. Die Sache kam ans Licht der Öffentlichkeit, als die Lehrer in der Zeitung der GEW darüber berichteten. Die öffentliche Reaktion war klar, und alle bekamen Fracksausen. Es sei alles nur ein Missverständnis gewesen, natürlich gebe es kein Deutschen-Mobbing an der Schule. Wenn Sie in der Schule fragen, gibt es natürlich auch keine Religionswächter an der Tür zur Cafeteria, die darauf achten, wer während des Ramadan isst und wer Schinkenbrötchen kauft. Das Bedienungspersonal allerdings erzählt nahezu unglaubliche Storys. Auch die Schulleitung weiß nette Geschichten zu berichten, wenn sie sicher ist, dass niemand weiteres zuhört und Vertraulichkeit vereinbart wird. Der Alltag in unseren Schulen ist mitunter schon recht rustikal. Mehr dazu später.
Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze für die ganz normalen Menschen brechen. Jene Menschen, die schweigen. Nicht, dass sie Angst vor persönlicher Bedrohung haben, nein, sie haben sich ergeben. Junge Familien, Einwanderer wie Deutsche, ziehen fort, und die Alten ziehen sich zurück. Was man für ein dickes Fell haben muss, merke ich auch immer wieder an der eigenen Person. Ich muss nur den leisesten Hauch von Kritik an Einwanderern äußern. Sofort kommen die Moralkeule und die Feststellung, dass ich ein Rassist und Volksverhetzer sei. Manchmal wird der Hauch auch konstruiert. Viele haben darauf keine Lust mehr und deswegen gelernt, den Mund zu halten. Daher finden Fernsehsendungen auch nur noch schwer aktive Pädagogen, die vor der Kamera die Realitäten an ihrer Schule ausbreiten. Sie werden anschließend derart mit Hass überzogen und geschnitten, dass sie sich nie wieder aus der Deckung wagen. Die Einschüchterung funktioniert. In Sachen Integration haben wir fast eine Wand des Schweigens wie in der ehemaligen DDR. Dort bildete die Staatssicherheit die Drohkulisse. Hier ist es ein Kartell aus ideologischen Linkspolitikern, Gutmenschen, Allesverstehern, vom Beschützersyndrom Geschädigten und Demokratieerfindern, das den Menschen das Recht abspricht zu sagen, was sie denken. Richtig stolz bin ich auf die Neuköllner Bevölkerung. Es gibt bei uns keine Gegenbewegung zu den etablierten Parteien und zu unserer demokratischen Gesellschaftsordnung. Die Rechtsradikalen haben, wie erwähnt, bei den letzten Wahlen 2011 nur noch ein Viertel ihres Wählerpotentials von 1989 erreicht.
Kennen Sie den Begriff der Opferrolle? Die Opferrolle kann Ihnen begegnen bei jemandem, der schwächer als andere ist und dadurch zum beliebigen Spielball der Stärkeren wird. Die Opferrolle kann aber auch darin bestehen, dass man nie etwas für das kann, was man getan hat, weil alle anderen schuld sind. Man ist somit das Opfer der Gesellschaft, von Diskriminierung, von Benachteiligung, Beleidigung oder auch einfach der Tatsache, dass man in Deutschland leben muss. Das Schlimmste, was einem Menschen auf dieser Welt passieren kann, ist, dass ihn die Winde des Lebens nach Deutschland verschlagen. Das führt zur sofortigen Traumatisierung. Ich habe bei Diskussionsveranstaltungen allen Ernstes leidenschaftliche Äußerungen zur Kenntnis nehmen müssen, dass die deutsche Gesellschaft so schlecht und verdorben ist, dass sie integrationsfeindlich ist, die Kinder der Einwanderer behindert und nicht vernünftig ausbildet und dass eigentlich alle Einwanderer nur schlecht behandelt und ausgebeutet werden. In solchen Momenten geht mir nur eine einzige Frage durch den Kopf: Warum belasten sich diese freien und engagierten Menschen mit einem Leben der so empfundenen modernen Sklaverei in Deutschland?
Wenn ich Menschen, die jahrzehntelang im Land leben, bei der Einbürgerung frage, warum sie kein Deutsch sprechen, obwohl es doch ihre Kinder fließend beherrschen und sie parallel hätten mitlernen können, lautet die Antwort meist: »Ich war viel krank.« Wenn Sie jemanden fragen, warum das Kind nicht in den Kindergarten geht, dann haben die Deutschen für Ausländerkinder keine Plätze, dann ist der Kindergarten zu weit von der Wohnung entfernt. Wenn das Kind schlechte Noten in der Schule hat, ist die Lehrerin oder der Lehrer schuld, weil sie das Kind nicht leiden können oder weil sie überhaupt Ausländer nicht leiden können. Am fehlenden Beruf ist der Ausbildungsplatzmangel und an der Straftat das Opfer schuld. Warum stand es da auch rum? Es gibt immer eine Ausrede, die dem anderen die Schuld zuschiebt. Ich möchte auf das Buch Schaut endlich
hin von Margalith Kleijwegt hinweisen. Die Autorin hat die Schüler einer niederländischen Schulklasse ein Jahr lang begleitet. Sie hat alles aufgeschrieben, was sie erlebt hat. Sie erklärt, warum Verabredungen nicht eingehalten werden, warum man an Familien nicht herankommt und wieso ein gegebenes Wort im Zweifel nichts wert ist.
Auch ich habe das bei meiner Tätigkeit immer wieder erlebt. Es gibt immer einen Dritten, der schuld ist. Natürlich im Zweifel ein Deutscher. Die Opferrolle beruht eigentlich auf dem, was die deutsche Politik jahrelang propagiert hat. Ich weiß nicht, ob sie die Erfinderin dieser Haltung war oder sie nur von anderen übernommen hat. Sie, damit meine ich Frau Prof. Barbara John, die erste und jahrelange Ausländerbeauftragte des Berliner Senats. Sie hat in Berlin eine Politik kreiert, nach der ein Ausländer per se ein guter Mensch ist, denn er stellt eine Bereicherung dar. Ein Deutscher ist per se ein schlechter Mensch, weil er die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust niemals ablegen kann und immer latent ausländerfeindlich bleiben wird.
Mit dem rhetorischen Mittel der Übertreibung ist die Botschaft »Jeder Intensivtäter ist eine kulturelle Bereicherung« die Selbstbeerdigung der Integration.
Unterschichtverhalten ist eigentlich auf der Welt überall gleich, es hat keine oder kaum ethnische Ursachen. Auch die deutsche Suffski-Familie schüttet sich bis in den frühen Morgen zu, grölt und prügelt, schmeißt den Müll vom Balkon und kotzt ins Treppenhaus. Solches Verhalten führt genauso dazu, dass andere fortziehen, zum Beispiel integrierte Einwandererfamilien, und dass ein Wohngebiet zum Brennpunkt wird.
Jedes Volk hat seine Unterschicht. Das sind marginalisierte Gruppen von Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, keinen Zugang in die Gesellschaft und in ein geordnetes, strukturiertes Leben gefunden haben. Wie hoch dieser Anteil für gewöhnlich ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Bestimmt gibt es dazu soziologische Kennziffern. Auf jeden Fall ist der Anteil jedoch so niedrig, dass er nicht ganze Stadtteile dominiert und zum Kippen bringt. Die Einwanderung von Menschen aus Entwicklungsländern oder Schwellenländern, ausgestattet mit dem (meist rückständigen) kulturellen und zivilisatorischen Normalstandard ihres Heimatlandes, bringt zwar Bildungsferne ins Land, aber noch lange nicht automatisch auch Unterschichtverhalten. Plötzlich werden Verhaltensweisen, die bei uns eigentlich mit entsozialisierter Bevölkerung in Verbindung gebracht werden, zur allgemeinen Übung. Das Weiterleben wie in der Heimat, die rustikale Benutzung des Sozialraumes ohne jede Schranke und Rücksichtnahme führt dann bei uns zur Flucht derjenigen, die sich ein Zusammenleben mit anderen Menschen kultivierter wünschen. Die Einwanderung bewirkt somit einen Aufwuchs von bei uns eigentlich nicht mehrheitsfähigen Lebensweisen über ein Randproblem hinaus. Wenn alle sich identisch verhalten, werden Subkulturen plötzlich zur Norm. Bei einer Mieterumfrage in einem sozial sehr stark belasteten Quartier bewerteten 82 % der Mieter ihre Lebensqualität und ihr Wohnumfeld mit »befriedigend« bis »sehr gut«. Das System des Rückzugs auf den kleinsten gemeinsamen Nenner funktioniert auch hier.
Ich hatte versprochen, auf die Kriminalitätsdaten zurückzukommen, auch wenn nur in sehr zurückhaltender und vereinfachter Form. Die Jugendkriminalität in Neukölln hat sich von 1600 Straftaten im Jahr 1990 auf 2660 im Jahr 2011 erhöht. Allerdings lagen dazwischen auch schon Jahre mit weit über 3000 Straftaten. Demographisch hat sich in diesen mehr als 20 Jahren natürlich auch die Zahl der jungen Leute in Neukölln verändert. Um einen korrekteren Vergleich ziehen zu können, habe ich die Zahl der Straftaten auf eine feste Bezugsgröße umgerechnet. 1990 entfielen 25 Straftaten auf je 1000 junge Menschen unter 21 Jahren. Im Jahre 2007 waren es 58 Straftaten, und bis zum Jahr 2011 sank diese Zahl wieder, auf 44. Trotz des Rückgangs in den letzten vier Jahren ist die Steigerung bezogen auf 1990 immer noch beträchtlich. Nicht übersehen darf man auch die Zunahme der Schwere und Brutalität sowie den inzwischen fast obligatorischen Einsatz von Waffen bei den Delikten.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #16 on: November 04, 2012, 09:07:08 am »
Jugendkriminalität ist nichts Neues. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle ist es eine
Episode in bestimmten Phasen des Heranwachsens. Auch ist Jugendkriminalität ähnlich wie ein Eisberg. Nur ein geringer Teil ist für die breite Öffentlichkeit sichtbar: Im Wesentlichen spielt sich der Hauptteil unter Jugendlichen ab, also ohne Aufmerksamkeitsfaktor für die älteren Generationen. Der direkte Kontakt ist auf die Jugendlichen selbst und auf ihre Angehörigen beschränkt.
Etwa 85 % aller jugendlichen Ersttäter erscheinen ein-, maximal zweimal vor Gericht und sind dann im Spektrum des allgemeinen Umgangskodexes eingenordet. Typische Delikte des Ausprobierens, wie denn das Leben so ist, sind Schwarzfahren, Ladendiebstahl oder Fahren ohne Führerschein. Also keine wirklichen Aufreger.
Bei den 192 jugendlichen Serienstraftätern sieht das schon anders aus. Diese setzen sich aus Intensivtätern ab zehn Straftaten von erheblicher Bedeutung, Schwellentätern mit fünf bis neun Straftaten und kiezorientierten Mehrfachtätern zusammen, die auf dem Weg zum Schwellen- und Intensivtäter sind. Die Zahl von rund 200 Serienstraftätern hält sich seit Jahren konstant. Bemerkenswert ist nur der rasante Anstieg der letzten Jahre. Aus 48 Serienstraftätern 2004 hat sich die genannte Zahl in einem relativ kurzen Zeitraum entwickelt.
Der Anteil der Einwandererkinder an diesen Serienstraftätern variiert von Jahr zu Jahr. Im Jahr 2012 beträgt er 93 %. Bei ihrem Gesamtanteil an jungen Leuten in ihrem Alter von 65 % ist dies ein deutliches Übergewicht. Das deckt sich auch mit der Kriminalitätsstatistik generell. Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist deutlich stärker in das kriminelle Geschehen verwickelt als die bio-deutsche. An der Spitze stehen rumänische Staatsangehörige, die rund neunmal stärker als Tatverdächtige erfasst sind, als ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt. Die zweite Stelle mit einer fünffach stärkeren Beteiligung nehmen vietnamesische Staatsangehörige gemeinsam mit libanesischen Staatsangehörigen ein. Polnische, russische und türkische Staatsangehörige sind ebenfalls überproportional registriert, allerdings im weiten Abstand zu den drei Spitzenreitern. Im Berliner öffentlichen Personennahverkehr geschehen täglich rund 100 Straftaten, davon 19 Gewaltdelikte. In unseren Schulen sind es fünf Straftaten, davon jeden Tag eine gegen einen Lehrer.
Die vorstehende Auflistung dient lediglich der Vervollständigung. Von Bedeutung ist im Prinzip nur, dass 3000 Intensivtäter mit einem Anteil von einem Promille an der Berliner Bevölkerung 20 % aller Straftaten begehen. Im Zusammenhang mit der Thematik unseres Buches ist die höhere Präsenz von Einwanderern im kriminellen Milieu ein Puzzleteil, das zu einer negativen Gesamteinstellung in der Bevölkerung führt.
Ich reise seit vielen Jahren durch die Bundesrepublik und halte Vorträge über Einwanderung, über die Probleme bei der Integration und über die Dinge, die ich an der deutschen Politik vermisse, um diese Integrationshemmnisse zu beseitigen. Mir ist dabei sehr, sehr selten wirkliche Aggressivität begegnet. Die Hauptreaktionen waren Betroffenheit und Hilflosigkeit. Betroffenheit über den von mir referierten gesellschaftlichen Prozess mit dem gegenwärtigen Stand, und Hilflosigkeit ob der Frage: Was können wir zur Abhilfe beitragen? Ich war immer wieder überrascht über die Anteilnahme. Meine Zuhörerinnen und Zuhörer verstanden sehr wohl die Botschaft, und es ging letztlich stets um die Frage, wie wir ein Fortschreiten der Fehlentwicklungen verhindern können. Ich kann mich nicht erinnern, auch nur ein einziges Mal den Satz Einfach alle rausschmeißen! gehört zu haben. Ein Satz, den ich allerdings häufig vernommen habe, lautet: Wir erwarten nichts weiter, als dass sich die Einwanderer, Zuwanderer, Migranten, Ausländer oder welche Bezeichnung jeder wählt, an die Regeln halten, die für uns alle in diesem Land gelten; wir erwarten, dass Menschen, die zu uns kommen, getragen sind von dem Wunsch, gemeinsam mit uns zu leben. Wenig bis kein Verständnis wurde der Aussage entgegengebracht, dass ein Einwanderungsland wie Deutschland konsequenterweise auch seine Regeln an die Einwanderer anpassen müsse. An dieser Stelle gab es immer eine klare Zäsur. Übrigens interessanterweise völlig unabhängig vom Lebensalter des Auditoriums. Das sahen 1000 Studenten in einem Hörsaal genauso wie 1000 Wirtschaftsfachleute bei der Tagung in einem Luxushotel. Es scheint zu dieser Frage einen ganz breiten Konsens zu geben, dass nun einmal der Schwanz nicht mit dem Hund wedelt. Übersetzt
auf die Einwanderung, lautet die Botschaft: Integration hat etwas mit Anpassung zu tun und muss vom Willen und der Bereitschaft des Hinzukommenden ausgehen. Warum man die Mütze der Integration aber auf den Kopf von jemandem setzen muss, dessen Eltern oder Großeltern bereits im Land geboren sind, bleibt an dieser Stelle erst einmal offen.
In diesem Zusammenhang interessiert auch, wie denn die Bevölkerung insgesamt zur Einwanderung steht und ob sie sie positiv oder negativ beurteilt. Ich habe mit Erstaunen eine europäische Studie hierzu registriert, der zufolge lediglich 44 % der Bevölkerung bei uns in der Einwanderung eher ein Problem als eine Chance sehen. Also, mehr als die Hälfte der Bevölkerung empfindet die Einwanderung als überwiegend positiv. Wir stehen damit im Übrigen an drittbester Stelle nach Kanada und Frankreich. Das Schlusslicht bildet – man höre und staune – Großbritannien. Hier bewerten 66 % die Einwanderung eher als ein Problem. Und wie schätzen die Deutschen selbst ihre Integrationsbereitschaft ein? Auf die Frage, was das größte Hindernis für die Integration darstellt, lautete in 60 % der Fälle die Antwort: »Das Desinteresse der Einwanderer« und nur in 27 % »Eine ablehnende Haltung der Gesellschaft«. Eine negative Stimmung in ihrer Gesellschaft sehen im Übrigen am stärksten die Franzosen und die Italiener.
Zur Frage des vermuteten Desinteresses schließt sich eine andere Studie zum Thema »Leben und Arbeiten in Deutschland« an. Befragt wurden ausschließlich türkischstämmige Einwanderer. Hieraus möchte ich nur drei Aspekte vortragen. Den mit dem höchsten Unterhaltungswert zuerst. »Wenn ich in Deutschland im Falle der Arbeitslosigkeit keine Sozialleistungen bekommen würde, würde ich sofort in die Türkei gehen.« Dieser Aussage stimmen 31 % der Befragten zu. Aha, jetzt ist es ja raus, denken Sie? Keine Sozialknatter, also dann auch kein Deutschland mehr. Ich finde diesen Wert überhaupt nicht aufregend. Erstens sehen fast 70 % das anders, und zweitens halte ich die Antwort auch nicht für schlüssig. In der Türkei gibt es gar kein Sozialsystem. Also, welchen Vorteil außer dem Unterstützungspotential der Familie bringt die Rückreise? Dass man dort schneller einen neuen und besseren Job findet? Auch das halte ich bei einer Arbeitslosenrate von rund 10 % in der Türkei eher für schwierig. Ich glaube, da werden einige wohl doch noch einmal überlegen.
Zwei weitere Feststellungen wurden den Befragten ebenfalls vorgelegt: »Ich möchte unbedingt und ohne Abstriche zur deutschen Gesellschaft dazugehören«, sagten 59 %, und »Ich möchte mich unbedingt und ohne Abstriche in die deutsche Gesellschaft integrieren«, meinten 70 %. Stellt man alle drei Aspekte nebeneinander, dann sieht es gar nicht ganz so düster mit dem Integrationsbild aus. Und zum Schluss gibt es sogar noch ein ganz dickes Lob. 77 % stimmten der Aussage zu: »Deutschland ist ein weltoffenes Land, in dem es jeder unabhängig von der Herkunft zu etwas bringen kann.« Na also, geht doch, könnte man schmunzelnd murmeln. Aber gerade diese Studie war eine von denjenigen, die bei mir unter der Flagge segeln, »nett zu wissen, aber ein Haus würde ich auf diesem Fundament nicht bauen«.
Ein Gespräch, ein Thema, zwei Sichtweisen
Natürlich kann man ein Buch über Einwanderung, Integration, Einheimische und Zugewanderte, bildungsferne wie bildungsaffine Bevölkerung schreiben und ihn dabei keines Blickes würdigen. Aber warum kneifen? Ich meine Thilo Sarrazin, den Aufreger der letzten Jahre in dieser Themenwelt. Wir alle erinnern uns an seine Thesen über den Nutzen von warmen Pullovern anstelle eines Heizkörpers, wenn es in der Wohnung kalt ist, oder auch seine klugen Ratschläge für Arme, wie sie ihr Mittagessen kochen sollten. Nach dem Vorlauf des Interviews in der Zeitschrift Lettre International sorgte er dann mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab für Furore. Selbst der Regierende Bürgermeister von Berlin macht ihm in seinem Büchlein Mut zur Integration die Aufwartung. Zwar keine gute, aber immerhin. Gehört sich ja auch so, denn Thilo Sarrazin stand, von ihm gut behütet, von 2002 bis 2009 als Finanzsenator treu in seinen Diensten.
Egal, vor welchem Hintergrund und ob er als schlechtes oder gutes Beispiel Verwendung finden soll, irgendwann fällt bei Gesprächs- und Diskussionsrunden zur Bevölkerungsentwicklung, zur Einwanderung oder auch zur Frage der Vererbung menschlicher Eigenschaften sein Name. Meist gibt es dann keine Zwischentöne. Begeisterung und Beifall hier, Abscheu und Verdammnis dort. Dabei ist er aber irgendwie immer. Es ist erstaunlich, welchen Eindruck und welch tiefe Spuren Thilo Sarrazin bei Menschen unterschiedlichster Couleur und insbesondere unterschiedlichsten Alters hinterlassen hat. Er hat eindeutig Kultstatus. Im Positiven wie im Negativen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum so viel in ihn und in sein Buch hineingeheimnist oder hineininterpretiert wird. Wenn ich Teil solcher Diskussionen bin, stelle ich häufig fest, dass viele Menschen, die sich breit und ausladend, emotional oder unterkühlt, fanstimuliert oder hasserfüllt über ihn äußern, das Buch gar nicht gelesen, geschweige denn verarbeitet haben können. Es werden Thesen, Aussagen oder angebliche Zitate wiedergegeben, für die es im Buch keinen Beleg gibt. Es werden Dinge durcheinandergeworfen, es entsteht ein Mix aus Interviews, Zeitungsveröffentlichungen, Vorabdrucken, Kommentaren und Fehlinformationen, der eigentlich nicht seriös ist. Aber so entstehen Mythen. Allerdings leben sie nach dem Gesetz der »stillen Post« davon, dass sie in der Überlieferung von Mund zu Mund auch einer Eigendynamik unterworfen sind.
So, wie Thilo Sarrazin sein Buch geschrieben, so, wie er einige Formulierungen gewählt und so, wie er Fakten in Beziehung gesetzt hat, hätte ich es nicht getan. Aber es ist ja auch sein Buch und nicht meines. Zugeben muss ich, dass er die ideologisierte Integrationsdebatte erfolgreich vitalisiert und aufgemischt hat. Was mir persönlich in seinem gesamten Buch fehlt, ist eine innere Teilnahme an dem Thema, eine Hinwendung zu den gesellschaftlichen Entwicklungen. Einfach ein Stück Leidenschaft und Emotionalität. Das Buch macht einen kalten Eindruck. Es signalisiert, dass der Autor mit großer innerlicher Distanz Daten zusammengetragen und hieraus synthetische Schlussfolgerungen gezogen hat. Die mangelnde Empathie führt wohl auch dazu, dass ihm der Blick zur Differenzierung an vielen Stellen gefehlt hat. Was nutzt mir die sorgfältigste Analyse, wenn mein Lösungsansatz nicht zur Behebung des Problems führt, sondern selbst zum Problem wird?
Bis zum Beginn seiner neuen Identität als Autor kannte ich Thilo Sarrazin nur aus seiner Funktion als Berliner Finanzsenator. Meine Rolle als Geld fordernder Bürgermeister eines Brennpunktbezirks und seine als beinharter Haushaltskonsolidierer führten uns schon von Hause aus in eine kritisch-solidarische Distanz. Bezirkspolitiker waren für Thilo Sarrazin »Gänse, die laut schnattern, aber keine Eier legen können«. Irgendwie fühle ich mich bis heute dadurch noch diskriminiert, obwohl ich ihm menschlich inzwischen verziehen habe.
Die Frage für mich war nun, wie nähere ich mich Thilo Sarrazin? Rein theoretisch, so, wie er es tun würde, also nur anhand seiner Veröffentlichungen, die alle in meinem Büro liegen? Oder sollte ich mit ihm die bereits im Dutzend billiger vorhandenen Interviews um ein weiteres
bereichern und mich mit ihm über seine Thesen streiten? Sollte ich mich beckmesserisch an ihm abarbeiten, ohne ihm die Chance zu einer Gegenwehr zu geben? Letzteres ist nicht meine Welt. Also dachte ich mir, pack den Stier bei den Hörnern und setz dich bei ihm zu Hause auf die Couch. Mal sehen, was dabei herauskommt.
Gesagt, getan, ein Termin ist schnell vereinbart, und so fahre ich eines Morgens zu Thilo Sarrazin. Ein Platz auf der Couch ist für mich auch rasch gefunden, Thilo Sarrazin kocht uns einen Kaffee, und dann sind wir mit uns allein. Er, der Kater und ich.
Thilo Sarrazin macht auf mich einen zufriedenen, in sich ruhenden und entspannten Eindruck. Als ich auf sein Buch und seine Kritiker zu sprechen komme, kokettiert er erst ein bisschen. Er meint, dass die Verkaufszahlen und sein monatelanges Verharren in den Bestsellerlisten noch kein Indiz für Qualität seien. Die wirklich wichtigen Bücher schafften es nur selten auf die Bestsellerlisten, sagt er. Nicht ohne aber gleich nachzuschieben, dass die kleine Buchhandlung bei ihm an der Ecke 2500 Exemplare verkauft habe und somit jeder dritte Haushalt in seinem Wohngebiet über ein Exemplar verfüge. Noch heute sprächen ihn häufig Menschen in der Öffentlichkeit an, darunter viele junge Leute und integrierte Einwanderer. Den Schwall an schier schrankenlosen Emotionen, Schmähungen und genauso unsachlicher wie nicht verstehen wollender Kritik bezeichnet er als Wut der Pharisäer. Also von Menschen, die durchaus im Besitz von Erkenntnissen sind, aber ihre fest gefügten Strukturen nicht gefährden wollen. Sie stellen keine Fragen, weil sie ungewollte Forderungen fürchten.
Dass er jetzt als der Bösewicht der Nation gilt, steckt er mit einem Lächeln weg. Auch dass er zur Personifikation des Trennenden geworden ist, dass er der Generalschuldige für alle Erscheinungsformen des rechten Randes in unserer Gesellschaft zu sein scheint, dass die Menschen Dinge auf ihn projizieren, weil sie einfach einen Schuldigen suchen, ficht ihn offensichtlich nicht an. Unabhängig davon, dass es ihn als Person nicht erreicht, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass diese Projektionen reflexartig stattfinden. Im gesellschaftlichen Diskurs habe ich immer wieder erlebt, dass eine Bezugnahme auf seine Person ganz schnell zum Ausschlusskriterium für die eigene Position wird, falls man nicht eilig eine Distanzierung zu erkennen gibt. Wenn diese dann auch noch mit möglichst verächtlichen Formulierungen garniert ist, dann ist der eigene Ruf wiederhergestellt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass man Thilo Sarrazin auch die Zwickauer Zelle anlasten würde, wenn sie nicht schon Mitte der 1990er Jahre entstanden wäre. Thilo Sarrazin ist der Beweis für auch heute noch mögliche Massenpsychosen.
In unserem Gespräch dreht Thilo Sarrazin den Spieß um. Er berichtet mir von Sitzungen des SPD-Landesvorstandes oder von Senatsvorgesprächen, in denen andere Teilnehmer über mich als verlachten Außenseiter herzogen. Ich war so eine Art Hofnarr auf Distanz. Wundersam fand er dann, wie ich mich in den Augen derselben Leute zum Integrationspapst von Berlin gewandelt habe. Und so erwartet er von mir nun keine Euphorie gegenüber seiner Person, aber ein klein wenig Dankbarkeit darüber, dass er mich nach dem Motto »Es gibt Schlimmeres als Buschkowsky« in die politische Mitte gerückt hat.
Seine Miene verdüstert sich, wenn er über den Umgang der Medien mit ihm spricht. Er skizziert zwei Beispiele. Das eine ist der Mitschnitt des RBB und WDR bei einer Vortragsveranstaltung von ihm. Zwei Sequenzen seiner Rede, die etwa 15 Minuten auseinanderlagen, wurden so zusammengeschnitten, dass sie in der Sendung den Eindruck erweckten, er hätte gesagt, Muslime sind dümmere Menschen. Das zweite Beispiel befasst sich mit einem Film, den die Fernsehjournalistin Güner Balci mit ihm produzieren wollte. Es kam zu dem bereits erwähnten Vorfall, bei dem sich eine Gruppe von Straßenprotestlern vor einem Restaurant aufbaute, in dem er etwas essen und mit dem Restaurantinhaber reden wollte. Er musste das Lokal verlassen, weil dem Besitzer Konsequenzen für das Lokal angedroht wurden, falls er Thilo Sarrazin bedient. Das gleiche wiederholte sich bei einer geplanten Diskussionsrunde am selben Tag im alevitischen Cem-Haus. Auch hier eskalierte die Situation so, dass die Aleviten die Diskussion
absagten. Infolge dieser Ereignisse wurde Güner Balci der Auftrag entzogen, und Thilo Sarrazin sperrte das gesamte bis dahin entstandene Material.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #17 on: November 04, 2012, 09:08:06 am »
Thilo Sarrazin nimmt diese beiden Episoden zum Anlass, um sehr barsch seine Kritik darüber zu äußern, wie kleingeistig dieses Berlin wirklich sei. Obwohl es sich selbst ständig als offene und tolerante Weltstadt feiere und der Regierende Bürgermeister diese Formel gebetsmühlenartig wiederhole, bleibe die Stadt in der konkreten Situation den Beweis schuldig. Wenn Thilo Sarrazin so vom Leder zieht, fühlt man sich als Zuhörer nicht ganz wohl in seiner Haut. Auch ich konnte das Prädikat als Akt politischer Reife, dass dieser Aktion von Mandatsträgern der Linkspolitik in Berlin zugebilligt wurde, nicht nachempfinden. Für mich war es eher Psychoterror, Intoleranz verbunden mit der Botschaft: Demokratisch und pluralistisch ist nur das, was unserer Vorstellung entspricht. Von Freiheit des Geistes keine Spur.
Auf meine Frage, wie er denn nun vom Statistikfreak zum Integrationspolitiker mutiert sei, ist die Antwort erfrischend ehrlich. In den bürgerlichen Kreisen, in denen er sich mit seiner Frau privat vorwiegend bewegt, tauchen Migranten allenfalls in Gestalt der Putzfrau auf. Sonst wird dieses Phänomen nicht gesichtet. Man muss sich schon mit dem Fernglas auf die Reichsstraße stellen, um ein Kopftuch zu sehen. Das einzige, was er in seinem Alltag als Finanzsenator von Einwanderung und Migration mitbekam, waren die blauen Wolken über dem Tiergarten, wenn dort gegrillt wurde und der Dienstwagen ihn abends daran vorbei nach Hause fuhr.
Das hat ihn geprägt, auch wenn sich die Verhältnisse inzwischen in den bürgerlichen Wohnquartieren Berlins doch etwas verändert haben. Es ist aber nach wie vor so, dass die bürgerlichen Schichten alles auf ihre eigene konkrete Lebenserfahrung übertragen. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, dass sich an anderen Orten der Stadt inzwischen eine völlig neue Kultur und Lebensart mit divergierenden Wertestrukturen entwickelt hat. Das trifft auch auf Thilo Sarrazin zu. Nur seine Frau, die bereits in Köln und in Mainz als Grundschullehrerin mit migrantischen Schülerinnen und Schülern gearbeitet hatte, brachte ihm von Zeit zu Zeit derartige Veränderungsprozesse in der Gesellschaft nahe. Zum Beispiel, dass sie in Berlin inzwischen die Töchter von Müttern unterrichtet, denen sie früher als Schülerinnen das Einmaleins beibrachte. Der Unterschied bestehe allerdings darin, dass die heutigen Kinder weniger könnten als ihre Mütter. Hieraus lässt sich, so Thilo Sarrazin, nur der Schluss ziehen, dass sich eine ganze kulturell und lebensweltlich in Deutschland nur unzureichend integrierte Population entwickelt hat. Dramatisch ist aber, dass sie inzwischen auch das Gute aus der Kultur ihrer Eltern und Großeltern verloren hat.
Die dann immer intensivere Beschäftigung mit dem Thema der Integration führt er auf seinen Job als Finanzsenator zurück. Ihm ging es schlicht darum, die Geldforderungen der Bildungssenatoren Böger und Prof. Zöllner abzuwehren. Und so vertiefte er sich in die Ergebnisse der Pisa-Studie und begann alle Veröffentlichungen zu Bildungsfragen zu sammeln. Wenn er den Werdegang so schildert, fehlt es natürlich nicht an selbstbewussten Randbemerkungen. Dass er in den entsprechenden Senatssitzungen dann mehr von sozioökonomischen Strukturen der Schülerpopulation oder dem Schüler-Lehrer-Verhältnis in Berlin und anderen Bundesländern oder auch zum Leistungsstandard der Berliner Schulen verstanden habe als die sogenannten Fachsenatoren.
Er kritisiert, dass Berlin – im Vergleich mit den anderen Bundesländern – seine Gymnasien personell schlechter ausstattet, und begründet damit den Leistungsverfall. So könne eine Stadt mit Eliten nicht umgehen. Natürlich bekommt auch die Unterschicht sofort ihr Fett weg. Er referiert die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen, indem er vorträgt, dass der Anteil unterversorgter Zähne bei Kindern osteuropäischer Herkunft dreimal so hoch ist wie bei Deutschen und dass die Mängel bei der Visuomotorik (das für die kognitive Entwicklung wichtige Vermögen, visuelle Wahrnehmung und Bewegungsapparat, zum Beispiel Auge und Hand, zu koordinieren), die häufig die Ursache späterer Lernstörungen sind, bei den arabischen Kindern zehnmal so häufig auftreten wie bei Kindern aus deutschen bürgerlichen Familien. »Mangelhafte Zahnpflege, Übergewicht und
Bewegungsmangel der Kinder sind keine Fragen des Geldes und des materiellen Standards ihrer Familien«, doziert er. Nach wie vor scheint er Gefallen daran zu haben, gesellschaftlich Schwächere zu schulmeistern. Denn nahtlos schließt er an, dass sich eben die Berliner Unterschicht zu einem großen Teil aus Türken und Arabern zusammensetzt.
Schon im Mai 2009, als er zur Bundesbank wechselte, nahm er ein unfertiges Buchmanuskript mit dem Arbeitstitel Wir essen unser Saatgut auf mit in den neuen Job. Es ging darin um Fragen der Demographie, der Intelligenz, der Bildung, des Sozialstaats und der Migration in langfristiger Perspektive und in ihrem vernetzten Zusammenwirken auf die künftige Entwicklung Deutschlands. Dann sagt er, nicht ohne einen schon etwas verächtlichen Gesichtsausdruck, dass diese vernetzte Betrachtungsweise später wohl alle jene überfordert habe, die gerne mit linearen Gewissheiten leben.
Er blickt weiter auf das Jahr 2009 zurück und kommt auf das Interview in Lettre International zu sprechen. Ich frage nach. Und plötzlich sitzen der Kater und ich allein im Wohnzimmer. Thilo Sarrazin ist aufgesprungen, in ein oberes Stockwerk enteilt und kommt mit einer Ausgabe der Zeitschrift wieder. Ich muss mich in Geduld fassen. Etwa 15 Minuten referiert er, liest aus dem Text vor und bietet mir Belege dafür, dass er schon damals völlig missverstanden worden sei. Der Artikel stand unter dem Fokus »Berlin 20 Jahre nach dem Mauerfall mit den Augen des ehemaligen Finanzsenators«. Es sei überhaupt nicht um Integration gegangen, eher um Architektur, die Folgen der Teilung und in einem Randaspekt auch um die Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur. Darum, dass die Unterschicht in Berlin im Aufwuchs begriffen ist und dass sie es bei den Geburten bereits auf einen Anteil von 40 % bringt. Bis zu diesem Zeitpunkt, sagt Thilo Sarrazin entwaffnend, habe er sich mit dem Einfluss der islamischen Kultur auf das Bildungs- und Integrationsverhalten der muslimischen Migranten noch gar nicht intensiver befasst. Erst die Reaktionen auf das Lettre-Interview hätten ihn in diese Richtung gedrängt.
Natürlich frage ich nach den beiden berühmten Passagen, dass »er niemanden anerkennen muss, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert«, und dass »die große Zahl der Araber und Türken, die durch falsche Politik zugenommen hat, keine produktive Funktion außer für den Obst- und Gemüsehandel hat«. Diese Fragen lassen Thilo Sarrazin zu Höchstform auflaufen. Er zitiert aus dem Interview, er leitet ab, er demonstriert den Aufbau der Sätze und seiner Formulierungen, und er nennt es dann eine ins Anschauliche übersetzte, gründliche Analyse. Diese Floskel sollte mir im Gespräch noch öfter begegnen.
Ich hacke auf dem Begriff der »Kopftuchmädchen« herum. Ich frage Thilo Sarrazin, ob er sich als Agent Provocateur versteht oder ob die Formulierungen, die dann für einen Sturm der Entrüstung gesorgt haben, ein Versehen waren. Er bezeichnet seine Sätze als Formulierungen, für die er berühmt und berüchtigt sei, und erklärt, dass sie in der Sekunde des Sprechens geboren werden. Eigentlich sei es schade, dass es ein Lektorat für das Interview gegeben habe. Denn der unbereinigte Lettre-Text habe etwa das Zehnfache an Formulierungen enthalten, mit denen er »analytische Sachverhalte« anschaulich zusammengefasst hatte. Vielleicht ist es aber auch gut, dass wir von den berühmt-berüchtigten Formulierungen keine weiteren Kostproben erhielten. Auf den Punkt gefragt, gibt Thilo Sarrazin zu, dass es seine Entscheidung war, die Formulierung mit den »Kopftuchmädchen« im Text zu belassen.
Die Erfahrung mit der Lettre-Diskussion habe dann im Ergebnis aber dazu geführt, dass er sich entschloss, in seinem Buch ein eigenes Integrationskapitel aufzunehmen. Die Formulierungen im Buch empfindet er keineswegs vergleichbar provokant wie die »Kopftuchmädchen« oder den »Obst- und Gemüsehandel«. Als ich ihm zwei Beispiele nenne, die aus meiner Sicht eigentlich noch lästerlicher, wenn nicht herabwürdigender für andere Menschen sind, ist er nicht besonders einsichtig. Kritik an seinem Buch oder an seinen Thesen erträgt er nur mühsam bis gar nicht. Er verweist immer wieder auf Fußnoten, auf den Stand der Wissenschaft und auf seinen Text, der
»ungemein klar und analytisch ganz sauber herausgearbeitet« sei.
Er kann sich aber auch wie ein Kind freuen. Sein ganzes Gesicht strahlt, wenn er die Anekdote erzählt, dass die FPÖ im Wiener Kommunalwahlkampf »Sarrazin statt Muezzin« plakatiert hat.
Ich erinnere Thilo Sarrazin an eine Diskussionsveranstaltung, in der ich ihm die sozialen Verwerfungen in Neukölln ausführlich schilderte. Ich fragte ihn damals, wie er als Finanzsenator denn gedenke, darauf Einfluss zu nehmen, dass wir in den sozialen Brennpunkten der Verwahrlosung und der Bildungsferne zu Leibe rücken. Seine Antwort lautete: »Du musst lernen, dass Politik nicht alle Probleme lösen kann.« In seinem Buch nun kritisiert er massiv, dass der Staat und die Politik sich nicht um die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse kümmere und tatenlos zuschaue, wie sich negative Entwicklungen verfestigen. Und so frage ich ihn jetzt, ob er mir noch einmal dieselbe Antwort geben würde wie damals. Er weicht aus und gibt mir mit auf den Weg, dass es nicht schlecht sei, »Geld für eine gute Sache auszugeben«. Bei dieser Antwort muss ich nicht besonders schlau aus der Wäsche geschaut haben. Denn er legt nach: Der Kern der Probleme habe nichts mit Geld zu tun. Es war wohl doch etwas naiv von mir zu glauben, dass Thilo Sarrazin eventuell zugeben könnte, dass er damals aus Unkenntnis zu kurzsichtig geurteilt hat und er mit seinem Wissen von heute natürlich mehr Geld für die vorschulische Erziehung bewilligen würde. Dass Thilo Sarrazin zugibt, dass er irgendwann einmal nicht recht gehabt hätte, liegt sicherlich jenseits seiner Vorstellungskraft.
Egal, welche Ursachen sie hat: Für mich ist die Bildungsferne der Ursprung aller gesellschaftlichen Verwerfungen. Ich frage Thilo Sarrazin nach seinen Lösungsansätzen.
Er sagt, Bildungsferne wurzele in der mentalen Verfasstheit in großen Teilen unserer wachsenden Unterschicht. Sie müsse bei den Kindern bekämpft werden. Aber die wachsende Bildungsferne sei nur das Symptom, nicht die Ursache für das Anwachsen der Unterschicht. Dass die bildungsferne Unterschicht in Deutschland in absoluten Zahlen, aber auch als Anteil an der Bevölkerung so stark zugenommen habe, sei eine Folge falscher Einwanderung und falscher familienpolitischer Anreize unseres Sozialstaats. Daraus ergibt sich seine erste Kernthese, dass der weitere Zuzug nur noch auf qualifizierte Einwanderer beschränkt werden müsse. Als zweite These bezeichnet er den radikalen Stopp aller materiellen Anreize für überdurchschnittliche Geburtenraten in der Unterschicht.
Meinen Hinweis, dass wir gar keinen nennenswerten Zuzug, sondern eher ein Negativsaldo bei der Wanderung haben, wischt er vom Tisch. Er verweist auf die illegale Einwanderung muslimischer Migranten aus Afrika nach Spanien und Italien: Deutschland werde über die viel zu durchlässigen Grenzen des Schengenraumes durchschnittlich rund 100 000 Zuwanderer jährlich aus dem Nahen Osten und Afrika haben. Er findet es schlimm, dass wir bildungsfernen muslimischen Migranten hier ein warmes Plätzchen bieten, was sie bei sich zu Hause nicht hätten. »Wir ziehen so eine negative Auslese an und verstärken diese noch, wenn die Besten uns verlassen, die Übrigen aber bleiben und weiterhin große Familien auf Kosten des deutschen Sozialstaats haben. Dort liegt das Problem.« Das heißt für ihn, die bisherigen falschen Anreize streichen und an ihre Stelle die richtigen setzen. Er konkretisiert diese Forderung, indem er sagt, Einwanderer sollten für eine längere Übergangszeit keinen Anspruch auf deutsche Transferleistungen haben, und Geldleistungen für Kinder sollten diesen indirekt über das Bildungssystem zugute kommen.
Mit meinen Einwänden bin ich an dieser Stelle also nicht richtig durchgedrungen. Ich versuche es mit einem anderen Ansatz. Wenn wir das soziale Netz so einschränken, wie er vorschlägt, dann muss uns klar sein, dass wir auch den sozialen Frieden gefährden, der unter anderem durch das Sozialsystem garantiert wird. Unterschichten ohne materielle Lebensgrundlage bedeuten zwangsläufig eine immer mehr verarmende Bevölkerung. Reaktionen wie in den französischen Banlieues nach dem Motto »Was ich nicht kaufen kann, hole ich mir« oder das Entstehen einer von der Bevölkerung anerkannten organisierten Kriminalität wie zum Beispiel der
Gegenstaat der Camorra in Italien. Auf diesen Einwand hin passiert etwas Erstaunliches. Thilo Sarrazin räumt ein, dass er für diesen Punkt noch keine Lösung hat. Er denke oft darüber nach. Aber als Ausweg für sich sieht er die Erklärung, dass man nicht die Bekämpfung der Ursachen gegen die Bekämpfung der Folgen ausspielen könne. Und deshalb bleibt er dabei, dass bei der Integration zuerst bei den Ursachen der Probleme anzusetzen sei. Für ihn sind dies: der Zuzug, der Sozialstaat und die Manifestierung radikaler Elemente.
Wir widmen noch einen großen Teil unseres Gesprächs der Bildungspolitik. Bei diesem Thema wird Thilo Sarrazin ausgesprochen leidenschaftlich. Gerade im Berliner Bildungswesen macht er die Folgen und »das unsägliche Erbe der 68er-Generation und des Westberliner Schlampfaktors« aus. Er berichtet von der Leistungsunfähigkeit des Berliner Bildungssystems und ist auch da mit geharnischten Formulierungen nicht kleinlich. Bei Leistungstests werde geschummelt, weil die Lehrer, die unterrichten, auch die Tests bewerten. Da Lehrer nicht daran gemessen werden, was die Kinder wissen und welche Leistungen sie erbringen, sondern daran, welchen Notenspiegel sie erreichen, ist für ihn das Ergebnis klar. Dass donnerstags und freitags keine Hausaufgaben als Leistungskontrolle mehr aufgegeben werden, ist für ihn ein Akt der Humanisierung der Arbeitswelt der Lehrer, aber keine Maßnahme zur Bekämpfung der Bildungsferne. Bequeme Eltern verlassen sich nur allzu gerne auf Schule und Hort. Man wird dort schon mit dem Kind geübt und die Hausaufgaben kontrolliert haben. Bildungsorientierte Eltern hingegen überprüfen das am Abend und erleben nicht selten eine Überraschung. Die Ganztagsbetreuung ersetze nicht die Verantwortung der Eltern und das Üben zu Hause. Thilo Sarrazin sagt, unser Schulsystem werde erst dann wieder richtig funktionieren, wenn jene Lehrer wieder das höchste Ansehen genießen, bei denen die Schüler am meisten lernen. Und nicht jene Lehrer, die die meisten Einsen geben und die sich Ruhe durch Niveauabsenkung erkaufen.
Als Beleg für diese Leistungsverweigerung berichtet Thilo Sarrazin aus dem Berufsleben seiner Frau. Weil sie ihren Unterricht auf Ergebnisse und Leistung ausrichtete, wurde sie von der Schulleitung immer damit »belohnt«, dass man ihr besonders viele türkische Kinder in die Klasse gab. Und ein ausgesprochenes Glücksgefühl erfüllte sie, als man sie dann anwies, dem übrigen Kollegium zu verschweigen, dass ihre Klasse beim ersten VERA-Test als beste der ganzen Schule abgeschnitten hatte. Die Rektorin befürchtete, es könnte das Klima im Kollegium beeinträchtigen.
Für Thilo Sarrazin herrscht im Berliner Bildungssystem die Mentalität, Leistung und Leistungsunterschiede nicht objektiv messen zu wollen und, wenn dann schon gemessen wird, wenigstens die Ergebnisse zu verschweigen. Für ihn steckt dahinter mangelnde Konfliktbereitschaft, die mit dem angeblichen Fürsorgegedanken bemäntelt werde, leistungsschwachen Lehrern oder Schülern einen psychischen Schaden zu ersparen. »Solange man diese Mentalitäten nicht ändert, wird auch das Berliner Bildungssystem nicht gesunden«, sagt er. Die Humanisierung des Arbeitslebens der Lehrer führe nicht automatisch zu einem Leistungsgewinn bei den Schülern.
Ich berichte über die beiden Neuköllner Modellprojekte Albert-Schweitzer-Schule und Rütli-Schule. Messbar können wir belegen, dass die Bildungserfolge mit einem anderen Schulalltag deutlich zunehmen. Auch hier ist Thilo Sarrazin mit dem Verriss schnell bei der Hand. Der Hinweis, dass die Albert-Schweitzer-Schule die Abiturientenzahl in vier Jahren versechsfacht hat, quittiert er mit der rhetorischen Frage: »Was werden das schon für Abiture sein?« Es gebe eine Noteninflation ohne Ende. Bald bekämen alle, die überhaupt bestehen, eine Eins. Das ist so ein Moment in dem Gespräch, bei dem ich massive Zweifel empfinde, ob es Thilo Sarrazin wirklich um eine Veränderung der Zustände geht. Oder ob er nicht doch einer von den beiden in der Loge im ersten Rang ist: Sie erinnern sich an Statler und Waldorf, die ewigen Nörgler aus der »Muppet Show«?
Zugegeben, ich bin etwas angefressen. Dieses Miesmachen von erfolgreichen Politikansätzen, ohne sie überhaupt näher zu kennen, empfinde ich nicht als professionell. Ich will Thilo Sarrazin aus der Reserve locken und konfrontiere ihn mit einer Aussage in der Süddeutschen Zeitung. Er wird dort mit dem Satz zitiert, es sei »eine Illusion zu glauben, man könne Menschen
oder sogar soziale Schichtungen durch die Schule ändern«. Ich finde diesen Satz so falsch, wie etwas nur falsch sein kann. Frühere Generationen aus dem Stand der ungebildeten Leibeigenen und der malochenden Arbeiterklasse konnten nur deshalb zu Wohlstand gelangen und in der Gesellschaft aufsteigen, weil das Bildungssystem ihnen mit einem neuen Wertegerüst zu mehr Denken und Verstehen und damit auch zu mehr Chancen verholfen hat, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Ich selbst bin ein Beispiel dafür.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #18 on: November 04, 2012, 09:09:21 am »
Thilo Sarrazin weist dieses Zitat weit von sich. Er sei falsch zitiert worden. Ich kann das nicht beurteilen und nehme das Dementi also so hin. Nun ja, vielleicht war das aber auch wieder eine solche Spontanschöpfung im Gespräch wie die »Kopftuchmädchen«. Dann würde es ihn zieren zu sagen, sorry, war nicht der klügste Spruch, wir lassen ihn morgen weg.
Zusammen mit seiner These, dass die falschen Anreize im Sozialsystem radikal abgeschnitten werden müssen, kommt Thilo Sarrazin auf das Thema der ungleichen Kompetenzen einzelner Ethnien im Integrationsprozess zu sprechen. Er nimmt Bezug auf die Eingliederung und die aktiven Integrationsleistungen von Vietnamesen, Russen, Indern und Polen im Vergleich zu muslimischen Einwanderern aus Südosteuropa, Nordafrika, Nah- und Mittelost. Er plädiert dafür, dass alle finanziellen Anreize abgeschafft werden müssen, die im Ergebnis dazu führen, dass die bildungsfernen Schichten sich stärker fortpflanzen als die bildungsorientierten. Als Vergleich zieht er die bekannte Veränderung der Geburtenrate der Welfare-Mothers in den USA an, die nach dem Fortfall der lebenslangen Alimentation massiv zurückging. Nachdem die Sozialleistungen in den USA auf fünf Jahre beschränkt wurden, verstärkte sich die Verhütungsbereitschaft mit gleichzeitigem Rückgang der Geburtenrate.
Bei uns haben akademische Frauen eine Geburtenrate von 1,0, in den USA 1,7 bis 1,8. Das ist für Thilo Sarrazin der Ausgangspunkt, an dem staatliche Förderung ansetzen muss. Er will das System ändern. Solange es so ist, dass unsere Gesellschaft jedes Kind erwerbsloser oder geringverdienender Eltern mit, alles zusammengerechnet, monatlich 320 Euro fördert, nur solange funktioniere eben auch das Modell der arabischen Großfamilie in Neukölln, sagt er. Er hält das »einkommensunabhängige Kindergeld, was übrigens eine Erfindung der Nazis ist, für eine grundsätzliche Fehlentwicklung«. Für ihn ist das französische System klüger. Dort können gut verdienende Franzosen durch viele Kinder viele Steuern sparen. Kinder sind in Frankreich das Steuersparmodell für die Reichen, sagt er. Deswegen gebe es dort mehr Kinder, und er findet es vernünftig, dass die, die wirtschaftlich leistungsfähig sind, sich für mehr Kinder entscheiden.
Natürlich unterhalten wir uns auch über sein Steckenpferd. Die genetischen Grundlagen des Menschwerdens, seine Thesen zur Vererbung von Intelligenz und die daraus für ihn zwingenden Ableitungen der Auswirkungen auf die Demographie. Thilo Sarrazin beharrt auf seiner bekannten Feststellung, dass er den Stand der Wissenschaft wiedergegeben habe und wiedergebe, und dass diejenigen, die sich mit dieser Thematik nicht beschäftigen wollen, dies aus Bequemlichkeit tun. Bei flapsigen Formulierungen meinerseits zu diesem Thema bekomme ich noch einmal eingetrichtert, dass die Erblichkeit von Intelligenz und die unterschiedlichen Bildungsleistungen von Einwanderern je nach ethnischer und kultureller Herkunft heterogen zu betrachten seien. Da seien auch viele Kritiker an seinem Buch an ihre Grenzen gestoßen, hätten die Dinge vermengt und dann aus diesem Brei die Behauptung konstruiert, er hätte Muslime für genetisch dümmer erklärt. Was er nach seiner Überzeugung an keiner Stelle getan hat.
Der Grad der Intelligenz sei zwar nicht genetisch bedingt, aber sehr wohl mit der kulturellen Herkunft verknüpft, meint er, und verweist darauf, dass die Kinder von Migranten aus Fernost weltweit die besten Pisa-Ergebnisse erzielen und die Kinder von Migranten aus islamischen Ländern die schlechtesten. Zwischen Einwandererkindern aus Pakistan und aus Indien liege im Pisa-Test in Mathematik ein Unterschied von mehr als vier Schuljahren. Länder, die überwiegend Einwanderer aus Fernost hätten, würden durch diese Einwanderung ihre durchschnittliche Bildungsleistung erhöhen. Das gelte zum Beispiel für die USA, Kanada oder Australien. Länder, deren Einwanderer
vorwiegend aus der Türkei, Afrika und Nah- und Mittelost kommen, müssten durch diese Einwanderung eine Absenkung der durchschnittlichen Bildungsleistung hinnehmen. Dies gelte zum Beispiel für Deutschland, Österreich und die Schweiz.
An dieser Stelle war der Kaffee alle. Obwohl sich der Kater inzwischen an mich gewöhnt hatte, beendeten wir unser Gespräch.
Auf dem Weg zurück ins Rathaus sortierte ich meine Gedanken. Hat Thilo Sarrazin nun die Erleuchtung gebracht und endlich ausgesprochen, was viele denken? Oder ist er doch der Demagoge, ja fast ein Volksverhetzer, für den ihn die anderen halten? Ich vermag die Frage an dieser Stelle nicht zu beantworten. Jeder muss selbst sein Verhältnis zu Thilo Sarrazin finden. Man kann, ja, ich finde, man muss sich an ihm reiben. Er liebt es, Widerspruch zu erzeugen, aber er liebt den Widerspruch nicht. Er ist sicher egozentrisch. Ein bisschen selbstherrlich verliebt in die eigene, nicht zur Disposition stehende Intelligenz und die daraus resultierende Erkenntniswelt ist er nach meinem Empfinden schon. Ein Neonazi und Volksverhetzer ist er aber nicht. Man mag ihn als unbequem und als Zumutung empfinden, ihn zum Teufel wünschen, weil man seine Thesen nicht teilt, und man kann – wie geschehen – dem streitbaren Dialog mit ihm ausweichen. Das ist bequem, aber feige. Wenn wir eine freie, liberale und pluralistische Gesellschaft sein wollen, dann müssen wir auch schmerzliche Prozesse zulassen und durchstehen. Denn erst daran zeigen wir die Belastbarkeit hochtrabender Worthülsen. Diese Worte richte ich gerade an die, die immer glauben, die Weisheit mit Löffeln gefressen und die Wahrheit gepachtet zu haben. Ich respektiere Thilo Sarrazin, auch wenn ich nicht alles an ihm und von ihm mag.
Der »schlaue Det« hat mir ein bisschen die große, weite Welt erklärt. Trotzdem sitze ich im Auto und finde auf die Frage, ob ich nun für meinen Job in Neukölln besser gerüstet bin als vorher, keine schlüssige Antwort. Für heute verabschiede ich mich von der Metaebene und den globalen Philosophien und kümmere mich wieder darum, dass in Neukölln Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen und sie zu der Erkenntnis gelangen, dass es ein Leben außerhalb von Hartz IV gibt.
Und wie machen es andere?
»Neukölln ist der Blick in die Zukunft vieler Städte in Europa und der ganzen Welt, die von Migration geprägt sein werden.« So lautete das Urteil des Europaratexperten und Ideenstifters des Intercultural-Cities-Projektes der EU-Kommission und des Europarates, Phil Wood, nach seiner Visite im Jahre 2008. Nach seiner 3-tägigen Inspektion stand für ihn fest, dass Neukölln als einzige deutsche Kommune Pilotpartner des Projektes sein soll. Ziel dieses Programms war es, ein Netzwerk aus Städten aufzubauen, die alle einen hohen Migrantenanteil in ihrer Bevölkerung haben. Durch den Austausch ihrer Erfahrungen sollten die Stadtverwaltungen voneinander lernen. Die Namen der Partnerstädte klangen verheißungsvoll – Lyon, London-Greenwich, Reggio Emilia, Neuchâtel, Lublin, Patras, Melitopol, Oslo, Tilburg, Straßburg, Ischewsk –, und so waren wir auch stolz auf die Berufung in diesen Kreis und gespannt auf die Dinge, die uns dort begegnen würden.
Der Kreis hat sich seit der Startphase des Projektes auf 37 Städte in 29 Ländern erweitert. Neukölln ist nur noch verhalten und am Rande involviert. Selbstverständlich werden wir unserer Rolle als Gastgeber für Ausflüge in die deutsche Hauptstadt nach wie vor gerecht und nehmen auch mit Vertretern des Bezirks an ausgewählten Konferenzen der Netzwerkstädte teil.
Wir merkten schnell, dass unsere Erwartungshaltung und die Ziele des Projektes zwar über Schnittmengen verfügten, aber nicht deckungsgleich waren. Das Projekt sah sich insgesamt dem Gedanken verpflichtet, die kulturelle Diversität als Katalysator der interkulturellen Integration zu nutzen. Hierfür war man auf der Suche nach guten Projekten und Praktiken in den einzelnen Städten. An der Lösung von sozialen Verwerfungen und der Überwindung von Bildungsferne wie der Eindämmung von Kriminalität, um daraus Integrationserfolge zu schöpfen, war man eher zurückhaltend interessiert. Und das ist noch eine sehr höfliche Umschreibung. Hin und wieder brachen die unterschiedlichen Sichtweisen deutlich sichtbar auf und vermittelten uns sehr klar die Erkenntnis, dass unser Ansatz, Lösungsstrategien für komplexe Probleme zu entwickeln, ziemlich verpönt war.
Es war schon ein sehr heftiges Ringen, die zehn Grundsätze der Integrationspolitik in Neukölln unverändert auf der Homepage des Europarates zu platzieren. Sein nicht enden wollendes Insistieren, unsere fordernden und stringenten Formulierungen aufzuhübschen und zu verniedlichen, war recht ermüdend. Letztlich haben wir uns durchgesetzt, und der unveränderte Text ist heute noch im Internetauftritt des Projektes zu finden.**
Insgesamt muss ich zugeben: Wir haben es diesem Schönwetterprojekt nicht leicht gemacht. Bei Diskussionen und Workshops drängten wir immer wieder darauf, dass die Phänomene Multikulti, Parallelgesellschaften, Kriminalität, Armutsmigration auf die Tagesordnung kamen. Wir mussten dann aber einsehen, dass diese Themen zwar formal abgewickelt wurden, aber kein Interesse an einer wirklichen Vertiefung und Aufarbeitung bestand. Interessant war in diesem Zusammenhang, dass in den direkten Kontakten mit den Vertretern der einzelnen Städte die Sichtweisen doch den unseren erheblich näher waren als denen des Projektes. Die anderen Städte hatten die gleichen Probleme und waren an einem Meinungsaustausch stark interessiert. Neuköllner Teilnehmer waren bei Veranstaltungen am Tisch nie einsam. Die Einladungen nach Glasgow, Tilburg und Oslo verdanken wir diesem Projekt. Die Besuche verhalfen uns zu einem erheblichen Erkenntnisgewinn, insofern will ich auch nicht undankbar sein.
Zur Sache selbst muss ich zugeben, meine Einschätzung, dass so ein Europaprojekt zu praktischen Ergebnissen führen und als tatsächliche Arbeitsveranstaltung mit Zielhorizont versehen sein könnte, war etwas niedlich laienhaft. Als ich später mit erfahrenen »Europäern« über meinen Frust sprach, lachten sich diese halbtot. Man wisse doch, wurde mir gönnerhaft erklärt, dass derartige Europaprojekte den Reisekadern und Hotelfetischisten auf den Leib geschneidert seien und es nur um die Bestätigung von Sonnenschein-Thesen und Blühende-Landschaften-Theorien gehe. Solche Projekte sind problem- und konfliktfreie Zonen.
Heute kann ich das uneingeschränkt bestätigen. Europa mit seiner Administration ist eine eigene Welt. Man trifft sich, ist nett zueinander und sich auf hohem intellektuellen Niveau einig über das im Werden befindliche Paradies Europa. So empfanden wir Neuköllner auch das Projekt Intercultural Cities. Wir wurden immer gerne besucht, und man erlebte auf der Tribüne mit Begeisterung den Karneval der Kulturen. Es sollte stets schön bunt und unterhaltsam sein. Die Herausforderungen der Arbeit der Stadtteilmütter erfüllten diese Prämisse nicht. Die Suche nach abwechslungsreichen Beispielen für kulturelle Vielfalt und sozialen Zusammenhalt, also nach diversity and cohesion, verträgt keine Schattenbilder.
Dieser abstrakte Seminarismus auf der Metaebene war nicht unsere Welt. Vielleicht waren wir auch zum Netzwerkebilden, sich immer wieder gegenseitig Einladen und so um die Welt Reisen einfach zu dumm. Und so zogen wir uns heimlich, still und leise aus der ersten Reihe zurück. Insgesamt wird es das Projekt bis zu seinem Ende im Dezember 2012 auf 50 offizielle internationale Begegnungen bringen. Wie viele bi- und trilateralen Reisekader sich einem noch intensiveren Gedankenaustausch hingegeben haben, ist mir natürlich nicht bekannt. Ich gehe davon aus, dass durchaus auch einige wirklich sachorientierte Begegnungen zustande gekommen sind. Für Neukölln möchte ich die Inspirationen aus Tilburg, Glasgow und Oslo jedenfalls nicht missen. Sie ergänzten unsere Erfahrungen aus Rotterdam, London und später Neapel ideal. Die Identität der Entwicklungen und die zum Teil völlig divergierende Art, damit umzugehen, sind faszinierend. Wer frisch in die Politik einsteigt und sich der Integration widmen will, sollte unbedingt mit einer kleinen Exkursion beginnen.
Wir waren stets eine kleine Gruppe, die sich aufmachte. Sie bestand immer aus dem Migrationsbeauftragten Arnold Mengelkoch, der Jugendrichterin Kirsten Heisig, die vor dem Neapel-Besuch aber leider bereits aus dem Leben geschieden war, dem Schuldezernenten Wolfgang Schimmang, später seiner Nachfolgerin Dr. Franziska Giffey und meiner Person als dem Kernteam. Je nach Interesse nahmen die damalige Jugenddezernentin Gabriele Vonnekold, einzelne Polizeibeamte oder Journalisten teil. Wir waren aber nie mehr als sechs Personen, um die Gruppe für unsere Gastgeber im erträglichen Maß zu halten.
Als sehr bedauerlich habe ich es empfunden, dass die Berliner Polizeibehörde keine einheitliche Haltung zu unseren Einladungen entwickeln konnte. Die Auseinandersetzungen, ob und wenn ja, welcher Polizeibeamte mit ins Ausland reisen durfte, waren mitunter schon so skurril wie überflüssig. Nach meinen Kenntnissen soll diese Frage allerhöchste Stellen des Polizeipräsidiums zu intensiven Erörterungen veranlasst haben. Na ja, wer Zeit hat. Dabei hatten wir immer nur das Ziel, dass möglichst alle im Sozialraum tätigen operativen Behörden einen gleichen Kenntnisstand haben. Also mental vernetzt sind. Die Frage der Vernetzung wird nachstehend noch eine Rolle spielen. Bei der Vorbereitung unserer Reisen hat es da wohl Überforderungen gegeben.
Bitte sehen Sie es mir nach, dass ich mich hinsichtlich der Bewertungen der einzelnen Erlebnisse in den jeweiligen Städten mit Zensuren zurückhalte. Ich bin den Stadtverwaltungen sehr, sehr dankbar, dass sie uns empfangen haben, auf hochrangiger Ebene Gesprächspartner zur Verfügung stellten und uns letztendlich in ihre Karten haben schauen lassen. Es ist nicht so einfach, in andere Länder zu reisen und tatsächlich die Türen geöffnet zu bekommen. Wir wollten aber nicht zu den schönen Orten, die man gerne zeigt und auf die jeder stolz ist. Wir wollten dorthin, wo es manchmal nicht so gut riecht und wo die leben, die sich ausgegrenzt fühlen oder es auch sind. Also in die Brennpunkte, dorthin, wo die Probleme evident sind. Dafür braucht man Freunde, die werben: Ich weiß, dass vor Ort einige ihr Wort und ihren guten Namen für uns verpfändet haben, dass die Offenheit anschließend nicht missbraucht wird. Wir hatten das Glück, auf Menschen zu treffen, die unser Anliegen verstanden, es teilten und uns halfen. Allen Botschaftern und Generalkonsuln und insbesondere ihren operativen Mitarbeitern sei an dieser Stelle ein Dankeschön zugerufen.
Es ist nicht die feine Art, erst bei anderen in die Töpfe zu schauen, um dann hinterher am Essen rumzumäkeln. Natürlich wird die eine oder andere wertende Bemerkung aber nicht völlig zu
verhindern sein. Es waren mitunter recht freimütige Analysen und Diskussionen, in denen uns das Leben so geschildert wurde, wie es tatsächlich ist. Für gewöhnlich ist das nicht der Stoff, den man ausländischen Delegationen bietet. Für uns aber war es lehrreich. Soziographische, soziale und strukturelle Verwerfungen, kulturelle Reibungen, Bildungsferne und Kriminalität in Stadtlagen sind sich sehr ähnlich. Die Ursachen auch. Unterschiedlich sind die Reaktionen, die Betroffenheit und der Ausschlag auf der Skala der Aufgeregtheit. Es überraschte mich schon, wie unterschiedlich das Engagement einzelner Stadtverwaltungen ausgeprägt ist, sich nachhaltig ihrer Problemzonen zu widmen.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #19 on: November 04, 2012, 09:11:17 am »
Es war kein Zufall, dass unsere erste Reise uns 2008 nach Rotterdam führte. Seit vielen Jahren gibt es zwischen der Stadt Rotterdam und Berlin-Neukölln freundschaftliche Beziehungen auf der Ebene der Stadtverwaltungen. Diese drücken sich weniger in einem Wettbewerb für Büffetmarder aus, sondern orientieren sich eher an fachlichen Diskursen zu Fragen der Einwanderung, des Sozialsystems und der inneren Sicherheit. Im Jahr 2004 besuchte uns eine hochkarätige Delegation aus den Niederlanden, um in Berlin-Neukölln zu schauen, wie wir mit bestimmten Situationen umgehen und fertig werden. Das war noch vor der Ermordung Theo van Goghs. Nur kurze Zeit danach geschah dieses schreckliche Verbrechen, und es folgten heftige Unruhen im Land. Die Verbindungen zwischen beiden Städten blieben stets erhalten.
Zur ersten Konferenz fällt mir eine kleine Anekdote ein. Ich hatte im Vorfeld versucht, die Presse zu interessieren, und bot sogar Exklusivberichterstattung an. Die Reaktionen waren enttäuschend. »Integration? Das ist doch kein Thema.« 14 Tage später, nach dem Mord, gaben sich dieselben Journalisten die Klinke im Rathaus in die Hand – plötzlich wollten alle ein Interview zur Integration. Das ist halt so, only bad news is good news.
Der damalige Bürgermeister von Rotterdam, Ivo Opstelten, präsentierte 2008 in der Niederländischen Botschaft in Berlin das Rotterdam-System. Er war in seinen Formulierungen nicht zimperlich. Eine Kostprobe davon lautet: »Wir haben Straße für Straße und Viertel für Viertel für die niederländische Bevölkerung zurückerobert.« Das mussten wir uns ansehen, und im Juni desselben Jahres war unsere kleine Gruppe dann zu Gast in Rotterdam.
Das war der Beginn unserer Exkursionen. Noch in 2008 folgte London, 2009 Glasgow, ebenfalls 2009 Oslo und 2011 Neapel. Wir waren dort jeweils für drei Tage, in denen wir ausschließlich Einrichtungen besuchten, die in der Integrationspolitik der jeweiligen Stadt eine besondere Rolle spielten, und Gespräche mit der Stadtverwaltung, der Justiz, der Polizei sowie den Sozialdiensten führten.
Diese intensiven Erfahrungen aus anderen europäischen Städten haben mich sehr geprägt. Ich wünschte allen, die sich politisch mit den Veränderungen der Bevölkerungsstruktur der Städte in Europa beschäftigen, dass sie auch hin und wieder woanders mit den Augen und den Ohren stehlen gehen. Vielleicht mindert es die Selbstverliebtheit, mit der sich die Parteiarbeitsgruppe XY ihrem nächsten Beschluss zu einer Resolution widmet. Mein Resümee lautet jedenfalls, dass in den anderen Städten die dort politisch Verantwortlichen im Grunde genommen vor den gleichen Herausforderungen standen und stehen wie wir in Berlin oder ich konkret in Neukölln. Manchmal geht es woanders auch noch heftiger zu als bei uns. Dieser Satz ist für all diejenigen, die davon überzeugt sind, dass immer nur wir es sind, die das Leid dieser Welt auf ihren Schultern tragen müssen.
Ein Beleg dafür, wie sehr sich die Herausforderungen ähneln, ist ein Ausriss aus einer Rede des Botschafters der Niederlande vom 15. Oktober 2004:
»Beide Länder (Deutschland und die Niederlande) sehen sich mit ähnlich gelagerten Integrationsproblemen konfrontiert, beispielsweise mit der Gefahr der Ghettoisierung ganzer Stadtviertel, mit wachsender Kriminalität, hohen Sozialkosten, Problemen in den Schulen und einer zunehmenden Anzahl radikaler Islamisten. Die niederländische Regierung wird deshalb der Entwicklung von Parallelgesellschaften mit aller Kraft entgegenwirken. Die Lage in Rotterdam und
die energische Art und Weise, wie die Rotterdamer unter der Leitung von Herrn Bürgermeister Opstelten ihre Probleme lösen, haben die niederländische Regierung veranlasst, diese Rotterdamer Politik zur nationalen Politik zu erklären.Eine erfreuliche Entwicklung ist die interessante unternehmerische Perspektive für integrationsbereite Einwanderer. Migranten sind schon jetzt viel erfolgreicher in der Gründung eigener Firmen als die niederländische Bevölkerung. (…) Ausgebildete Migranten, die unsere Wertesysteme akzeptieren, sind durchaus sehr erfolgreich. Wer aber im eigenen Ghetto bleibt und sein Umfeld nicht verlassen möchte, hat kaum eine Chance, sich zu integrieren: Er wird auf Dauer von Sozialleistungen abhängig sein. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bis die niederländische Bevölkerung den Solidaritätsgedanken aufgibt, weil die Last der Migranten einfach zu groß geworden ist.« Insbesondere der letzte Satz ist schon eine markante Aussage für einen Botschafter der Niederlande. Waren es doch gerade die Niederländer, die für uns Deutsche als eine Art Vorbild dafür fungierten, wie man durch eine liberale Politik unterschiedlichen Herausforderungen entspannt begegnen kann, ohne immer gleich den Weltuntergang zu beschwören, wie es uns Deutschen eigen ist. Als Begleittext zu dieser Rede des Botschafters wurde ein Aufsatz des renommierten Sozialforschers Prof. Dr. Paul Schnabel verteilt, der die Geschichte der Niederlande als Einwanderungsland von 1950 bis zum Jahre 2000 beschreibt. Die Einzelaussagen sind für dieses Buch ohne Belang, deswegen verzichte ich auf eine Wiedergabe. Mir scheint nur wichtig zu sein, dass einige Parameter mit den unsrigen übereinstimmen. So ist in den Niederlanden der Anteil an Menschen ohne Schulabschluss unter den Türken am höchsten. Damit liegen sie noch vor den Marokkanern. Der Sprachstand ist noch erschreckender. Während Menschen aus Suriname und von den Antillen zu 91 % bzw. 64 % mit ihren Kindern zu Hause Niederländisch sprechen, fällt diese Quote bei den Marokkanern bereits auf 26 % ab. Das Schlusslicht allerdings bilden die Türken mit 18 %. Weitere Zahlen möchte ich Ihnen ersparen und stattdessen die Schlusssequenz der Ausführungen von Prof. Dr. Paul Schnabel zitieren:
»Die Einstellung der niederländischen Bevölkerung ist vor allem gegenüber den jüngeren Marokkanern und Antillianern äußerst negativ. Sie werden – nicht zu Unrecht – als wichtige Verursacher der Kleinkriminalität gesehen. Die Konzentration von Ausländern in den alten und ersten Nachkriegsvierteln der Großstädte hat zu einer starken Entfremdung zwischen ihnen und der ursprünglichen Wohnbevölkerung geführt. Viele der alteingesessenen Bewohner sind weggezogen, die allmählich entstehende Mittelschicht der erfolgreichen Ausländer tut es ihnen jetzt gleich. Die meisten Ausländer wollen sicherlich die Niederlande nicht verlassen.Die derzeitige Regierungspolitik richtet sich auf die Beschleunigung und Verstärkung der Integrationsbemühungen durch: obligatorische Einbürgerungskurse (Sprache, Geschichte, Staatsbürgerkunde)
Einschränkung der Heiratsimmigration durch Alters-, Einkommens- und Wohnungsnachweise
Beschleunigung des Asylverfahrens, strengere Zulassungskriterien und Verschärfung der Abschiebepraxis
Einschränkungen beim (sofortigen) Zugang zu Sozialleistungen
Förderung der Emanzipation der ausländischen Frau.«
Ich möchte den niederländischen Wissenschaftler nicht kommentieren. Das könnte durchaus zu Verhebeeffekten führen. Eine Anmerkung drängt sich mir jedoch auf. Ich glaube nicht an Zufälle. Es muss aus meiner Sicht einen Grund dafür geben, dass insbesondere die türkischen Auswanderer ein so auffälliges Defizit beim Erlernen der Sprache ihrer neuen Heimat aufweisen. Ich werde mich an dieser Stelle auch nicht zu irgendwelchen Laienthesen versteigen. Für mich muss es aber noch eine andere Erklärung geben als die, dass das Erlernen einer neuen Sprache eben anstrengend und schwierig ist. Es müssen weitere Faktoren vorhanden sein. Denn auch wir stehen etwas hilflos vor dem Umstand, dass die dritte, ja teilweise sogar bereits die vierte Generation unserer türkischen Einwanderer mitunter einen katastrophalen Sprachstand aufweist. Auch für Neukölln kann ich bestätigen, dass neben den türkischen und arabischen Einwanderern eigentlich keine Ethnie so
starke Sprachmängel auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt im Land hat.
Rotterdam war nicht nur der Start unserer Expedition, sondern wir haben dort auch den überzeugendsten Politikansatz kennengelernt. Man mag über einige Details unterschiedlicher Meinung sein, aber es ist nicht zu bestreiten, dass es seitens der Stadt eine hohe Affinität zur eingewanderten Bevölkerung gibt. Man spürt überall den konsequenten Willen, Missstände zu beseitigen und alle in einen Zielkorridor des Lebens zu führen. Das ist sicher aus der Situation der Stadt im Zeitraum 2000/2002 zu erklären. Uns wurde berichtet, dass es damals nicht angeraten war, bei Dunkelheit auf die Straße zu gehen und den öffentlichen Raum zu nutzen. Das war jene Zeit, als der Rechtspopulist Pim Fortuyn, der dann im Mai 2002 in Hilversum erschossen wurde, unerhörte Erfolge feierte. Die bürgerlichen Parteien kamen überein, dass die Verhältnisse radikal verändert werden müssten, damit die Stadt nicht ihren sozialen Frieden verliere und in die Unregierbarkeit abrutsche. Es kam zu einer völligen Umkehrung der Politik, die allerdings auch einherging mit starkem Abbau der bürgerlichen Rechte. So erhielt die Polizei die Befugnis, jederzeit ohne Anlass Straßen zu sperren und Personen zu kontrollieren. Genauso kam der Entzug des Aufenthaltsrechts in der Stadt zur Anwendung, um auffälligen Familien zu verdeutlichen, dass ihr Tun nicht mehr geduldet wird. Oder es wurden Interventionsteams gegründet, die befugt waren, anlassunabhängig Häuser und Wohnungen zu begehen, um nach Missständen Ausschau zu halten. Diese Interventionsteams bestehen aus Mitarbeitern der Sozialbehörde, des Ordnungsamtes, der Stadtwerke, der Wohnungsbaugesellschaft und der Polizei. Wird ihnen der Eintritt verweigert, dann reicht das zur Begründung eines gerichtlichen Durchsuchungsbeschlusses. Auftrag des Interventionsteams war und ist nicht nur, nach störendem Verhalten der Bewohner zu suchen, sondern auch zu schauen, ob die Wohnbedingungen sozial angemessen und die technischen Einrichtungen des Hauses intakt sind. Bei Überbelegungen wird Ersatzwohnraum beschafft, und bei technischen Problemen wird dem Hauseigentümer auferlegt, die Mängel zu beseitigen.
Eine Ergänzung zu den Interventionsteams stellen die Stadtmariniers dar. Das sind Behördenmitarbeiter, denen bestimmte regionale Gebiete mit der Aufgabe zugeordnet sind, dort nach dem Rechten zu sehen und direkter Ansprechpartner für alles und jeden zu sein. Sie sind dem Bürgermeister direkt unterstellt. Egal, ob es lähmenden Zank zwischen Behörden darüber gibt, wer was zu tun hat, oder die Bürger meinen, dass eine bestimmte Situation mehr Engagement erfordert, für all diese Dinge sind sie der Sorgenengel. Sie geben Anweisungen, ohne zuständig zu sein, und im Weigerungsfall geht die Meldung direkt an den Bürgermeister, was unangenehme Konsequenzen haben kann. Jeder weiß das, und deswegen sind die Stadtmariniers eine beachtete Instanz.
Auch die Polizei agiert recht drastisch. Terrorisiert etwa eine Jugendgruppe das Wohngebiet mit ihren knatternden Mopeds trotz wiederholter Ermahnung weiter, werden die Mopeds eingezogen und der sofortigen Vernichtung zugeführt. Man stelle sich das einmal bei uns vor. Meine Güte, da würden aber hoch bezahlte Anwaltskanzleien Umsatzsprünge zu verzeichnen haben, wenn sie gegen eine solche Willkürherrschaft der Polizei zu Felde ziehen könnten. Jugendliche, die wiederholt beim Zerkratzen der Scheibe in den Straßenbahnen oder beim Aufschlitzen der Polster erwischt werden, erhalten Fahrverbot und dürfen zur Schule laufen. Ihr Bild hängt dann bei jedem Straßenbahnfahrer, damit er sie nicht übersieht. Ich projiziere dieses Bild nach Deutschland: hyperventilierende Aufregung von wichtigen und weniger wichtigen Organisationen oder selbsternannten Beschützern, die flügelschlagend durch die Gegend rennen und beklagen, dass eine herzlose Gesellschaft arme Kinder bei niedrigen Temperaturen laufen lässt, für die Grippe verantwortlich ist und natürlich für die dadurch verursachte schlechte Note in der Klassenarbeit. In Rotterdam sieht man das gelassener.
Beim Besuch in einem Polizeirevier konnten wir eine Art Beziehungsspinne über eine ganze Zimmerwand bewundern. Fotos von allen bekannten Kunden des Reviers hingen an der Wand und waren mit Linien verbunden, die ihre Sozialkontakte darstellten. Dieses Hilfsmittel ermöglicht es jedem Streifenpolizisten in dem Ortsteil, sich einen schnellen Überblick zu verschaffen, wer mit wem für gewöhnlich zusammen ist und etwas anstellt. Nun wird diese Einrichtung sicher nicht die
Kriminalistik revolutionieren, aber nach Aussage der Polizeibehörde hat sie sich bewährt.
Eine andere Seite der Polizei lernen die Jugendlichen in dem Projekt »Watch out!« kennen. Junge Leute zwischen 16 und 22 Jahren patrouillieren in Uniformen unter Anleitung der Polizei im Wohngebiet und schreiben Berichte über das, was sie gehört, gesehen und erlebt haben. Sie erhalten dafür den üblichen Mindestlohn, und die Tätigkeit wird als Praktikum für die Ausbildung bei einem privaten Sicherheitsdienst anerkannt. Eine absolut simple Maßnahme, die für bestimmte junge Männer Charme hat. Ich könnte mir das für Neukölln durchaus vorstellen. Das würde aber ein Umdenken bei unserer Polizei erfordern.
Die Staatsanwaltschaft ist dezentralisiert. Sie residiert in angemieteten Wohnungen oder Geschäftsräumen. Die Fenster sind unverhangen, jeder kann die Mitarbeiter bei der Arbeit beobachten, sie grüßen oder unangenehmerweise von ihnen gegrüßt werden. Der Klientel wird auf diese Weise deutlich sichtbar die Botschaft vermittelt: »Die Strafe folgt auf dem Fuße.« Das hat eine erhebliche psychologische Auswirkung. Darüber hinaus arbeitet die Staatsanwaltschaft mit allen übrigen Diensten zusammen und entscheidet sofort vor Ort, ob ein förmliches Verfahren eingeleitet wird oder ob sie es bei Arbeitsstunden, Bußgeld oder ähnlichem bewenden lässt.
Das Besondere und aus meiner Sicht die optimale Vernetzung und Loslösung von der Versäulung behördlichen Handelns ist der TIP (Transfer Informatie Punt), eine Form der Zusammenarbeit von Behörden, wie ich sie aus Deutschland überhaupt nicht kenne. In einem auch von den übrigen Behördenstandorten abgetrennten Gebäude arbeiten Mitarbeiter der Polizei, des Jugendamtes, der Schule, der Kindertagesstätten, der Gesundheitsbehörden, des Arbeitsamtes und auch der Energieunternehmen zusammen. Hier werden alle Informationen zusammengetragen, die den einzelnen Behörden oder Institutionen über Risikopersonen oder Risikofamilien vorliegen. Dieser Pool von Informationen soll zu einem sehr frühzeitigen Erkennen von Problemlagen führen. Wenn ein Kind wiederholt beim Schwarzfahren erwischt wird, kann das darauf hindeuten, dass bei der Erziehung nicht alles rundläuft. Wenn eine Familie über drei Monate ihre Stromrechnung oder ihre Miete nicht bezahlt hat, kann das auf ein entstehendes Problem hinweisen. Diese Dinge werden in einer gemeinsamen Datei erfasst, und die Behörden beraten, wer von ihnen jetzt wie tätig wird, und zwar aktuell innerhalb von 24 Stunden. Regelmäßig wird in Fallrunden über Problemlagen von Einzeltätern und delinquenten Jugendgruppen gesprochen und eine Strategie vereinbart. Das klare Ziel ist, die Anonymität zu beseitigen und dies die Betroffenen auch merken zu lassen. Es soll ein sozialer Druck aufgebaut werden.
In dem TIP für ein Einzugsgebiet von etwa 25 000 Einwohnern, den wir besuchten, waren ungefähr 400 Familien datenmäßig erfasst. Alle angeschlossenen Organisationen hatten jederzeit Zugriff auf die Daten und den momentanen Sachstand. Nach einer gewissen Zeit der Unauffälligkeit werden die Daten gelöscht.
Diese Vernetzung bedeutet einen ungehinderten Datenfluss zwischen allen Beteiligten. Da die Niederlande keine Bananenrepublik sind und natürlich auch den Begriff des Datenschutzes kennen, gibt es zum Umgang mit dem Datenschutz einen öffentlichen Vertrag, der einsehbar ist und von jedermann kontrolliert werden kann. Sie finden einen solchen Vertrag ins Deutsche übersetzt im Anhang dieses Buches. Dieser TIP hinterließ bei mir einen starken Eindruck. Er vermittelte mir das Gefühl, dass die Stadt mithilfe dieses Instrumentes weiß, was im Gebiet los ist und wer ein Problem darstellt, auf dem Weg ist, ein Problem zu werden, und wo die Ansatzpunkte für Hilfestrategien sind. Ich kann mir gut vorstellen, dass professionelle Datenschützer bei uns beim Lesen dieser Zeilen dem Herzkasper sehr nahe sind. Man muss aber wissen, dass der Datenschutz, so wie er bei uns praktiziert wird, die erfolgreichste Täterschutzeinrichtung ist.
Als Schmankerl am Rande kann ich die kleine Geschichte beitragen, dass sich in einer Neuköllner Schule eines Tages vier zwangsversetzte Intensivtäter zusammenfanden, weil keine Institution der anderen sagen durfte – und der Schule natürlich erst recht nicht –, was sie mit ihrem »kleinen Liebling« zu machen gedachte. Wenn eine Kinderärztin dem Gesundheitsamt mitteilt, dass
eine dort betreute Familie die vereinbarten Kontrolluntersuchungen nicht wahrnimmt, obwohl der Verdacht auf Misshandlung besteht, handelt sie sich in Berlin ein Verfahren ein. Völlig irre.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #20 on: November 04, 2012, 09:12:19 am »
Eines möchte ich nicht unerwähnt lassen: Derjenige, der seinen Unterhalt nicht alleine bestreiten kann, hat in Rotterdam keine freie Wahl des Wohnortes mehr. Die Freizügigkeit wird mit einem Gesetz zum Schutz der öffentlichen Ordnung eingeschränkt. Dies gibt der Verwaltung die Möglichkeit, zum Beispiel Störerfamilien auszuquartieren oder den Zuzug erst gar nicht zuzulassen. Damit ist eine gewisse Steuerung der Sozialstruktur möglich. Unabhängig davon, dass ich dieses Instrument in der Mengenanwendung nicht überschätzen würde, halte ich eine Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse für sehr gewagt bis nicht erstrebenswert. Das ist dann doch auch mir zu viel Staat.
Beschäftigt man sich mit dem niederländischen Schulsystem, stoßen einem als erstes die Bezeichnungen »schwarze« und »weiße« Schulen auf. Die sogenannten schwarzen Schulen werden überwiegend von Einwandererkindern (allochthone Bevölkerung) besucht und die weißen Schulen in erster Linie von klassischen Niederländern (autochthone Bevölkerung). Die unterschiedlichen Förder- und Finanzierungssysteme des niederländischen Schulwesens lasse ich außen vor. Beeindruckend fand ich die Aussage: »Wir sprechen alle Sprachen, die unsere Kinder auch sprechen.« 40 % des Kollegiums der Schule, in der wir waren, sind selbst Einwanderer oder Nachkommen von Einwanderern. Es gibt einen Elterncoach, der durch das Jugendamt eingesetzt wird und mit erheblichen Vollmachten ausgestattet ist, Eltern Auflagen zu erteilen. Halten die Eltern sich nicht daran, dann werden die Sozialleistungen gekürzt. Außerdem werden die Zeugnisse in den Grundschulen nur direkt an die Eltern ausgehändigt. Da sich das Schuljahr in Trimester aufteilt, haben Lehrkräfte und Eltern mindestens dreimal jährlich Kontakt. Auf meine skeptische Nachfrage, wie viele Eltern denn tatsächlich kommen, das Zeugnis abzuholen, antwortete man mir: »Na, alle.« Als ich mit noch ungläubigerer Miene fragte, ob denn das wirklich zutreffe und was denn passiere, wenn Eltern nicht kämen, um das Zeugnis abzuholen, war die Antwort schon leicht beleidigt: »Ja, natürlich stimmt das, denn solange das Zeugnis in der Schule liegt, solange erhalten die Eltern keine Sozialunterstützung.« Auf eine weitere Nachfrage, wie oft man dieses System denn schon angewendet habe, hieß es: »Zu Beginn einige Male, dann aber gar nicht mehr.« Nachdem die Eltern gemerkt hatten, dass es diese Sanktion gibt und sie tatsächlich praktiziert wird, war das Problem gelöst. Also, manchmal reicht es schon vollkommen, wenn man in der Zielgruppe um die Sanktionen weiß, um zu verhindern, dass man davon Gebrauch machen muss.
Bei uns ist es aber inzwischen so, dass einem die gesellschaftliche Ächtung gewiss ist, wenn man nur mit dem Gedanken an eine Sanktion spielt. Staatliche Repressionen zur Stimulanz von regelkonformen Verhaltensweisen sind bei uns uncool, weil alle Menschen doch gut sind und alle Bürger verantwortungsbewusst.
Zurück zur Schule in Rotterdam. Es gibt dort obligatorische Elternzentren, an denen von 8.00 bis 16.00 Uhr Lehrer oder Sozialarbeiter für die Eltern zur Verfügung stehen. Ein Sportverein betreut die Schüler in der Schule und im benachbarten Kindergarten. Grundschule und Kindertagesstätten arbeiten sehr eng zusammen.
Im Bereich der Ausbildung und Arbeit stoßen wir wieder auf das gleiche Prinzip. Es gibt ein dichtes Netz von Angeboten und Hilfestellungen, immer gekoppelt mit der Erwartung an den Hilfeempfänger, dass er mitmacht und seine Kompetenzen aktiv einbringt. »Machst du nicht mit, dann kannst du von uns auch keine Hilfe mehr erwarten«, lautet die Ansage. Das bedeutet, Schnitt bei den Sozialleistungen. Ansonsten war es schon erstaunlich, welche Anstrengungen die Stadt unternimmt, um schwierige Jugendliche an ein geregeltes Arbeitsleben heranzuführen. Es wurde für diese jungen Leute extra das Berufsbild eines Logistikassistenten im Hafenbereich geschaffen mit einem Nettolohn von 1700 Euro. In Rotterdam wurden zwei Mittelklasserestaurants gegründet, in denen junge Leute in Service und Küche ausgebildet werden. Die professionellen Betriebe rekrutieren dann dort ihren Nachwuchs. Beide Restaurants haben wir ausprobiert. Ich war
beeindruckt.
Im Rahmen von Intercultural Cities haben wir dann die Stadt Tilburg, ebenfalls in den Niederlanden, besucht. Hier trafen wir im Wesentlichen auf die gleichen Interventionsstrukturen. Nur der Repressionsteil war erheblich ausgedünnter als in Rotterdam. Als ich den Bürgermeister nach diesem Unterschied fragte, hatte er eine sympathische Antwort: »Wir sind eine sozialdemokratische Stadt, so etwas wie in Rotterdam geht bei uns gar nicht.« Aber was in Tilburg ging, war auch nicht schlecht. Seit 2002 gibt es ein »Safety House«, dem 2008 das »Care House« an die Seite gestellt wurde. Das Safety House wurde von der Stadt Tilburg, der Polizei und der Staatsanwaltschaft gegründet. Dort arbeiten Mitarbeiter des Amtes für häusliche Gewalt, der Betreuungsstelle für jugendliche Straftäter, der Opferbetreuungsstelle, der Familienhilfe und der Bezirksstaatsanwaltschaft, die dort eine Außenstelle betreibt, fest zusammen. Hinzu kommen je nach Einzelfall weitere 20 Kooperationspartner vom Kinderschutz bis zur Polizei.
Das Care House konzentriert sich auf die Betreuung von Erwachsenen und Familien im sozialen Bereich. Es geht um die staatliche Fürsorge für problembelastete Familien genauso wie um den Umgang mit jugendlichen Straftätern und Aktionen zur vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung. Die Zielgruppen für beide Häuser sind identisch. Jugendliche, Intensivtäter, häusliche Gewalt, Multiproblemfamilien, aber witzigerweise auch Steuerhinterzieher. Das gemeinsame Motto lautet: »Eine Familie – ein Plan«.
Natürlich ist die vernetzte Arbeitsweise hier ebenfalls nur möglich, wenn es einen unmittelbaren Datenfluss zwischen allen Beteiligten gibt. Da der Fokus in Tilburg stärker als in Rotterdam auf der Kriminalität liegt, steht am Anfang meist ein Polizeibericht. Dann wird jeder Einzelfall mit allen beteiligten Institutionen besprochen und gemeinsam der Aktionsplan festgelegt. Je nach »Bekanntheitsgrad« der Person kann am Beginn das Gespräch mit dem Sozialarbeiter oder auch die Vorladung noch für den gleichen Tag zum Staatsanwalt stehen. Ungewöhnlich ist sicher die sogenannte Morgenrunde, in der die Polizeiberichte der vergangenen Nacht ausgewertet und besprochen werden. Es kann durchaus sein, dass jemand bereits am Mittag nach seinem nächtlichen Auftritt den Konsequenzen im Safety House ins Auge blickt.
Die Ergebnisse der Arbeit können sich sehen lassen. Die Rückfallquote hat sich halbiert, und die Zahl der jugendlichen Angeklagten hat sich massiv verringert. Tilburg ist keine Schlafstadt. Es wird dort durchschnittlich jeden Tag ein Intensivtäter festgenommen, von dem man je nach Jahr zwischen 300 und 400 Exemplare im Angebot hat. Weit über 1000 Fälle von häuslicher Gewalt werden pro Jahr registriert.
Beide Städte vermittelten den Eindruck, dass man in den Niederlanden sehr bemüht ist, ein an den Sicherheitsbedürfnissen der Bürger orientiertes öffentliches Leben zu gestalten. Nach den Erfahrungen zwischen 2000 und 2005 konzentriert man sich darauf, Unruhen vorzubeugen, ohne Vielfalt und Offenheit aufzugeben. Die unaufgeregte Akzeptanz von staatlicher Repression mag einige bei uns mit Abscheu erfüllen. Doch der Schnellschluss trügt. Der Schwerpunkt der niederländischen Integrationspolitik liegt ohne Zweifel auf der Prävention. Es gibt eine starke Hinwendung zu den Einwanderern. Allerdings wird auch stets erwartet, dass jeder seinen Teil zum Gelingen des Unternehmens beiträgt. Der Repressionskatalog gilt lediglich für Unbelehrbare und Verweigerer. Wie erwähnt, ist seine pädagogische Wirkung deshalb so beachtlich, weil kein Zweifel daran besteht, dass die Sanktionen im Ernstfall auch angewendet werden.
Insbesondere die Erfolge der Rechtspopulisten haben die etablierte Politik in den Niederlanden aufgerüttelt. Das Sicherheitsbedürfnis der niederländischen Bevölkerung wie auch der integrierten Einwandererbevölkerung ist inzwischen so ausgeprägt, dass bestimmte Auswüchse und Verwahrlosungen als Folge einer zu liberalen Stadtpolitik, wie sie in Rotterdam vor zehn Jahren offensichtlich gang und gäbe waren, nicht mehr hingenommen werden. »Wir haben die Konsequenzen aus unserem Pim Fortuyn gezogen«, so lautete die Botschaft für uns. Man merkt, dass die Bevölkerung aufgrund der von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen geprägten
Geschichte der Niederlande stark durchmischt ist. Hierzu herrschen ein spürbarer Grundkonsens und eine entspannte Selbstverständlichkeit. Für mich war überraschend, mit welcher Natürlichkeit und Gelassenheit auch Einwanderer oder Nachkommen von Einwanderern über soziale und kulturelle Probleme mit oder von Einwanderern diskutierten. Sie beteiligen sich aktiv an der Entwicklung von Lösungsstrategien und Politikansätzen, um unerwünschter Situationen Herr zu werden. Eine Diskussionsverweigerung wie bei uns, unter der Überschrift »Über so etwas spricht man nicht«, habe ich bei keiner meiner Begegnungen erlebt. Im Gegenteil, eine so große Transparenz und Offenheit, die eigenen Probleme auch Besuchern zu präsentieren, hatte ich vorher und habe ich hinterher nur ganz selten kennengelernt.
Der Schlusspunkt in Rotterdam war der Besuch einer Moschee von Millî Görüş. Wir hatten dort eine sehr angeregte und engagierte Diskussion mit dem Imam im Beisein der Geschäftsführerin oder Sekretärin der Gemeinde. Sie trug, was für Mitglieder von Millî Görüş ausgesprochen selten ist, kein Kopftuch. Der Imam stellte das auch mehrfach als Beweis für die Liberalität dieses Moscheevereins heraus. Es überraschte uns, welch enger, scheinbar fast herzlicher Kontakt zwischen der Rotterdamer Verwaltung und diesem Verein herrschte. Als wir auf die zwiespältige Beurteilung von Millî Görüş in Deutschland hinwiesen und die unterschiedlichen Sichtweisen ansprachen, lautete die Begründung: Sie holen am Nachmittag die Jugendlichen von der Straße, sie spielen mit ihnen Fußball oder sie machen mit ihnen Hausaufgaben – wieso sollen wir etwas dagegen haben? Wir haben uns im laufenden Betrieb dort umgesehen und fanden alles vor wie angekündigt. Während also Millî Görüş als türkischer Ableger der arabischen Muslimbruderschaft in Deutschland aus meiner Sicht zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet wird, pflegt die gleiche Organisation in den Niederlanden ein durchaus geachtetes und entspanntes Verhältnis zu den dortigen Behörden. Auf meine Frage, woher der Imam seine Predigten für das Freitagsgebet erhält, antwortete er mir mit nachsichtigem Lächeln: »Natürlich aus Köln, dort ist doch die Zentrale unserer Organisation.« (Er meinte wohl Kerpen bei Köln.)
London war unsere nächste Station. Die Rolle des Türöffners hatte die Britische Botschaft in Berlin übernommen. Der damalige britische Botschafter, Sir Michael Arthur, war hochgradig an der Integrationspolitik Deutschlands interessiert. So kam es, dass eine kleine Delegation aus Berlin-Neukölln, bestehend aus einer Schulleiterin, einer Kindertagesstättenleiterin, dem Migrationsbeauftragten und mir, bereits in der Botschaft offiziell zum Dinner eingeladen war, bevor der Botschafter überhaupt beim Regierenden Bürgermeister offiziell empfangen worden war. Das war schon ein netter Gag. Sir Michael Arthur hat sich dann während seiner Amtszeit in Berlin immer wieder in Neukölln aufgehalten und war bald eine bekannte und geschätzte Persönlichkeit im Bezirk. Es kann also nicht überraschen, dass die Reise nach London unter seinem besonderen Schutz stand.
Das merkten wir vor Ort auch schnell an der Hochrangigkeit unserer Gesprächspartner in der britischen Hauptstadt. Aber so erlesen sie waren, so unterschiedlich waren sie dann auch. Unser Briefing begann bei dem für Einwanderung und Integration zuständigen Department for Communities and Local Government. Hier wurden Probleme natürlich kleingeschrieben. Mit einer Studie wies man uns stolz nach, dass 82 % aller Briten gut miteinander auskommen. Bei näherer Betrachtung stellte sich allerdings heraus, dass jeweils die weißen und die schwarzen Communities unter sich selbst abgestimmt hatten. Die Befragung bestätigte somit eigentlich nur die seit Jahren vollzogene Trennung in schwarze und weiße Wohngebiete. Mein Eindruck war, dass in London eine ethnische Durchmischung der Stadtteile nicht mehr angestrebt wird. Der Zug scheint abgefahren. Die städtebauliche Strategie lautet inzwischen, das Nebeneinanderleben so zu gestalten, dass es nicht zu einer Radikalisierung kommt und das Ausbrechen von Rassismus verhindert wird. In London gibt es ein ausgesprochenes Problem mit der Jugendkriminalität. Alljährlich fasst die Londoner Polizei etwa 30 Kinder, die ein Tötungsdelikt begangen haben.
Nach dem rosaroten Tupfer des Departments wurden wir dann doch recht schnell auch mit
anderen Einschätzungen konfrontiert. Die Vertreter der Verwaltung eines Londoner Bezirkes diskutierten mit uns völlig ungeniert und nicht unter dem Mantel der Vertraulichkeit über die in ihrem Gebiet vorhandenen No-go-Areas und Straßengangs. Insbesondere das Sicherheitsgefühl und das Vertrauen in die staatlichen Institutionen leiden unter den Verhältnissen. Auf unsere Fragen nach den Konsequenzen trafen wir alte Bekannte aus Rotterdam wieder: Netzwerke bilden, klare Ansagen machen und Ausstiegshilfen anbieten.
Auch bei einem Meeting zur Sicherheitslage in einem Polizeirevier oder mit dem gesamten Führungsstab der Metropolitan Police machten die Sicherheitskräfte keinen Hehl daraus, dass sie in bestimmten Stadtgebieten erhebliche Probleme haben, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten. Hierbei fielen immer wieder die Namen Tottenham und Brixton, wo die karibische und schwarz-afrikanische Bevölkerung lebt, Tower Hamlets, wo Einwanderer aus Bangladesch und dem Sudan die größten Migrantengruppen bilden, und Whitechapel als Domäne des Hindukusch.
Zwei Programme sind mir nachhaltig in Erinnerung geblieben. Zum einen das Safer-Neighbourhoods-Programm der Metropolitan Police in London. Ihm liegt die Überlegung zugrunde, dass viele Menschen der Polizei aus Angst vor Rache nicht alle Informationen geben, die sie haben. Eigentlich möchten sie ihr Wissen schon loswerden, aber eben im Hintergrund bleiben. Die Nachbarschaftspolizei bietet eine solche Möglichkeit. Sie ist es, die im Kiez ständig unterwegs ist, das Gespräch pflegt, hinhört, was geredet wird, und nachfragt. Die so gewonnenen Informationen gibt sie dann an den regulären Polizeiapparat weiter. Der eigentliche Informant bleibt somit im Hintergrund. Die Safer-Neighbourhoods-Teams sind fest angestellt und auch an einer Uniform erkennbar. Allerdings verfügen sie nur über eingeschränkte Befugnisse. Sie greifen bei leichteren Straftaten ein und stellen Bußgeldbescheide aus, zum Beispiel für Fahren auf Gehwegen oder nicht beseitigten Hundekot. Ihr Tätigkeitsfeld ist mit dem unserer Ordnungsämter vergleichbar.
Zum anderen sind die Volunteer Police Cadets ein sehr beachtliches Projekt. Das sind polizeibekannte ehrenamtlich tätige junge Leute zwischen 14 und 21 Jahren, die sozusagen als »Nachwuchspolizisten« verpflichtet werden. Im Jahre 2008 gab es rund 1200 solcher Polizeischüler. Auch sie erhalten eine Uniform. Ziel dieser Maßnahme ist es, Jugendliche, die aufgefallen sind, zu begleiten und ihnen »den Weg aufzuzeigen, wie sie anständige Bürger werden können«. Als Einschub sei erwähnt, dass Jugendstrafverfahren in London im Schnitt 72 Tage dauern. Diese Police Cadets werden im Übrigen auch eingesetzt, um die Nachbarschaftsteams zu verstärken und dort für andere Jugendliche sichtbar zu sein. Die Police-Cadets-Teams waren zur Zeit unseres Besuchs noch im Aufbau. Wenn das Programm planmäßig fortgeführt wurde, müsste es heute mehrere Tausend Jugendliche geben, die in London als Police Cadets eingesetzt werden. Das ist schon recht ehrgeizig.
In England bilden die öffentlichen Schulen bei weitem nicht die gesamte Bandbreite der Bürgerschaft ab. Insbesondere das weiße Bürgertum schickt, sofern es das Schulgeld aufbringen kann, seine Kinder vorwiegend auf Privatschulen. Die öffentlichen Schulen haben somit eine Überlast an Schülern aus prekären Familienverhältnissen zu verkraften. Es gibt an den Schulen ein sogenanntes Board of Governance. Das ist ein Gremium, das aus Schulleitung, Eltern und anderen Unterstützern besteht, die ehrenamtlich die Schulverwaltung beraten und ihr zur Seite stehen. Wenn Eltern die Zusammenarbeit mit der Schule und den Lehrern verweigern, dann erhalten sie zu Hause Besuch, und es drohen Sanktionen bis hin zu Bußgeld und Inhaftierung. Selbst staatliche Schulen bieten in London Geschlechtertrennung an. Diese Möglichkeit wird von Muslimen sehr gerne wahrgenommen.
Jeder staatlichen Schule ist ein Polizeibeamter, der Safer Schools Officer, zugeordnet. Er besucht die Schule regelmäßig und hat Einblick in alle Schuldaten. Schulschwänzer werden vom ihm zu Hause aufgesucht, und die Schulleitung wendet sich mit ihren Problemen direkt an ihn. Der Datenaustausch zwischen der Schule, der Polizei und dem Jugendamt ist gesetzlich geregelt. Dies dient insbesondere dem Umgang mit problematischen Schülern. Alle sechs Wochen treffen sich
Vertreter der beteiligten Organisationen, beraten die Einzelfälle und vereinbaren Strategien im Umgang mit den Familien. Das heißt also, in die Einzelfallarbeit des Jugendamtes sind sowohl die Schule als auch die Polizei direkt involviert. Das ist eine Form von Zusammenarbeit, die es bei uns so nicht gibt. Realität bei uns ist vielmehr, dass durch den Datenschutz die Informationen so gegeneinander abgeschottet werden, dass niemand mehr weiß, was der andere macht. Ich erinnere nur an die vier Intensivtäter an einer Schule.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #21 on: November 04, 2012, 09:13:11 am »
Insgesamt machten wir auch in London die Feststellung, dass Schulen erheblich freier über ihre Ressourcen verfügen können, als es bei uns üblich ist. Sie sind viel unabhängiger in ihren Personalentscheidungen, können sich von ungeeigneten Lehrern (rein theoretischer Fall, ist in der Praxis wohl ausgeschlossen) trennen und sich direkt von der Hochschule junge und agile Lehrer holen, die Lust haben, sich in einem sozialen Brennpunkt auszuprobieren. Wir waren zu Gast in einer Schule in einem besonders schwierigen Gebiet. Die Schüler und die Jugendkriminalität bereiteten den Lehrkräften einiges Kopfzerbrechen. Doch durch diese Selbständigkeit gelang es dem Rektor, die Schule völlig neu aufzustellen. Er konnte damit die bereits beschlossene Schließung abwehren und seine Schule auf einen erfolgreichen Kurs zurückführen. Die Geschichte ähnelt sehr den Erfahrungen mit der Neuköllner Albert-Schweitzer-Schule, dazu später.
Bei unseren Exkursionen zu den sozialen Brennpunkten Londons hatten wir einige markante Erlebnisse. So besuchten wir etwa ein Nachbarschaftsheim für die chinesische und pakistanische Einwohnerschaft der Gegend. Die Vielfalt der Menschen dort war beeindruckend. Allerdings waren sie strikt ethnisch getrennt. Zusammen machte man nicht viel bis gar nichts. In der Diskussion wurde eine Chinesin gefragt, wie sie sich denn fühle, als Britin oder als Chinesin? Sie antwortete: »Halb, halb.« Auf die weitere Frage, was denn der britische Teil in ihrem Empfinden sei, antwortete sie: »England kümmert sich so gut um mich.« Sie sehen, auch hier reduziert sich die Integration auf die Wohlstandsversorgung.
Ansonsten war in London die weite soziale Schere und die extreme Diskrepanz der Lebenswelten – hier die im Sonnenlicht an der Themse joggenden Broker, die nach der Mittagspause erst einmal eine heiße Dusche in ihrem Büro nehmen, dort etwa der Wochenmarkt in Whitechapel, der eher nach Kabul gepasst hätte – unübersehbar. Das abschließende Treffen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutschen Botschaft mit Geschichten aus ihrem privaten Alltag rundete für uns das Bild des Londoner Lebens ab.
Ich will an dieser Stelle einige Zeilen einer unvergessenen Freundin, der Jugendrichterin Kirsten Heisig, widmen. Sie war bekennender Fußballfan, und es war die Zeit der Fußball-Europameisterschaft. An einem Abend spielte die deutsche Mannschaft. Ein Pub mit Fernseher musste her. Nach längerem Suchen fanden wir auch einen, und dann geschah Wundersames. Die zierliche Kirsten Heisig stellte sich mitten in den Pub und erklärte den Bier trinkenden Londonern, dass wir eine überaus nette und wichtige Reisegruppe aus Deutschland seien und jetzt hier das Spiel der deutschen Nationalmannschaft verfolgen müssten. Sie bat die übrigen Gäste, die Plätze vor dem Fernseher freizumachen und das Gerät auf einen deutschsprachigen Kanal umzustellen. So geschah es dann auch. Ohne Widerspruch, ohne Protest. So war diese Frau, ein Energiebündel pur.
Die beiden Exkursionen nach Rotterdam und nach London waren inhaltlich die ergiebigsten und für meine integrationspolitischen Gedanken die inspirierendsten. Dies spiegelte sich auch in der Presseberichterstattung wider. Als ich mich öffentlich zu der Frage äußerte, ob nicht unsere Polizei in Berlin über den Aspekt der Gefahrenabwehr und der Kriminalitätsbekämpfung hinaus ebenfalls einen stärkeren Fokus auf Nachbarschaftskontakte und Stimmungsaufnahme auf informellen Berührungsebenen legen könnte, um so auch zum Teil des Wohlfühlfaktors zu werden, kannte die Empörung des damaligen Polizeipräsidenten keine Grenzen. Er erklärte in öffentlichen Interviews, dass die Berliner Polizei keine Belehrungen brauche und dass das ein alter Hut und längst geübte Praxis in Berlin sei. Er oder sein Umfeld ließ unter den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten streuen, dass der Neuköllner Bürgermeister sich verächtlich über die Polizeiarbeit geäußert habe.
Das war damals recht kleinkariert und unprofessionell. Insbesondere auch deshalb, weil er sich stillschweigend nach Rotterdam begeben haben soll, um meine Reise nachzuzeichnen und meine Gesprächspartner zu seinen zu machen. Aber das sind sicher alles üble Gerüchte. Er ist nicht mehr im Amt, ich schon, und damit hat das Leben ja entschieden.
Unabhängig von solchen Menscheleien bin ich nach wie vor der Auffassung, dass gerade in Brennpunktlagen der enge Zusammenschluss zwischen Polizei, Verwaltung und Bürgerschaft unabdingbar ist. Die Polizei benötigt hier für ihre extrem schwierige Arbeit in den gesellschaftlichen Niederungen und im Wettbewerb mit der organisierten Kriminalität jede nur mögliche Information und jede auch indirekte Unterstützung. Ich denke, auf der Baustelle kann man noch arbeiten. Bevor sich aber wieder einige Mimöschen auf den Schlips getreten fühlen, will ich das an dieser Stelle nicht vertiefen. Zumal das, was ich in Rotterdam und in London gesehen habe, in Deutschland aufgrund unserer Geschichte schnell mit Begriffen wie Blockwart oder Abschnittsbevollmächtigter oder Denunziation belegt werden würde.
Es erregte sich natürlich nicht nur der Polizeipräsident. Nein, auch die damalige SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus war nicht sehr glücklich mit den Presseberichten über meine Ausflüge und die Vorschläge, das eine oder andere vielleicht einmal zu diskutieren. Eigentlich ist »nicht sehr glücklich« falsch formuliert. Sie fanden es richtig blöd. Nun, das war für mich nichts Neues. Ich hatte bis dahin schon öfter Gelegenheit, das kritisch solidarische Verhalten von einigen Teilen der Funktionärskaste meiner Partei in Berlin auf dem Konto Lebenserfahrung zu verbuchen. So richtig Schwung kam aber dann in die Angelegenheit, als in der Fraktion der Antrag gestellt wurde, mich zu einem Input einzuladen. Dieser Antrag wurde mit der Begründung »Wir sind eine politische Fraktion, wir benötigen keine Reiseberichte von Bezirkspolitikern« mit Abscheu zurückgewiesen. Diese unpolitische Haltung machte in der Berliner politischen Landschaft und insbesondere in den Medien sofort die Runde. Andere Parteien schlachteten den Vorgang natürlich mit Wonne aus.
Die SPD-Fraktion des Abgeordnetenhauses hatte sich einen Bärendienst erwiesen. Sie stand mit dem Rücken zur Wand und versuchte sich in Schadensbegrenzung. Ich bin ihr heute noch für diese Aktion Wasserschlag dankbar. Meine Anerkennung durch die Berliner Bevölkerung, die mir den Rücken stärkte, machte infolge dieses allgemein als unfair empfundenen Vorgangs einen Riesensprung nach vorne. Ich konnte mich in der Stadt kaum noch bewegen, ohne dass mir jemand seine Solidarität bekundete und gleichzeitig seine Distanz zur SPD im Abgeordnetenhaus zum Ausdruck brachte. Der Höhepunkt war, dass ich eingeladen wurde, um vor dem Innenausschuss des Parlaments von meinen Erfahrungen zu berichten, und der Tagesordnungspunkt in der Sitzung mit der Mehrheit der SPD und der Linken wieder abgesetzt wurde. Damit war ich wieder ausgeladen. Das gute Dutzend anwesender Journalisten war dankbar für dieses Thema. Es lieferte Stoff für ihre Berichterstattung der nächsten Tage.
Ich persönlich habe damals diesen Dilettantismus in der politischen Arbeit nicht nur wegen des Imageschadens für die Partei bedauert, sondern auch, weil durchaus überlegenswerte Praktiken so noch nicht einmal einer Diskussion zugeführt werden konnten. Bis heute sind Zeugnisausgabe nur an die Eltern, formale Beziehungen Jugendlicher zur Polizei, Safer-Neighbourhoods-Teams, Ortsteilvernetzung, regionalisierte Staatsanwaltschaft und Ähnliches keine Überlegung wert. Wie so oft in Berlin war und ist man sich selbst genug, ohne zu merken, dass auch andere Völker hübsche Töchter haben.
»Here is Glasgow. We are scottish, not british.« Mit dieser Ansage warteten einige Überraschungen auf uns.
Verschiedene der nachfolgend beschriebenen Verhaltensweisen sind nur aus der jüngeren Geschichte der Stadt zu verstehen. Die traditionelle Industriestadt unterlag einem dramatischen Bevölkerungsrückgang seit den 1940er Jahren. Mit den Umstrukturierungen der Wirtschaft ging ein gleich gelagerter Prozess in der Bewohnerschaft einher. Die Zahl der Einwohner sank von über einer
Million auf aktuell knapp 600 000.
Die Arbeitslosenquote lag mit 6,5 % zum Zeitpunkt unseres Besuches durchaus im Rahmen, ist aber jetzt auf 11,8 % angestiegen. 13 % der Stadtbevölkerung sind ethnische Minderheiten. Etwa 1400 Migranten kommen jährlich nach Glasgow. Glasgow hat sich mit einer Vereinbarung aus dem Jahr 2000 verpflichtet, zunächst fünf Jahre lang Wohnungen für Asylsuchende zur Verfügung zu stellen – 2000 für Familien und 500 für Alleinstehende. Der Vertrag wurde noch verlängert, aber dann aufgrund etlicher Betrugsfälle seitens der Vermieter Ende 2010 gekündigt. Diese Maßnahme diente dem Stopp des Bevölkerungsrückgangs. Durch die Zuwanderung und die Asylbewerber ist eine starke Verjüngung der Glasgower Bürgerschaft eingetreten. Die Hoffnung ist nun, dass sich dies auch positiv auf die Geburtenrate auswirkt.
In rund 220 Schulen mit 66 000 Schülerinnen und Schülern ist ein gutes Drittel der Jugendlichen auf eine Schuluniformbeihilfe und kostenlose Schulspeisung angewiesen. Kriminalität ist in Glasgow ein besonders gravierendes Problem. Die Mordrate ist doppelt so hoch wie in London, und die Gefahr, als Jugendlicher ermordet zu werden, ist in Schottland siebenmal größer als in vergleichbaren Gebieten Frankreichs. Ein Stadtgebiet wurde uns als besonders problematisch geschildert. Dort gab es etwa 55 Gangs. Die jüngsten ihrer rund 800 Mitglieder waren acht Jahre alt. Es ist davon auszugehen, dass sie jeweils mit mindestens einem Messer bewaffnet sind. Ach, du mein glückliches, friedliches Neukölln.
Hochengagiert arbeitet die Stadt dem Einwohnerschwund mit der Anwerbung von Migranten entgegen. Die Frage, die man sich hier stellt, lautet weniger, was bringt wer mit, sondern eher, wo bekommen wir jemanden her. Das führt zwangsläufig dazu, dass die Erwartungen und die qualitativen Anforderungen herabgeschraubt werden. Trotz des eher geringen Anteils von zugezogenen Einwanderern an der Gesamtbevölkerung sollte man die Heterogenität der Bevölkerung nicht unterschätzen. In der Mittelschule, die wir besuchten, sprach man zum Beispiel 47 Sprachen. Auf unserem Programm stand der Besuch einer Grundschule, einer Mittelschule, einer Moschee, einer Seniorentagesstätte für Einwanderer sowie ein Gespräch mit einem Jugendrichter und dem Oberbürgermeister. Doch der Reihe nach.
Schon in der Grundschule begegnen wir bei den Problemen alten Bekannten. Die Kinder kommen teilweise mit sehr schlechten Sprachkenntnissen in die Schule. Als Antwort hat die Schule, an der insgesamt 20 Lehrkräfte unterrichten, immerhin vier Lehrer eingestellt, die Urdu, die Hauptsprache der Pakistani, beherrschen. Ein pragmatischer Politikansatz. Könnte Berlin sich abschauen.
Als eine ausgesprochene Besonderheit wurde uns das Verhalten der Roma beschrieben, wobei immer deutlich zwischen alteingesessenen und neu zugezogenen Roma differenziert wurde. Roma-Kinder kommen für gewöhnlich ohne jegliche englische Sprachkenntnisse zur Schule. Die Sprachausbildung für Einwanderer scheint in dieser Volksgruppe nicht zu funktionieren. Der Schulbesuch ist unauffällig und regelmäßig. Allerdings nur bis zum Übergang in die Mittelschule. Bei diesem Wechsel geht ein beachtlicher Teil der Kinder verloren, weil die Eltern nicht mehr bereit sind, die Kinder in die Schule zu schicken. Sie haben im Alter ab zehn Jahren offensichtlich im Familienverband andere Aufgaben zu erfüllen. So, wie wir es verstanden haben, stehen die Roma-Familien am Rande, wenn nicht außerhalb der schottischen Gesellschaft. Sie verstehen viele Regeln und Abläufe der schottischen Gesellschaft nicht. Das beginnt schon beim Schulwesen.
Verblüfft hat uns ein völlig entspannter Umgang mit dem Islam. Ich weiß gar nicht, ob man es überhaupt einen Umgang, also sprich, eine gewollte bestimmte Art des Miteinanderlebens nennen kann, so selbstverständlich erschien uns das Miteinander. Man muss hierzu jedoch wissen, dass es eine lange Erfahrung bis tief in das vorige Jahrhundert hinein mit den Traditionen und Lebensweisen der Muslime in Glasgow gibt. Bei unseren Gesprächen in der Moschee und in der Seniorentagesstätte trafen wir auf Muslime, die eine Werteordnung offenbarten, die man durchaus als konfliktfrei mit der europäischen bezeichnen kann. Zugegeben, die Menschen, die wir trafen und
mit denen wir sprachen, waren Angehörige der bürgerlichen Mittelschicht. Geschäftsleute, Verwaltungsangestellte oder Sozialarbeiter. Wenn wir nach Problemen fragten, wurden uns sehr zurückhaltend Episoden geschildert, die sich eher auf Vorgänge innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft bezogen. So zum Beispiel den Konflikt der Alten mit den Jungen über die Frage, wie kampfbereit die Muslime sein müssen oder ob sie sich nicht stärker auf ihre Wurzeln besinnen und ein strengeres muslimisches Leben führen sollten. Daran haben die Alten aber überhaupt kein Interesse. Sie haben sich mit der Gesellschaft arrangiert und sind deren geachteter integraler Bestandteil – »we are scottish« eben. In keiner Stadt, die wir bereisten, habe ich den Ruf des Muezzins entfernter gewähnt als in Glasgow, obwohl er hier praktisch am nächsten war.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass in den Räumen der Schulen jeden Tag von 17:00 bis 19:00 Uhr Koranunterricht in arabischer Sprache stattfindet. Es kümmert auch niemanden, ob es Lehrkräfte gibt, die verstehen können, was dort gesprochen und gelehrt wird. Zur Ramadanzeit kommt der Imam in die Schule und hält dort das Freitagsgebet. Auf meine Frage, ob sie die Predigt verstehe und ob es sie interessiere, was gepredigt werde, antwortete mir die Schuldirektorin entwaffnend zweimal mit Nein. Grenzen gibt es dann aber doch. Bei einer früheren Forderung nach geschlechtergetrennten Unterricht war die Stadtverwaltung unnachgiebig. Das Thema verschwand von der Bildfläche und wurde nie wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Das muslimische Leben in Glasgow erschien uns recht einheitlich. Unterschiedliche Strömungen des Islam leben sich – anders als bei uns – nicht aus. Der Alltag sieht insbesondere für niedrigqualifizierte Menschen so aus, dass die Mütter ihrer traditionellen Rolle im Haus nachgehen und die Väter mit mehreren Jobs den Lebensunterhalt sicherstellen. Ausgesprochen bemerkenswert fanden wir, dass es üblich ist, die Sommerferien im Heimatland mitunter über Monate auszudehnen. Die Schulbehörde schreitet nicht ein, denn es herrscht die »Überzeugung«, dass die Kinder im Heimatland zur Schule gehen und somit dort die Schulpflicht erfüllen. Schule ist Schule, egal wo, und damit ist dem Gesetz Genüge getan. Für uns Preußen war diese Haltung dann doch etwas zu leger. Ich könnte mir aber vorstellen, dass dieser Umgang mit den Ferien auch bei mir in Neukölln recht schnell Anhänger finden würde. Die Ansätze dazu sind vorhanden.
An der von uns besuchten Mittelschule waren etwa 30 % der Schüler Muslime, und von den 100 Lehrkräften hatten zehn einen Migrationshintergrund. Insgesamt kommen in Glasgow die Einwanderer hauptsächlich aus den Ländern Pakistan, Slowenien, Tschechien, Polen, Kongo und Sri Lanka.
Die schottischen Kinder besuchen tendenziell eher die zwölf Privatschulen, die es neben den staatlichen gibt. Alle Schulen gelten als sicher. Der Gebrauch und das Mitführen von Waffen sind unüblich. Es gibt eine klare Trennung. Außerhalb des Schulgeländes gehören Waffen durchaus zur Grundausstattung junger Männer. Offensichtlich gibt es aber auch Schulen, in denen die Sicherheitslage doch nicht so klar einzuschätzen ist. Sie haben eine eigene Polizeistation auf dem Grundstück, den sogenannten Campus Police Officer, der über ein Büro im Gebäude verfügt. Diese direkte Präsenz der Polizei in der Schule wird je zur Hälfte durch Schulverwaltung und Polizei finanziert. Es ist uns trotz noch so häufigen und geschickten Fragens nicht gelungen herauszufinden, nach welchen Kriterien eine Schule eine Polizeistation auf dem Gelände erhält. Die Schule, die wir besucht haben, hatte keine. Aus den Formulierungen der Direktorin war aber unschwer herauszuhören, dass sie mit diesem Umstand haderte. Und dass sie wohl auch gern eine solche Polizeistation gehabt hätte. Vielleicht hat man uns ja doch nicht alles aus dem Alltag aufs Butterbrot geschmiert.
In Schottland beginnt die Strafmündigkeit bei acht Jahren. Zur Erinnerung: In England sind 10-Jährige strafmündig. Die Staatsanwaltschaft wird aber nur in sehr drastischen Fällen selbst tätig. Insofern ist das niedrige Strafmündigkeitsalter eher ein Papiertiger. Bisher gibt es kein eigenes Jugendstrafrecht. Wenn Jugendliche als kriminalitätsbelastet auffallen, so tritt ein Children’s Hearing zusammen, bestehend aus ehrenamtlich tätigen Bürgern, die dann über die zu treffenden
Maßnahmen beraten und entscheiden. Klagt die Staatsanwaltschaft ein Kind an, so entscheidet der Amtsrichter, ob er den Fall an das Children’s Hearing verweist oder ob sich das neu eingerichtete Jugendgericht damit befassen soll. Die Jugendgerichtsbarkeit, die wegen des ständigen Anwachsens der Jugenddelinquenz eingeführt wurde, befindet sich in Schottland noch in einer Testphase. Wenn der Angeklagte geständig ist, soll die Verfahrensdauer zehn Tage nicht übersteigen. Plädiert er auf nicht schuldig, gilt eine 40-tägige Frist. Zum Zeitpunkt unseres Besuches war noch nicht entschieden, ob die Jugendgerichtsbarkeit in ganz Schottland eingeführt werden soll oder nicht.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #22 on: November 04, 2012, 09:14:44 am »
Auch in Glasgow sind Arbeitslosigkeit, Alkoholkonsum und Verwahrlosung die wichtigsten Ursachen für Jugenddelinquenz. Im Übrigen geht man von der Prämisse aus, dass das Lebensalter zwischen 14 und 24 Jahren das der Kriminalitätsepisoden ist. Danach wird geheiratet, das Nest gebaut, und aus allen werden liebe Familienväter. »We are scottish« eben.
Wir stießen auf ein Novum mit dem Namen Glasgow Community Safety Services. Es handelt sich um einen Sicherheitsdienst, in dem 500 (!) Mitarbeiter aus unterschiedlichsten Organisationen arbeiten. Ihr Auftrag ist es, asoziales Verhalten zu stoppen. Glasgow soll eine sichere und saubere Stadt werden. Hierzu sind in der Stadt sage und schreibe 420 Kameras montiert, die an jeder Ecke den öffentlichen Raum überwachen. Kamerawagen patrouillieren unentwegt durch die Straßen und zeichnen alles auf. Es ist schon ausgesprochen gewöhnungsbedürftig, im Restaurant zu sitzen, an seinem Steak zu säbeln und plötzlich einen Zuschauer zu haben. Auf einen langen Galgen gesteckt, blinzelte von außen eine Kugel durch das Fenster. Das war so ein Kamerawagen, der vorbeifuhr, anhielt und durch die Fenster des Pubs nachschaute, was sich drinnen wohl abspielt. Ich verspürte nicht den Drang, das System nach Neukölln zu entführen.
Diese Institution ist nicht nur für die Videoüberwachung der ganzen Stadt zuständig, sondern sammelt auch Daten über auffällige Bürger, aus denen dann Profile und Konzepte entwickelt werden. Teams, bestehend aus Polizisten, Sozialarbeitern, Lehrern und ehrenamtlichen Helfern, treffen die Entscheidung, wie im Einzelfall weiter zu verfahren ist. Erfasst sind etwa 2500 Jugendliche in 200 Straßengangs. Wie in den Niederlanden finden Hausbegehungen statt, und es gibt einen ständigen Datenaustausch zwischen den einzelnen Behörden. Auch vom Einzelfall losgelöste Hausbegehungen sind keine Seltenheit. Auffällige Bürger, aber speziell Jugendliche werden vorgeladen, um ihnen zu demonstrieren, dass sie nicht mehr anonym agieren, sondern enttarnt sind. Die Organisationseinheit besitzt aber keine Sanktionsmöglichkeiten. Es geht lediglich darum, Daten zu sammeln und mit psychischem Druck auf Einzelpersonen einzuwirken. Diese Vorgehensweise erschien mir den Gefährdungsansprachen unserer Polizei sehr ähnlich.
Beeindruckend war der Umgang mit einem sozialen Brennpunkt. Die Bevölkerungsstruktur dort hat sich so entwickelt, dass von 12 000 Einwohnern etwa 5000 vor kurzem zugezogene Roma sind. Die Situation in dem Stadtteil ist ausgesprochen schwierig. Trotzdem ist Graffiti im Straßenbild nicht sichtbar, da es sofort beseitigt wird. Es liegt kein Müll herum, selbst die Innenhöfe werden regelmäßig gereinigt. Die Nachbarschaft wird motivierend in die Pflicht genommen, sich ehrenamtlich zu engagieren. Für den flüchtigen Betrachter waren die geschilderten Verwerfungen nicht erkennbar. Die Aktivierung der Bürgerschaft gelingt offenbar in hohem Maße. Dieses Projekt erinnerte mich stark an unser Quartiersmanagement aus dem Programm »Soziale Stadt«.
Eher unterhaltend war unser Kennenlernen der Diversity Unit der örtlichen Polizei. Sie versucht sich in der aktiven Bekämpfung der 200 Gangs. Uns wurde ein Videofilm vorgeführt, in dem wir sahen, wie sich Hunderte von Menschen eine Straßenschlacht vom Feinsten lieferten. Kein Kinofilm kann das besser zeigen. Es ging da richtig zur Sache. Unsere Fassungslosigkeit ob der Bilder amüsierte die Polizeibeamten. Sie erklärten uns, dass sich bereits die Väter und Großväter der jungen Leute in der gleichen Straße in den denselben Gangs geprügelt hätten. Das entspreche eher einem gewissen Entwicklungsstand junger Männer. Zu diesem gehörten in Glasgow eben die traditionellen Straßenprügeleien. Na ja, was dem einen sein Fußballstadion, ist dem anderen seine Straßenschlacht.
Auf die Grundzüge des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen bin ich bereits am Anfang des Berichts über Glasgow eingegangen. Die Details des Alltags haben wir dann in der imposanten zentralen Moschee und in einer Seniorenfreizeitstätte diskutiert. Die Hauptmoschee verfügt über einen Gebetsraum für 2000 Menschen. Der Eingangsbereich wird permanent von Kameras überwacht, die Bänder werden unbegrenzt aufbewahrt und der Polizei auf Anforderung zur Verfügung gestellt. Die Moschee versteht sich als kooperativer Partner der Stadtregierung und als Zentrum der organisierten muslimischen Bürgerschaft mit einem starken Fokus auf der Sozialarbeit für die Muslime. In einzelnen Stadtteilen, in denen der Anteil der Muslime an der Bevölkerung bei bis zu 40 % liegt, gibt es die gleichen Reibungsverluste wie in Neukölln. Hier versteht sich allerdings die Moschee sehr viel stärker als bei uns als eine Institution des Ausgleichs und der Mediation. Die Rolle als Opferanwalt konnte ich hier so gut wie gar nicht beobachten.
Die Moschee machte auf mich den Eindruck eines großen Nachbarschaftsheimes. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, und es wurden Sozialdienstleistungen wie Essensausgabe, Beratungen, Seniorengruppen nachgefragt. Natürlich gab es die gleichen Probleme wie in Neukölln beispielsweise in Erziehungsfragen: Teilnahme am Biologieunterricht, Schwimmen, schon in der Grundschule Kopftuch tragende Mädchen oder fastende Kinder unter zehn Jahren. Die Stadtverwaltung kümmert sich nicht zentral darum. Sie überlässt es der Moschee, eine Linie auszugeben, oder eben auch jedem Einzelnen, seine zu finden.
Der Besuch einer Seniorenfreizeitstätte für Muslime und die Diskussion mit den Alten verlief ebenfalls völlig unaufgeregt. Das einzige, was ich schmunzelnd hiervon berichten kann, ist der Umstand, dass in der Freizeitstätte ein großes Plakat hing. Thematisch ging es um Rassismus und Judenfeindlichkeit. Auf die Frage, ob es ein Problem damit im Stadtviertel gebe, lautete die Antwort: »Nein, aber für dieses Programm gibt es gerade Geld von der EU.«
Unser Eindruck war, dass die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen in Glasgow nicht zu den Schwerpunkten der Stadtverwaltung gehört. Der lockere Umgang mag auf den ersten Blick liberal und kulturverbindend sein, er gibt jedoch das Grundprinzip einer gemeinsamen Gesellschaft auf. Vielleicht steckt hierin auch eine der Ursachen, dass man sich nur noch mit totaler Überwachung der Stadt und Polizeistationen auf den Schulgeländen der Probleme infolge des Auseinanderdriftens der Bevölkerung zu erwehren weiß. Ich halte es für falsch, die Beliebigkeit zum tragenden Element des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden zu lassen.
Glasgow steckt mitten im Prozess der Umstrukturierung seiner Bevölkerung. Vor zehn Jahren betrug der Anteil der Einwandererkinder in den Schulen 7 %. Im Jahr 2009 waren es bereits 16 %. Man rechnet mit einem kurzfristigen Anwachsen auf 20 %. Ich glaube, dass diese Erwartungen in kürzerer Zeit übertroffen werden. Schon heute beobachtet die Stadtverwaltung, dass sich ganze Stadtquartiere verändern und der Anteil der ursprünglichen schottischen Bevölkerung dort dramatisch abnimmt. Man betrachtet dies jedoch nicht als Katastrophe. Allerdings wird die Zunahme von Verwahrlosung, **** und Kriminalität mit Sorge registriert.
Eine überraschend andere Perspektive vermittelte uns am letzten Tag der Bürgermeister beim Abschlussgespräch. Ich hoffe, die Schotten haben uns die Verblüffung nicht zu deutlich angesehen. Der Tenor seiner Ausführungen lautete: »Es gibt einen Graben zwischen den Moslems und uns.« Er verwies auf die Entwicklungen in England, auf Städte wie London und Birmingham und die aus seiner Sicht dort entstandenen schwierigen Verhältnisse bzw. großen sozialen wie kulturellen Verwerfungen. In diesem Teil des Gesprächs galt das Vergleichsverbot mit englischen Städten ausnahmsweise einmal nicht. Mein Eindruck war, dass der Bürgermeister schon sehr deutlich die Zukunft und die reale Entwicklung der Stadt vor Augen hatte. Allerdings fehlten ihm eventuell die Rezepte, um das Rad anzuhalten. Ansätze einer planmäßigen, gesteuerten Integrationspolitik haben wir vermisst. Das System Glasgow setzt auf die traditionelle Kompetenz der Muslime in der Stadt. Aufgrund der Vielfalt der Zuwanderung scheint diese Säule allein aber nicht mehr auszureichen und ins Wanken zu geraten. Ob das zutrifft, wird die Zukunft zeigen. Ein
direkter Vergleich mit Neukölln ist schwierig. Es gibt in Glasgow fast keine Zuwanderung aus den orientalischen Ländern. Das kann eine Erklärung für zum Teil doch sehr erstaunliche Anpassungsprozesse der Einwanderer sein.
Bestimmte Fragen zu Details des Bildungssystems oder zum Sozialwesen konnten wir so oft stellen, wie wir wollten. Wir sind einer Antwort nie näher gekommen. Nur in einem Moment riss der Vorhang etwas auf. Bei der Darstellung, wie engagiert versucht wird, Neuankömmlingen die englische Sprache mit Zwangssprachkursen beizubringen, fragten wir, was passiert, wenn jemand nicht zum Kurs erscheint. »Dann gibt es keinen social transfer«, war die Antwort. Interessant ist hierbei, dass die Teilnehmer des Sprachkurses, den man uns präsentierte, gerade erst 14 Tage in Schottland waren. Nicht immer ließen uns die Schotten überall hinschauen. Das war etwas schade. Gleichwohl habe ich die Schotten als ein ausgesprochen liebenswertes Völkchen kennengelernt.
Das Projekt Intercultural Cities führte uns auch in die norwegische Hauptstadt Oslo. Bei Tagungen waren wir immer recht schnell ins Gespräch gekommen, weil die Norweger sich deutlich von dem Prinzip »Wir haben uns doch alle lieb« distanzierten. So konnte es nicht überraschen, dass wir in den Norden eingeladen wurden.
Insgesamt machten die Norweger auf uns einen Eindruck starker Verunsicherung. In das Land und im besonderen Maße in die Stadt Oslo sind in den vergangenen Jahren Lebensrealitäten und Kulturdifferenzen getragen worden, die die Norweger so bisher nicht kannten. Auch bei dieser Reise entstand schnell ein geflügeltes Wort: »Wir sind doch nur Fischer«.
Norwegen: eine unglaubliche Natur, die beeindruckende Welt der Fjorde, menschenleere Weiten und die Heimat der Trolle. Nachdem man Erdöl gefunden hat, ist ein »bisschen« Reichtum auch dabei. Ganz so einfach ist die Welt am Polarkreis aber nicht mehr. Zumindest nicht in Oslo. Allerdings bekamen wir auf die Nachfrage, ob die Landespolitik Verständnis und Unterstützung für die Osloer Sorgen entwickelt, nur ein mildes Lächeln zur Antwort. Der Großteil der norwegischen Bevölkerung kann sich Dinge gar nicht vorstellen, die in Oslo heute zum Alltag gehören. Irgendwie kam mir das bekannt vor. Diese Distanz zu Problemen und zu den Fehlentwicklungen in unseren Städten. Die Insel Mainau ist halt ein netteres Gesprächsthema als die Bildungsferne in Bremerhaven.
Oslo selbst hat 613 000 Einwohner, davon sind 27 % Einwanderer. Der durchschnittliche Anteil von Einwandererkindern in den Schulen Oslos beträgt 35 % bis 40 %. Allerdings erreicht in einzelnen Wohngebieten, wo 40 % bis 60 % der Bevölkerung Einwanderer sind, der Anteil der Einwandererkinder bis zu 90 %. Gemessen an Neukölln keine ungewöhnliche Situation.
Es gibt inzwischen Jugendkriminalität, es gibt Alkohol- und Drogenabhängigkeit, und es gibt massive soziale Verwerfungen. Aufsuchende Sozialarbeit sowie Kinder- und Jugendschutzteams sind heute so selbstverständlich wie bei uns. Das alles sind Themen, die das Land früher nicht kannte. Es gab bisher keine geschlossene Unterbringung für Kinder und Jugendliche. Selbst bei schwersten Straftaten nicht. Kinder und Jugendliche sperrt man nicht ein, dadurch werden sie nicht besser, lautete das Credo. Ist ja auch etwas dran.
Nachdem sich in Oslo wohl Jugendgangs einige Schießereien auf offener Straße geliefert hatten und eine offene Drogenszene entstanden war, war ein Umdenken alternativlos. Mittlerweile gibt es eine Art Jugendstrafanstalt, in der zur Zeit unseres Besuchs sechs unter 18-Jährige inhaftiert waren, und ein sogenanntes Spezialhaus mit vier bis sechs Plätzen wurde gerade errichtet. Der Begriff Jugendgefängnis war in den Gesprächen aber verpönt. Ein eigenes Jugendstrafrecht gibt es nicht. Um jugendliche Mehrfachtäter kümmern sich Kinder- und Jugendschutzteams des Jugendamtes. Dabei reicht der Status des Jugendlichen (mit dem auch das Recht auf einen Ausbildungsplatz verbunden ist) bis zum 23. Lebensjahr.
Um auf die ungewohnten Herausforderungen reagieren zu können, wurde das SaLTo-Programm entwickelt. SaLTo heißt: »Zusammen schaffen wir ein sicheres Oslo.« Mit dieser Strategie verpflichten sich verschiedene Verwaltungsdienste zur Kooperation auf struktureller und
operativer Ebene. Das Programm wurde ursprünglich 1980 in Dänemark entwickelt, ist inzwischen von Schweden und Norwegen übernommen worden und dient im Wesentlichen der Kriminalitätsprävention. Der Schwerpunkt liegt auf der Vernetzung und dem Zusammenwirken unterschiedlicher Institutionen. Natürlich ist ein Datenfluss zwischen den Beteiligten eingeschlossen, ohne den eine wirkliche Zusammenarbeit nicht möglich wäre. Hauptrichtung allen Handelns ist die Überwindung der Versäulung. Also Schluss mit dem Denken in Ämterzuständigkeit und der Haltung: »Wir machen nur Unseres, was andere machen, interessiert uns nicht.« Und kein eifersüchtiges »Wir lassen uns nicht in den Topf schauen!«.
Die Philosophie der Norweger lautet: Bei Kindern und Jugendlichen ist alles nur ein großer Irrtum. Wenn sie straffällig werden, muss es dafür einen Grund geben, den man beseitigen kann. Wenn Kinder in der Schule nicht lernen und nicht mitkommen, dann können sie nichts dafür, sondern diejenigen, die sie behindern. Darum erhält jeder eine zweite und dritte Chance. Deswegen bekommt jeder einen Schulabschluss, denn es könnte sein, dass später doch noch der Knoten platzt.
Das größte Kopfzerbrechen bereiten den Osloer Behörden Menschen aus Somalia. Sie haben sich als die am schwersten zu integrierende Ethnie erwiesen. Man kennt mittlerweile den Begriff des Intensivtäters, und angesichts des sauberen Images, das Oslo nun einmal hat, ist es beachtlich, dass es dort 117 davon gibt. Traditionelle Sozialisationsinstanzen wie der Sport, insbesondere Eishockey, entfalten in Stadtvierteln, die inzwischen überwiegend von Einwanderern bewohnt werden, kaum noch Kraft. So wurde in einem Viertel eine große Eissporthalle komplett umgebaut, weil sie niemand mehr benutzte. Heute ist sie ein Begegnungszentrum mit Theater und Café.
Die aufsuchende Sozialarbeit muss sich überproportional den Einwandererkindern widmen. Die Gespräche zu diesem Teilaspekt waren etwas schwierig. Wenn wir zusammensaßen, waren fast immer alle staatlichen Dienste am Tisch. Natürlich auch die Polizei. Das war aber ein Problem. Aufsuchende Sozialarbeiter sehen ihre Hauptaufgabe darin, das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen zu gewinnen. Daher sind sie nicht bereit, ihr Wissen an Schulleitungen oder die Polizei weiterzugeben. Und wenn diese nun einmal dabei waren, behinderte das die Sprechbereitschaft. Mich erinnerte das an die Haltung von Sozialarbeitern vor etwa 25 bis 30 Jahren bei uns. Zu jener Zeit war es nahezu selbstmörderisch für einen Sozialarbeiter, überhaupt mit einem Polizeibeamten im Gespräch gesehen zu werden. Ich denke, an dieser Stelle werden sich die Norweger noch weiterentwickeln. So wie es auch bei uns geschehen ist.
Keinen Spaß versteht man beim Thema Schulschwänzen. »Schuldistanzierte Jugendliche«, wie es bei uns verklärend heißt, sind Angelegenheit der Polizei. Es wurde nicht im Einzelnen ausgeführt, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass es da um Briefeschreiben geht. Allerdings wird das Kind nicht unter Gewaltanwendung in die Schule gebracht. Das macht ja dort genauso wenig Sinn wie bei uns. Prinzipiell gibt es eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen den Schulen und der Polizei. Jede Schule hat ihren festen Polizeibeamten, der sich um alle Dinge zu kümmern hat, die die Schule an ihn heranträgt.
Ein ausgesprochen hartes Erlebnis war der Rundgang um den Hauptbahnhof. Das Gebiet ist ein Drogenschwerpunkt sowie ein Treff für alle Protagonisten der Subkultur. Nach Angaben der Norweger bewegen sich dort täglich 400 bis 500 Dealer, die den Bedarf von etwa 5000 Süchtigen decken. Obwohl der Platz videoüberwacht und der Besitz bereits kleinster Mengen Drogen strafbar ist, ließen sich die deutlich erkennbaren Dealer nicht in ihrem Tun stören. Dass unsere Gruppe von zwei uniformierten Polizeibeamten begleitet wurde, änderte daran gar nichts. Überwachungsdruck oder Angst vor Ordnungsmaßnahmen konnten wir dort nicht feststellen.
Der Stadtteil Furuset, der mit 15 000 Einwohnern und einem Migrantenanteil von 42 % als sozialer Brennpunkt gilt, war unsere nächste Station. Es ist jener Stadtteil, in dem es die erwähnten spektakulären Zusammenstöße zwischen Jugendbanden mit Schießereien gegeben hat. Hier wurde uns in der Praxis das Funktionieren des SaLTo-Arbeitsprogramms durch Polizeibeamte, Kinder- und Jugendschutz, ambulante Familienhilfe, Straßensozialarbeiter und ähnliche Dienste nahegebracht.
Ich will Details überspringen und nur noch eine Programmfacette wiedergeben, die ich als bemerkenswert empfunden habe. Man berichtete uns, dass in jedem Hauseingang der Siedlung ein Bewohner als »Leiter« fungiert. Für seine Tätigkeit wurde er speziell ausgebildet. Diese Leiter wenden sich wiederum an die Bewohner und versuchen, sie für Seminare »Wie wollen wir zusammenleben?« zu gewinnen. Wenn es sie nicht gäbe, so sagte man uns, müsse die Polizei in jedem Aufgang ständig präsent sein. Allein in der von uns besuchten Siedlung gab es inzwischen 34 Hausleiter. Dies scheint mir ein deutliches Indiz dafür zu sein, dass auch in den Einwanderersiedlungen von Oslo das Konfliktpotential groß ist.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #23 on: November 04, 2012, 09:15:38 am »
Es gibt in Oslo zehn Moscheen. Anders als bei uns erhält im Sinne der Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften jede muslimische Gemeinde Steuergelder zur Finanzierung ihrer Arbeit. Als »Dank« für die staatliche Fürsorge kooperieren die Moscheen mit der Stadtverwaltung so gut wie gar nicht. In Schulen sind keine Gebetsräume vorzufinden. Es gibt einen gemeinsamen Religionsunterricht für alle Schüler. Priester und Imame dürfen keinen Religionsunterricht geben. Eltern können beantragen, dass ihre Kinder an religiösen Aktivitäten nicht teilnehmen müssen.
Wie immer gab es zum Schluss das obligatorische Gespräch mit dem Bürgermeister. Seine Ansicht war, dass Oslo dort steht, wo Neukölln vor 15 Jahren war. In Berlin sind die deutlich sichtbaren Warnungen damals nicht ernst genommen worden. Zustimmend konnten wir nur den Rat geben, klüger zu sein, als wir es waren. Wir gaben den ergänzenden Tipp, von Anfang an die Ordnungsdienste in die Integrationspolitik zu involvieren und dem Entstehen von Anonymität schaffenden Parallelgesellschaften konzentriert entgegenzuwirken.
Der Bürgermeister bemängelte das zu langsame Vorangehen bei der Einbindung von Migranten in das ehrenamtliche Engagement der Bürger. Er bestätigte, dass auch in Oslo junge Migrantinnen gegenüber männlichen deutlich angepasstere Entwicklungsphasen zeigen und ihre Kompetenzen schneller und konsequenter nutzen. Die norwegische Sprache ist das gleiche Problem für die Einwanderer wie in anderen Ländern die englische, die niederländische und die deutsche. Auch in Oslo versucht man durch Hausbesuche, die Familien zu erreichen und sie zu bewegen, die Sprache zu erlernen. Das erinnerte mich recht stark an unsere Stadtteilmütter. In Norwegen heiraten die Menschen mit Migrationshintergrund ebenfalls vorzugsweise unter sich in der eigenen Ethnie.
Mein Gesamteindruck war, dass sich das politische Oslo in einer Phase der erkennenden Sensibilisierung befindet. Die Stadt ist dabei, sich den Realitäten einer Einwanderungsgesellschaft zu stellen. Die deutlichen Werteverschiebungen im Vergleich zur norwegischen Lebensart konzentrieren sich bisher nur auf die Stadt Oslo. Wenn die Norweger die Probleme Oslos als Probleme Norwegens annehmen, dann können sie den bereits vorhandenen Integrationsproblemen einen anderen Verlauf geben, als wir es bei uns getan haben.
Der Name Neapel fällt immer, wenn die Medien über Flüchtlinge berichten, die das Mittelmeer Richtung Europa überquert haben. Aus diesem Grund hatten wir es als unser Ziel auserkoren.
Über die Grundzüge und Facetten der neapolitanischen Integrationspolitik ist schnell berichtet. Es gibt nämlich keine. Gleichwohl war die Stadt mit knapp einer Million registrierter Einwohner und einer Dunkelziffer an Illegalen, der selbst in der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, auch für uns ein markantes Erlebnis.
In Neapel herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit. Insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit sprengt mit 50 % fast jede Vorstellung. So richtig scheint das Problem aber die staatlichen italienischen Stellen nicht zu erreichen. Es gibt keine Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit. Was vorhanden ist, sind kirchliche Initiativen, die versuchen, sich der jungen Leute anzunehmen und dafür ehrenamtliche Helfer zu gewinnen. So besuchten wir ein ehrenamtliches Jugendorchester, eine Ausbildungsstätte für Metallhandwerker und eine für Fremdenführer. Aber das ist eigentlich noch weniger als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Je länger man sich in Neapel aufhält, desto mehr steigt die Verwunderung. Man sieht
niemanden in Sack und Asche verbiestert durch die Straßen ziehen. Das ist eher bei uns in Deutschland der Fall. In Neapel sind die Menschen lebensbejahend fröhlich, sie haben ihr Auto oder ihren Motorroller und kommen scheinbar gut über die Runden. Ein Pater erklärte uns, dass die Solidarität untereinander, insbesondere in den Familien, sehr hoch ist. Hinzu kommt ein legerer Umgang mit der Kriminalität. Sie ist ein akzeptierter Zustand. In diesem Zusammenhang fiel bereits sehr bald nach unserer Ankunft zum ersten Mal das Wort Camorra. Es wurde zur geflügelten Erklärung für eigentlich alles. Die Camorra ist für viele Neapolitaner die einzig verlässliche Größe.
Die organisierte Kriminalität als verlässliche gesellschaftliche Größe? Nun, wer nicht mehr zur Schule gehen will, kann bei der Camorra eine Berufskarriere beginnen. Man fängt als Parkplatzeinweiser an einem bestimmten Ort in der Stadt an, der dann das eigene Betriebsgelände ist. Später ist der Aufstieg zum Drogendealer oder zum Drogenmanager einer bestimmten Region durchaus möglich. Das verspricht ein lukratives Einkommen. Die Kinder und Jugendlichen werden von den enormen Geldbeträgen geblendet, von denen sie in diesem Milieu umgeben sind. 200 Euro Verdienst pro Tag selbst für niedrigste Handlangertätigkeiten beeindrucken schon, und dann erst die 30 000 Euro im Monat, wenn man es zur Persönlichkeit im Drogenhandel gebracht hat.
Die Camorra ist keine Familie, wie wir sie aus amerikanischen Kriminalfilmen kennen. Es sind miteinander konkurrierende Gruppen, die in einzelnen Stadtteilen wirken. Ein starker Machtfaktor ist sie aber allemal. Die offiziellen Stellen Neapels bezeichnen die Camorra auch als »Gegenstaat«. Ein Begriff, den ich vor meinem Besuch niemals gehört hatte.
Zur Schulausbildung der Kinder gehört die Wahrheit, dass über 30 % die Schule vorzeitig ohne Abschluss verlassen. Uns gegenüber machten die italienischen Gesprächspartner den sehr wechselhaften Umgang mit der Schulpflicht und dem Analphabetismus im 19. Jahrhundert dafür verantwortlich. Das Laisser-faire der damaligen Zeit wirke bis heute nach. Es gibt in Neapel keine staatlich finanzierte Jugendarbeit. Die einzelnen Sozialprojekte der Kirche oder von Wohlfahrtsorganisationen lässt die Camorra in Ruhe. Offensichtlich sind sie zu kleinmaschig und zu unbedeutsam, als dass es lohnen würde, sich damit abzugeben.
Es gab bisher keine direkte Einwanderung nach Neapel. Dies mag seine Begründung in zwei Faktoren haben. Zum einen gibt es in Italien kein Sozialsystem, wie wir es kennen. Es lohnt sich also nicht zu bleiben. Als einzige Form des Sozialtransfers erhalten Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen eine kleine Familienbeihilfe, die bei einem Kind knapp 170 Euro im Monat beträgt und bei zwei Kindern 320 Euro. Alleinerziehende erhalten eine Zulage auf die Familienleistung. Im fünf Monate dauernden Mutterschutz erhalten Frauen 80 % des letzten Arbeitseinkommens. Der zweite Aspekt ist der, dass es, wie erwähnt, ein sehr eng geknüpftes Netz der organisierten Kriminalität gibt. Diese sorgt nachdrücklich dafür, dass Konkurrenten schnell die Lust verlieren, sich niederzulassen. Beide Dinge waren bisher sicherlich Ursachen dafür, dass Neapel nur als eine Art Transitstation in den Schengenraum betrachtet wurde. In jüngerer Zeit stellt man in Neapel jedoch fest, dass immer mehr Migranten bleiben. Nach den uns gegebenen Daten hat sich dieser Anteil von Einwanderern von 20 % auf 60 % gesteigert. Insbesondere der starke Zuzug von Roma-Familien bereitet den Neapolitanern Sorge. Der Migrantenanteil liegt heute in Neapel bei 2 %. Gemessen an unseren Verhältnissen ist das kaum der Rede wert. Derzeit wird versucht, die Migrantenkinder mit Schulbussen in der Stadt zu verteilen, um eine Konzentration an einzelnen Orten zu verhindern. Es gibt ein Projekt »Recht auf Schule und Zukunft«. Roma-Eltern erhalten eine finanzielle Zuwendung, wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken. Finanzier ist das Innenministerium.
Aufgrund dieser Historie der Einwanderung erschien uns logisch, dass Italien erst jetzt anfängt zu begreifen, was Migranten bedeuten, die nicht nur durchreisen, sondern bleiben. Plötzlich entsteht die Frage, wie man erreicht, dass sich die Einwanderer an die herrschende Lebensweise anpassen. Bei diesem Prozess stehen die Italiener aber noch ganz am Anfang. Für alle sozialen Probleme wird üblicherweise der Gegenstaat verantwortlich gemacht. Dass Migration eine Herausforderung ist, die soziologische Konsequenzen hat, scheint noch nicht durchgängig ins
Bewusstsein gedrungen zu sein. Die Stadtverwaltung von Neapel sieht sich keineswegs in der Verantwortung, diese Probleme zu lösen. Der Islam war bei unseren Gesprächen kein Thema. Hier scheinen Gegenstaat und originärer Staat eine Einheit zu bilden, wie auch der starke Katholizismus keinen Raum für die Ausbreitung einer anderen Religion lässt.
Neapel war für uns aus der engen Sicht der Integrationspolitik nicht besonders ergiebig. Allerdings haben wir recht plastisch vor Augen geführt bekommen, wie sich eine Stadtverwaltung auch mit Gegebenheiten einrichten kann, die aus unserer Sicht einen dringenden Handlungsbedarf auslösen müssten. Aber eben nicht in Italien. Die lebensbejahende Einstellung der Italiener relativiert jedes Chaos. Das Leben ist zu schön und zu kurz, um sich mit irgendetwas Schlechtem zu belasten. Gemessen an Wirtschaftsdaten und Arbeitslosigkeit, müsste es jedem Neapolitaner ziemlich dreckig gehen. Das Stadtbild spricht eine andere Sprache.
Ich möchte meinen Bericht über unsere Erfahrungen im Ausland mit einer Anekdote schließen, die sich bei der Oberbürgermeisterin von Neapel zugetragen hat. Das Gespräch fand, wie es sich gehört, in einem großen, prächtigen Festsaal statt. Bei der Bezeichnung der Epoche habe ich Wissenslücken. Irgendwann im Gespräch bewegten wir Themen der großen Linie wie Sozialsysteme, Verantwortung des Staates, Auffangnetz der Gesellschaft, Schutz des Einzelnen vor existenzieller Bedrohung, Würde des Menschen und Solidarität mit den Schwachen. Als ich das deutsche Sozialsystem nur sehr oberflächlich referierte, kam Bewegung in den hinteren Teil des Saales. Dort stand der Chef der Saaldiener. Nachdem der offizielle Teil der Veranstaltung beendet war, kam er auf dem Flur zu uns. Er fragte ernsthaft, ob wir ihn nicht nach Deutschland mitnehmen könnten. Die Unterstützungsbeträge des deutschen Sozialsystems würden sein Gehalt bei der Oberbürgermeisterin mehr als deutlich übersteigen.
Wir rieten ihm, die Vorzüge und die Schönheit Neapels zu genießen.
Kein Besuch verlief wie der andere. Die Vielfalt der Mentalitäten, der Lebensstile und der Politikphilosophien spiegelt sich im Umgang mit der Einwanderung wider. Trotzdem gibt es einen roten Faden, den wir immer wieder entdecken konnten:
Wo es starke Migration gibt, gibt es auch kulturelle Reibungsverluste, soziale Verwerfungen und Bildungsprobleme. Das heißt, Einwanderung geht nicht schmerzlos.
Probleme mit kulturellen Unterschieden, Bildungs- und Zivilisationsrückständen sowie erhöhte Kriminalitätsraten sind nicht an bestimmte Ethnien oder eine bestimmte Herkunft gebunden. Das heißt, nicht der Geburtsort vom Großvater ist entscheidend, sondern der Wille und die Fähigkeit, sich an die herrschenden Lebensregeln anzupassen.
Der Islam nimmt bei der Integration keine fördernde Rolle ein. Er stärkt eher das Verharren in tradierten Verhaltensmustern. Extreme Frömmigkeit kann zur hohen Hürde auf dem Weg in die moderne und liberale Gesellschaft werden.
Das A und O aller Integrationsbemühungen sind ihre Konsequenz und eine für alle verständliche Nachvollziehbarkeit. Beliebigkeit und gesellschaftliche Ignoranz sind die Totengräber der Integration. Kulturelle Rabatte bedienen die Bequemlichkeit, anstatt die Akzeptanz der Normen herauszufordern.
Staatliche Stellen können nur erfolgreich wirken, wenn sie vernetzt arbeiten und ihre Tätigkeit aufeinander abstimmen (völlige Aufgabe der Versäulung). Planloser Aktionismus und alles verstehendes Pampern frönen nur dem Grundsatz: Viel hilft viel. Beiden fehlen der strategische Ansatz und die Nachhaltigkeit. Nur mit konzeptionellem Vorgehen behalten die staatlichen Stellen den Überblick und das Heft des Handelns in der Hand.
Gesellschaftliche Bemühungen und staatliche Angebote müssen bei Nichterfolg oder bei Verweigerungshaltung zu unmittelbaren Konsequenzen führen. Sanktionsloses Fehlverhalten verschlechtert die Situation um ein Vielfaches, weil es automatisch den Gewöhnungs- und Wiederholungsprozess auslöst. Das »Wenn-Dann«-Prinzip muss dem »Kannst du ruhig machen, passiert sowieso nix« offensiv gegenübergestellt werden.
• Integration gibt es nicht zum Nulltarif und nicht von der Stange. Die sich ständig wandelnden Verhältnisse erfordern immer wieder neue Denk- und Handlungsansätze. Statische Politikformeln führen zu verlorenen Stadtvierteln.
*** Abrufbar unter: http://www.coe.int/t/dg4/cultureheritage/culture/Cities/IntegrationspolitikNeuk%C3%B6lln_en.PDF
Der Demographiehammer
Ein Leben in Wohlstand wird in Deutschland in der Zukunft ohne die Integration der Einwandererkinder nicht möglich sein. Insofern ist Integrationspolitik nicht der Wettbewerb um den Mutter-Teresa-Preis, und es ist auch keine Almosenpolitik à la Brot für die Welt. Es geht schlicht und ergreifend um das Überleben unserer Gesellschaft auf dem heutigen Niveau. Das Humankapital unseres Landes liegt nicht an der Elbchaussee in Hamburg, in Dahlem-Dorf in Berlin oder am Starnberger See in Bayern. Es liegt vielmehr dort, wo es viele Kinder gibt. Also dort, wo die Geburtenraten hoch sind. Aber kümmern wir uns genug um diese Gebiete? Behandeln wir das Kapital, das es dort gibt, wie ein kostbares Gut, und legen wir es zinsbringend an? Oder gehen wir damit eher um wie mit den toxischen Papieren einer Bad Bank?
Ich kann mir gut vorstellen, dass einige von Ihnen bei diesen Sätzen die Stirn gerunzelt haben. Es sind ja auch starke Worte. Deshalb will ich mich in diesem Kapitel mit der demographischen Entwicklung in Deutschland und ihren Auswirkungen auf die Stadtlagen beschäftigen. Im Übrigen kann man generell die Demographie nicht losgelöst vom Umbau der Bevölkerungsstruktur und den sich damit verschiebenden Geburtenraten betrachten.
Bevölkerungsprognosen, Geburtenraten, Reproduktionswerte, Wanderungssalden, Altersquotienten – solche Begriffe suggerieren nicht unbedingt eine spannende Lektüre. Das ist etwas für Feinschmecker. Der Normalmensch macht darum einen großen Bogen nach dem Motto »Damit sollen sich die Wissenschaftler herumplagen«. Einem Menschen wie mir, der aus seinen Erfahrungswerten und den Quellen des täglichen Lebens schöpft, geht das nicht anders. Ich würde mich auch gerne drücken. Es ist, glaube ich, nachvollziehbar, dass auf kommunaler Ebene, also auch auf der bezirklichen Ebene einer Großstadt, keine eigenen Erkenntnisse über die demographische Entwicklung des Landes geschöpft werden können. Wir leben von den Forschungen und Erkenntnissen der Demographen und ihren Prognosen. Das bedeutet natürlich, man bewegt sich immer auf dünnem Eis.
Wissenschaftler sind nicht immer einer Meinung – das ist auch bei der Demographie so. Mit ihren Forschungen und Expertisen können Demographen alles belegen, was ihrer Meinung entspricht, und widerlegen, was der Meinung eines Kollegen näherkommt. Auf wessen Seite schlägt sich nun ein Autor, der ein Kapitel mit Inhalten füllen will, für die er nicht selber geradestehen kann? Sollten Sie in diesem Kapitel auf Widersprüche stoßen, so kann ich nicht ausschließen, dass Sie recht haben. Ich habe mich aber bemüht, in Veröffentlichungen aufgetretene Streitebenen zu umschiffen und nur Daten zu verarbeiten, die unstreitig zu sein scheinen.
Es heißt, die Demographie sei eine sehr verlässliche Disziplin, weil sie eine »Wenn-Dann«-Wissenschaft ist. Das bedeutet: Wenn bestimmte Konstellationen eintreten, dann sind die Folgen verlässlich berechenbar. Die Demographen weisen immer wieder darauf hin, dass die Berechnungen der Vereinten Nationen für die Weltbevölkerung aus den 1950er Jahren für das Jahr 2000 lediglich eine Ungenauigkeitsabweichung von 1,5 % hatten. In Deutschland liegt die Trefferquote bei Vorausberechnungen für zehn Jahre bei unglaublichen 99,9 %. So behaupten es jedenfalls die Akteure. Die von mir im Folgenden wiedergegebenen Zahlen und Ableitungen beruhen auf Veröffentlichungen der Bertelsmann Stiftung, des Statistischen Bundesamtes, der Bundeszentrale für politische Bildung und von Prof. Dr. Herwig Birg. Letzterer gehört zu den wohl bekanntesten deutschen Demographen und war von 2001 bis 2004 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Ich gehe davon aus, dass die veröffentlichten Daten belastbar sind.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #24 on: November 04, 2012, 09:16:33 am »
Unstrittig ist, dass die Bevölkerungszahl in Deutschland sinkt. Wir sind »Schrumpfgermanen«. In welchem Umfang dies allerdings geschehen wird und welche Auswirkungen damit verbunden sein werden, schon darüber herrscht keine Einigkeit. Während die einen die Katastrophe und das Zusammenbrechen unseres gesamten gesellschaftlichen Systems vorhersagen, plädieren andere für Gelassenheit, da sich in der Vergangenheit immer eine Lösung für
zuvor unlösbar erscheinende Probleme gefunden habe – man könne ja nicht wissen, wie sich Wirtschaft und Produktivität entwickeln. Vielleicht erwachsen ja aus der Gesellschaft heraus völlig neue Kräfte, um den demographischen Herausforderungen zu begegnen. Na gut, ich weiß auch nicht, ob es so oder so sein wird. Vermutlich werde ich es noch nicht einmal beobachtend erleben können. Doch step by Step.
Die Zeitzäsuren, die in Bevölkerungsprognosen regelmäßig gesetzt werden, sind 2030, 2050 und 2100. Mir geht es so, dass mir Jahreszahlen, die in der Zukunft liegen, viel weiter entfernt erscheinen als Ereignisse, die genauso weit in die Vergangenheit reichen. 18 Jahre zurück schreiben wir das Jahr 1994. Die Wiedervereinigung Deutschlands ist schon vier Jahre Geschichte. Viele erinnern sich an Episoden aus dieser aufregenden Zeit sehr plastisch und erzählen bewegt von ihren Erlebnissen, als wären sie gestern geschehen. Von heute aus gesehen ist das Jahr 2030 ebenfalls nur 18 Jahre entfernt, aber bis dahin scheint es eine Ewigkeit, und man denkt sich: »Wer weiß, ob ich das überhaupt erlebe.« Ich glaube, das ist ein Grund dafür, warum die eigentlich doch häufigen und nicht misszuverstehenden Hinweise zur demographischen Entwicklung in der Masse eher distanziert oder gar schulterzuckend zur Kenntnis genommen werden. Dabei sind die Vorausberechnungen alles andere als langweilig oder bedeutungslos. Sie verdienen schon ein bisschen mehr Emotionen.
Dass sich die Zahl der Einwohner in einem Land verringert, ist im Prinzip nicht dramatisch. Auch nicht bei uns. Immerhin ist Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern ein dicht besiedeltes Gebiet. Ein bisschen mehr Luft und Bewegungsspielraum für alle würden sicher als wohltuend empfunden werden. Voraussetzung für eine gesunde Schrumpfung wäre allerdings, dass sich der Abbau gleichmäßig vollzieht. Das heißt, dass sich die Alterspyramide nicht verändert. An dieser Stelle aber liegt der Hase im Pfeffer. Denn genau das ist nicht der Fall. Es ist vielmehr so, dass sich die Zahl der Älteren sprunghaft nach oben bewegt und die Zahl der Jüngeren dramatisch absackt. Das ist die völlig logische Konsequenz aus der banalen Feststellung, dass Mütter, die nicht geboren werden, keine Kinder kriegen.
In der Demographie spricht man in diesem Zusammenhang vom »Altenquotienten«. Dieser Begriff bezeichnet die Zahl der über 65-Jährigen im Verhältnis zur Zahl der 15- bis 65-Jährigen oder analog auch die Zahl der über 60-Jährigen in der Relation zur Zahl der 20- bis 60-Jährigen. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamts wird sich von 2008 bis 2050 die Zahl der 20- bis unter 60-Jährigen um 12 bis 15 Millionen verringern, und die Zahl der unter 20-Jährigen wird sich sogar um fünf Millionen vermindern. Im schlimmsten Fall würden dann bis zu 20 Millionen weniger Menschen unter 60 Jahren in Deutschland leben!
Die Zahl der über 60-Jährigen hingegen wird um sieben bis acht Millionen zunehmen. Im sogenannten Altenquotienten liest es sich dann so, dass 1998 dieser Wert bei 38,6 % lag, er schon 2010 auf 48,3 % anstieg und im Jahre 2030 bereits 81,3 % erreichen wird. Ab 2050 bewegt er sich dann nur noch in Größenordnungen über 90 %.
Der Jugendquotient hingegen, also die Anzahl der unter 20-Jährigen auf 100 Menschen im Alter von 20 bis zu 60 Jahren, sinkt immer weiter. Er betrug 1998 immerhin noch 38 %. Er sank 2010 auf 33 % und wird 2050 in der Größenordnung von 32 % verharren. Auch in den Folgejahren überschreitet der Jugendquotient niemals die Größe von 30 %. Diese auf den ersten Blick nüchternen Zahlen zeigen mit schonungsloser Brutalität, wie unsere Gesellschaft vergreisen wird. Betrug 1970 das Durchschnittsalter im Land 34 Jahre, so liegt es heute schon bei 44 Jahren. Ein bisschen schnoddrig formuliert, kann man auch sagen, dass so etwa in 20 Jahren jeder Erwerbstätige einen Rentner ernähren muss. Der Einfachheit halber sollte er ihn mit zu sich nach Hause nehmen. Im Jahre 2000 haben sich noch knapp vier Erwerbstätige einen Rentner geteilt.
Natürlich muss es immense Auswirkungen auf das Sozialsystem, also die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen haben, wenn die Zahl der Alten derart zunimmt. Die Menschen werden älter, die Medizin wird besser, aber auch teurer, und je dichter der Mensch an sein Lebensende kommt, desto höher werden die Kosten für die Lebenserhaltung. Im Jahre 1970 waren die damals
acht Millionen Rentner für die gut 20 Millionen Erwerbstätigen mit 11,4 Milliarden Euro ausgesprochen preiswert. Im Jahre 2010 mussten 26 Millionen Erwerbstätige für 20 Millionen Rentner bereits 140 Milliarden Euro auf den Tisch legen. Der Anteil der Ruheständler an der Bevölkerung wird von heute 25 % auf 40 % im Jahr 2050 steigen.
Der Direktor des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Prof. Dr. Klaus F. Zimmermann, prognostiziert für das Jahr 2030 das Fehlen von sechs Millionen Arbeitskräften. Allein durch die Verschiebung der Altersstruktur werden die Sozialbudgets bereits bis zum Jahr 2020 mit zusätzlich 70 Milliarden Euro belastet. Würde man die steigenden Kosten für die Sozialsysteme im heute üblichen Umlageverfahren erheben, dann bliebe für die eigenen Lebenshaltungskosten der Erwerbstätigen und ihrer Familien bald nichts mehr übrig. Sie könnten zwar den Solidarpakt nach traditionellem Muster erfüllen, würden darüber allerdings verhungern. Die Wissenschaft sagt, selbst bei einer 100 %igen Produktivitätssteigerung mit den entsprechenden Einkommenserhöhungen könnten die immensen Aufwüchse der Soziallasten durch die Erwerbstätigen nicht aufgebracht werden.
In einem weiten Blick nach vorne hat Prof. Birg Berechnungen angestellt, dass im Jahre 2100 die Bevölkerungszahl in Deutschland – selbst unter Einbeziehung eines angenommenen Wanderungssaldos (Zuwandernde minus Auswandernde) von 82 Millionen – auf 46 Millionen Einwohner sinken wird. Dabei wird es sich um 21 Millionen Bio-Deutsche, also Menschen ohne Migrationshintergrund, und 25 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund handeln. So seine Prognose. Nun ist 2100 wirklich noch sehr weit weg. Ob die Entwicklung über 90 Jahre tatsächlich so vorher bestimmbar ist, sei dahingestellt. Unbestreitbar bleibt jedoch, dass die Einwohnerzahl in Deutschland abnimmt.
Weniger Menschen werden mehr Wert schöpfen müssen. Das heißt, die Bedeutung jedes Einzelnen und seines Beitrages zum Funktionieren der Gemeinschaft wird zunehmen. Tja, und das ist die Stelle, an der sich Demographie und Integrationspolitik begegnen. Die Demographen weisen darauf hin, dass die Auswirkungen der aktuellen Geburtenrate in den nächsten 75 Jahren nicht revidierbar sind. Es dauert mindestens drei Generationen, bis eine eventuell veränderte, sprich höhere Geburtenrate in der Bevölkerungsentwicklung zu einer Trendumkehr führt. So spüren wir bis heute die Auswirkungen der seit 1972 sinkenden Geburtenrate.
Deutschland benötigt jedes Jahr etwa eine Million Geburten, um im demographischen Gleichgewicht zu bleiben. Wir liegen allerdings aktuell bei 663 000 im Jahr 2011. Katastrophenberechnungen sagen ein weiteres Absinken auf 530 000 im Jahr 2030 und sogar nur 440 000 im Jahr 2050 voraus. Übersetzt auf die Geburtenrate je Frau benötigen wir einen Wert von mindestens 2,0. Heute liegt er bei 1,4 als Durchschnittswert. Für hochqualifizierte deutsche Frauen bei lediglich 1,0. Durch politische Steuerung haben es zum Beispiel Spanien, Dänemark und Schweden geschafft, ihre Geburtenrate auf 1,9 zu steigern. Hier liegt also ein weites, weites Feld für die Familien- und Kinderpolitik in unserem Land.
Ein kluger Mensch könnte auf die Idee kommen, den steigenden Altenquotienten einfach durch die Zuwanderung junger Leute aufzufangen. Guter Plan, allerdings ist dies wenig realistisch. Um den gewünschten Effekt zu erzielen, müssten in den nächsten 40 Jahren netto 188 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern. Allein diese Zahl erschlägt jede Diskussion, so dass diese Überlegung wohl abgehakt werden kann. Auch darf man bei Gedankenspielen mit der Zuwanderung nie die Frage außer Acht lassen, ob es wirklich solidarisch ist, in Schwellen- und Entwicklungsländern die Produktivkräfte – möglichst noch die qualifizierten – für das eigene Überleben abzuwerben. Die Folge dieses Aderlasses könnte durchaus sein, dass das Wirtschaftswachstum und damit steigender Wohlstand in den anderen Ländern ausbleibt. Dann sollten wir uns aber nicht über anhaltende Armutswanderungen auch innerhalb der EU beklagen.
Das Thema Anwerbung reizt zu lästerlichen Anmerkungen. Die beiden Volkswirtschaften, die im Moment mehr kluge Köpfe hervorbringen, als sie für die eigene Wirtschaftsentwicklung
benötigen, sind China und Indien. Für Mathematiker und Computerspezialisten aus diesen Ländern müssten wir allerdings wohl deutlich attraktiver werden. Auch könnte eine konzeptionell angelegte Einwanderungspolitik, wie sie schon im Jahr 2001 durch die Süssmuth-Kommission gefordert wurde, nicht schaden. Wie gut wir tatsächlich im Wettkampf um die junge Intelligenz auf diesem Planeten aufgestellt sind, zeigte die mäßige Nachfrage der Green Card der Bundesregierung unter Führung von Kanzler Schröder. 15 000 haben davon Gebrauch gemacht, was weit unter den Erwartungen lag. Deutlicher konnte die Demonstration nicht ausfallen, dass Deutschland bei Leuten, die etwas auf dem Kasten haben und ihr Glück und Wohlstand außerhalb ihrer Heimat suchen, nicht an erster Stelle steht. Auch nicht bei türkischen Abiturienten. Die zieht es eher in die USA oder nach England. Es bleibt ihnen einfach zu wenig Netto vom Brutto. Das ist im Übrigen auch einer der Gründe, warum von uns gut ausgebildete junge Leute aus Deutschland auswandern und in andere Länder gehen bzw. in das Heimatland vom Großvater zurückkehren. Einfach, weil sie dort größere Chancen sehen, mehr Geld zu verdienen.
Der Demographiehammer wird kommen. In welchem Umfang, in welcher Art und mit welcher Geschwindigkeit, werden wir sehen. Eines aber steht fest: Wenn es schon immer weniger werden, die das Bruttoinlandsprodukt erarbeiten, also Werte schaffen, während es auf der anderen Seite immer mehr werden, die durch ihr Lebensalter die Soziallasten erhöhen, also Werte verbrauchen, dann können wir es uns auf gar keinen Fall erlauben, mit denen, die da sind, weiter so liederlich umzugehen wie bisher. Die Geburtenrate ist das eine. Ihre Bandbreite in der Bevölkerung etwas ganz anderes.
Es ist kein Geheimnis, dass Einwandererfrauen mehr Kinder bekommen als die Bio-Deutschen, insbesondere als die hochqualifizierten. Frauen mit Migrationshintergrund stellen inzwischen 30 % aller Mütter. Nach den Erhebungen des Mikrozensus haben nur 13 % der 35 bis 44 Jahre alten Frauen keine Kinder bekommen. Bei Frauen ohne Migrationshintergrund sind es allerdings 25 %. Also doppelt so viele Frauen, die keine Kinder bekommen haben. Dieser Unterschied setzt sich bei der Zahl der Kinder fort. In Berlin zum Beispiel haben nur 14 % aller Mütter zwischen 15 und 75 Jahren drei und mehr Kinder bekommen. Bei Müttern mit Migrationshintergrund waren es in derselben Altersgruppe 26 %, unter den Müttern mit türkischer Staatsangehörigkeit waren es sogar 38 %.
Insgesamt lebten in Deutschland im Jahre 2010 rund 13 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Vor zehn Jahren waren es noch über 2 Millionen mehr. Der Anteil der jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung beträgt 16,5 %. In Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und in den skandinavischen Ländern sind es jeweils mehr als 20 % und in der Türkei mehr als 30 %. In Deutschland wachsen 75 % aller Kinder als Einzelkind oder maximal mit einem Bruder oder einer Schwester auf – nur noch jedes vierte Kind hat zwei oder mehr Geschwister.
Bei den unter 5-Jährigen beträgt der Anteil der Einwandererkinder in Deutschland inzwischen 35 % mit steigender Tendenz. In Großstadtlagen und besonders in den Quartieren mit hohem Anteil an Einwandererbevölkerung ist diese Zahl noch erheblich höher. Bei den 0- bis 15-Jährigen liegt der Anteil in Neukölln bei über 70 %, bei den bis 18-Jährigen, wie schon erwähnt, bei 67 % im Gesamtbezirk bzw. bei 80 % im Neuköllner Norden. Ich erinnere an dieser Stelle an die Ausführungen im Kapitel »Neukölln heute«.
Es ist eine Platitüde, dass Kinder die Zukunft eines Landes sind. Trotzdem ist es richtig, dass in den Gebieten wie Neukölln die Humanressource unserer Gesellschaft liegt. Im Moment pflegen wir dieses Kapital jedoch nicht. Im Gegenteil, wir führen es, bösartig formuliert, fast planmäßig nicht zu einem selbstbestimmten erwerbstätigen Leben, sondern wir reichern mit einem viel zu großen Teil von ihm die Soziallasten der künftigen Generationen an. Nicht nur, dass die Zahl der jungen Leute zur Erarbeitung des Bruttoinlandsprodukts ohnehin zu gering ist. Nein, von den wenigen, die da sind, wird ein nicht unbeträchtlicher Teil auch noch zu »Kunden« des Sozialsystems als Teil der Transfergesellschaft. Unser solidarisches Auffangnetz der Gemeinschaft ist zum
Reparaturbetrieb des versagenden Bildungssystems verkommen. Bezogen 1965 noch 160 000 junge Menschen unter 18 Jahren Sozialhilfe, so sind es heute fast zwei Millionen, die Hartz IV erhalten. Das kann auf Dauer nicht funktionieren.
In Berlin entstammen 38 % der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bildungsfernen Schichten ihrer Heimatländer. Differenziert nach Ethnien liegt dieser Anteil bei der türkischstämmigen Bevölkerung bei bis zu 80 % und bei der libanesischen bei über 70 %. Insider überraschen diese Werte nicht, denn der Türkische Bund hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass 70 % bis 80 % der türkischstämmigen Bevölkerung in Berlin den unteren sozialen Schichten der Türkei angehören. Speziell für Neukölln verfüge ich bei den Kindern unter 18 Jahren nur über den Wert der türkischstämmigen Bevölkerung. Da sind es 74 %, die bildungsfernen Eltern zugerechnet werden können.
Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass die Zuwanderungen sich heute grundsätzlich von denen des 18. Jahrhunderts unterscheiden. Als Beispiel gelungener Integration in Deutschland wird immer auf die Hugenotten oder die Tschechen verwiesen. Außer Acht gelassen wird dabei, dass beide Volksgruppen gezielt mit Privilegien ins Land geholt wurden, weil diese Einwanderer damals den Einheimischen an beruflichen Fertigkeiten oder Fähigkeiten für gewöhnlich überlegen waren. Eine ähnliche Situation wie heute in Kanada. Aufgrund der gezielten Einwanderungspolitik mit Konzentration auf bildungsaffine Zuwanderer absolvieren die Kinder der Einwanderer dort statistisch gesehen bessere Bildungskarrieren als die der Einheimischen.
Wir hingegen müssen konstatieren, dass sich unsere aktuelle Einwanderergesellschaft aus weitgehend unterdurchschnittlich qualifizierten Eingewanderten und ihren Kindern zusammensetzt. Mangelnde Schulabschlüsse und fehlende Berufsausbildung sind nicht nur nicht selten, sondern überwiegen partiell. Bei den Einwanderern ist der Anteil von Menschen ohne Schulabschluss sechsmal so hoch wie bei Bio-Deutschen. Betrachtet man nur die türkischstämmigen Einwanderer, so sind die Werte noch dramatischer. Bei Männern beträgt der Unterschied das Zwölffache und bei Frauen das Zwanzigfache der vergleichbaren bio-deutschen Bevölkerung. Zur Ehrenrettung sei jedoch darauf hingewiesen, dass bei italienischstämmigen Einwanderern 11 % der Männer und 13 % der Frauen über keinen Schulabschluss verfügen.
Die Ausführungen über die demographische Entwicklung bestätigen aus meiner Sicht eindrucksvoll meine Eingangsthese. Ich denke, wir kommen nicht darum herum, die Priorität auf die Ausbildung der Kinder zu setzen, die in unserem Lande leben. Die Erhaltung des Lebensstandards der Gesamtbevölkerung sowie des Solidarpakts der Generationen sind zu hohe Güter, als dass sie durch schlichte Passivität aufs Spiel gesetzt werden dürften. An zweiter Stelle muss die Politik an einer Steigerung der Geburtenrate insbesondere der bildungsorientierten Bevölkerung arbeiten. Erst wenn wir diese Hausaufgaben erledigt haben, können wir uns Überlegungen hingeben, die eine Optimierung der imaginären Einwanderungspolitik zum Gegenstand haben.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #25 on: November 04, 2012, 09:17:51 am »
Die Sache mit den Gesetzen
So wie die Bildung der entscheidende positive Baustein bei der Integration ist, so ist es nach meiner Auffassung im Negativen die Kriminalität. Sie ist es auch, die ganz wesentlich zur Stimmungslage bei den Menschen beiträgt. Man muss unterscheiden zwischen der Kriminalität im Allgemeinen und der Jugendkriminalität im Speziellen. Im Speziellen deshalb, weil gerade sie die Hinwendung oder die Ablehnung der jungen Menschen untereinander beeinflusst. Damit werden bereits heute die Grundsteine dafür gelegt, wie sich die neuen Generationen künftig begegnen werden.
Jugendkriminalität ist für uns Ältere zumeist unsichtbar. Ich habe bereits an anderer Stelle auf diesen Aspekt hingewiesen. Die Opfer sind zu 80 % bis 85 % selbst Jugendliche. Übergriffe auf Erwachsene sind selten und entspringen meist klassischen Situationen wie beispielsweise Fahrscheinkontrollen oder Hilflosigkeit des Opfers infolge von Trunkenheit oder Alter. Darüber jedoch später.
Eine von Ausländermilieus ausgehende Kriminalität ist keine Besonderheit unseres Landes. Überall dort, wo sich starke Einwandererpopulationen gebildet haben, gibt es auch Auffälligkeiten im Bereich der Normenakzeptanz. Ich habe das in den Niederlanden ebenso erlebt wie in England, in Norwegen und in Frankreich. Auslösender Faktor für die überproportionale Kriminalitätsbelastung vieler Einwanderercommunitys ist sicher ihre soziale Lage. Fast überall, wo es Stadtviertel gibt, in denen Ausländer und Migranten mit oder ohne Staatsangehörigkeit des Aufnahmelandes geballt leben, entstehen Welten mit eigenen Lebensregeln und spezifischer Normalität. Das Leben ist gemeinhin rustikaler und unterscheidet sich von dem des Bildungsbürgertums diametral. Es orientiert sich eher an mangelnden Ressourcen als an der Idylle von Porzellanfiguren und Zierrasen. Es fehlen häufig sowohl eigene Kompetenzen, die für ein erfolgreiches Erwerbsleben, zum Erlernen der Landessprache und zur Konfliktbewältigung erforderlich wären, als auch die materiellen Voraussetzungen dafür, sich sämtliche Wünsche erfüllen zu können. All dies führt zur Ausgrenzung jener Stadtlagen, zu ihrer Abtrennung von der allgemeinen Entwicklung. Die Gesetze des Arbeitsmarktes funktionieren nur bedingt, Schwankungen im Wirtschaftsgefüge kommen gar nicht oder nur vermindert an. So ist zum Beispiel die Zahl der Hartz-IV-Empfänger in Neukölln, wie erwähnt, über die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs oder der Rezession nahezu konstant. »Gebiet mit Ausgrenzungstendenz« nannte uns deshalb auch der Stadtsoziologe Prof. Häussermann. Es entstehen asymmetrische Stadtteile. Sie driften auseinander. Subjektiv empfinden sich die Bewohner in den Einwanderergebieten, die sich irgendwann zu sozialen Brennpunkten entwickelt haben, als benachteiligt, diskriminiert und ausgeschlossen. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Kriminalität: Ich nehme mir, was mir zusteht, aber vorenthalten wird, weil ich Ausländer bin. In der Sprache der Gesellschaft nennt man das Einbruch, Diebstahl, Überfall oder Raub.
Dass zu jeder kriminellen Tat auch ein oder mehrere Täter gehören, ist zwangsläufig. Übersehen wird aber häufig, insbesondere von der Justiz, dass es auch dazugehörige Opfer gibt. Von Opfern weiß man, dass sie gemeinhin zu ihren Peinigern ein eher gebrochenes Verhältnis entwickeln. Das bedeutet, jede kriminelle Tat errichtet eine kleine Mauer. Handelt es sich beim Täter um einen Einwanderer oder eine Einwanderin, einen Migranten oder eine Migrantin, einen Ausländer oder Ausländerin, so überträgt das Opfer diesen Status auf seine Leiden. Dies führt dann zwangsläufig dazu, dass der Täter fast immer ethnisiert wird. Es war der Russe, der mich überfallen, der Araber, der mich geschlagen, und der Türke, der auf mich eingestochen hat. Das ist Gift für die Integration. Insofern wird Kriminalität zu einem erheblichen Hemmschuh. Wer einmal schlechte Erfahrungen gemacht hat, verspürt wenig Lust auf eine Wiederholung.
Ich habe das traditionelle Klischee »Ausländer sind krimineller als Einheimische« als gesetzt übernommen. Aber stimmt das denn wirklich? Über die Frage des kriminellen Geschehens in
Neukölln und in Berlin habe ich den Erfahrungsschatz von Menschen angezapft, die Kraft ihres Berufes sehr viel näher am Geschehen sind als ich. Die mir vermittelte Sichtweise kann keine objektive sein, denn es handelt sich zumeist um die Klagen aus der Bevölkerung, also der potentiellen oder auch tatsächlichen Opfer.
Es gibt das Schlagwort der »gefühlten Kriminalität«. Das heißt, Berichte von Dritten, aus den Medien oder vom Hörensagen werden auf die eigene Lebenslage projiziert. Unabhängig davon, dass es mich nicht persönlich betroffen hat. Es reicht völlig aus, wenn das Gefühl der Bedrohung geweckt wird.
Allerdings gibt es durchaus auch das Phänomen der »gefühlten Sicherheit«. Der sichtbare Polizist an der Ecke und der regelmäßig durch die Straße fahrende Streifenwagen geben Sicherheit. Wo die Polizei zu sehen ist, kann mir nichts Böses passieren. Natürlich ist das ein Irrtum, aber ein netter.
Meine Gesprächspartner waren Polizeibeamte, Jugendgerichtshelfer und Jugendrichter. Also die Law-and-Order-Fraktion. Die Offenheit und der Realismus in der Betrachtung ihrer täglichen Arbeit erleichterte zwar die Gesprächsführung, machte mich aber trotzdem etwas betroffen. Wenn diese Menschen einmal die Jalousie hochziehen und sich in die Karten schauen lassen, wird man schnell desillusioniert. Da ist Schluss mit lustig. Von Multikulti, Volkstänzen und kultureller Bereicherung ist dann keine Rede mehr.
Das tägliche Erleben von Verwahrlosung, Rowdytum und Gewaltbereitschaft auf der Straße prägt einen Polizeibeamten anders als den Jugendgerichtshelfer. Der eine wird mit der Straftat und dem Opfer konfrontiert, der andere muss die Ursachen ergründen, verstehen und möglichst die Wiederholungsgefahr bannen. Der Richter wiederum muss entlastende und belastende Dinge abwägen. Und gerade bei der Jugendkriminalität die erzieherische Wirkung seines Urteils in den Vordergrund stellen. So entwickelt jede Profession ihre eigenen Ansichten zu dem gemeinsam zu bekämpfenden Grundübel.
Ich teile die Auffassung, dass unser gesetzlicher Werkzeugkasten zur Kriminalitätsbekämpfung völlig ausreicht. Allerdings nur dann, wenn wir ihn auch benutzen und die gegebenen Möglichkeiten ausschöpfen. An dieser Stelle komme ich ins Grübeln. Nach den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes wurden zum Beispiel im Jahr 2006 von 100 000 jungen Straftätern in Deutschland nur 91 zu Jugendstrafen zwischen fünf und zehn Jahren verurteilt. 16 000 Mal wurden überhaupt Jugendstrafen verhängt, davon 10 000 zur Bewährung ausgesetzt. Vergleicht man diese Zahlen mit der Zahl der veröffentlichten schweren Gewalttaten gegen Leib und Leben, vermittelt dies schon einen ersten Anschein von einem sehr verständnisvollen Umgang mit jungen Straftätern.
Ich erinnere mich gut an die leidenschaftliche Debatte vor einigen Jahren in Deutschland, ob Straftäter zwischen 18 und 21 Jahren (also Heranwachsende) regelmäßig nach dem Erwachsenenstrafrecht behandelt werden sollten oder nach dem Jugendstrafrecht. Ein ehemaliger Ministerpräsident von Hessen hatte damit seinen Wahlkampf geführt. Er forderte mehr Härte und eine regelmäßige Aburteilung nach dem Erwachsenenstrafrecht. Nun war es aber gerade in Hessen so, dass 75 % der Täter dieser Altersstufe nach dem Jugendstrafrecht behandelt wurden. Wer mit einem Finger auf andere zeigt, übersieht mitunter, dass drei Finger auf ihn selbst gerichtet sind. Die Kampagne floppte damals zu Recht. Man darf aber nicht die Augen davor verschließen, dass es Jugendrichter gibt, nach deren Auffassung alleine schon die Tat der Beweis dafür ist, dass die Täter noch nicht über die Reife eines Erwachsenen verfügen. Hätten sie die Reife, hätten sie die Tat nicht begangen – nach dieser Logik wäre dann ausnahmslos das Jugendstrafrecht anzuwenden.
Wenn ich mir das Kaleidoskop der Gewalttaten in jüngster Vergangenheit in Berlin und speziell in Neukölln anschaue, erscheint es aber auch mir so, dass die Taten immer brutaler werden, die Täter immer mehr verrohen, unsere Justiz jedoch immer zögerlicher agiert. Der frühere Berliner Innensenator Körting sorgte vor einigen Jahren für einen Skandal, als er öffentlich erklärte, dass
»Allesversteher« unter den Richtern mitverantwortlich für die Gewaltmisere seien. Es gehe ihnen nur um die Psyche des Täters, die Opferpsyche sei »etlichen Richtern scheißegal«. Jeder, der die Empfindlichkeit von Richtern kennt, kann sich vorstellen, zu welchem Aufruhr es damals gekommen ist. Richter darf man eben nicht kritisieren. Für sie gilt die Leistungsbandbreite des Menschen im Allgemeinen nicht. Vor Gerichtsurteilen ist nach der Meinung eines Standesvertreters durchaus Demut angezeigt. Da sind Bezirksbürgermeister menschlicher und kritikfähiger.
Besonders in den Fällen, in denen absehbar ist, dass sich gerade eine kriminelle Karriere aufbaut, muss bereits im Anfangsstadium versucht werden, Denkprozesse beim Straftäter auszulösen. Aus meiner Sicht ist hier Über-den-Kopf-Streicheln nicht die richtige Methode. Der junge Mensch muss durch eine energische Reaktion des Staates bzw. der Gesellschaft merken, dass er irgendetwas falsch macht. Ich erinnere an dieser Stelle an meine gute alte Bekannte, die Jugendrichterin Kirsten Heisig. Sie sagte immer, »schnell muss es gehen, und konsequent muss es sein«. Ausgestiegene Gewalttäter erklären rückblickend immer wieder, dass ihnen der Ausstieg aus der Kriminalität schon sehr viel früher gelungen wäre, wenn man ihnen rechtzeitig das Stoppschild gezeigt hätte. Auf der verbalen Ebene gibt es hierzu auch in der Politik eigentlich wenig Dissens. Selbst die GRÜNEN finden in diesem Zusammenhang klare Worte. Ein früherer Fraktionschef sagte einmal, wir dürften nicht zulassen, dass Jugendkriminalität und Gewalt in der nächsten Generation so weiter gehen. Gegenüber manchen Jugendlichen müsse auch Härte gezeigt werden.
Wir stehen in Berlin an einer Schwelle, an der man handeln muss. Im Grunde genommen geht es um die Frage, bis zu welchem Punkt wir dem Primat des Erziehens und Lenkens im Jugendstrafrecht folgen, bevor wir das Schwergewicht auf den Sanktionsgedanken des Strafens und der Abschreckung legen. Wir wissen heute aus vielen Fällen, dass an bestimmten Tätern pädagogische Maßnahmen komplett abprallen. Ja, dass sie sogar eher amüsieren. Das ermahnende Wort des Richters wird zum »Gelaber«, die auferlegten Arbeitsstunden zum »krassen Schwachsinn«, den man häufig ignoriert, die Schulweisung verlacht und die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe als ein verkappter Freispruch aufgefasst.
Dort, wo der erste Gefängnisaufenthalt der eigentliche Eintritt in die Erwachsenenwelt ist, dort haben erzieherische und pädagogische Ansätze kaum eine Chance. Kirsten Heisig berichtete mir einmal von einem jungen Täter, den sie zur Jugendstrafe, also zum Knast, verurteilt hatte. Er schien ihr davon völlig unberührt, und sie fragte ihn danach. Seine Antwort lautete: »Knast macht Männer, sagt Mama.« Man mag über diesen Blödsinn lachen, aber das Problem ist bitterernst. In nicht wenigen unserer bekannten Sorgenfamilien bedeutet »einfahren« den Aufstieg zum vollwertigen Mitglied der Familie. Zum Strafantritt wird man mit einer Feier zu Hause verabschiedet und nach Verbüßung mit einer Feier wieder empfangen.
Nach einem Höchststand im Jahr 2009 konnten wir im Juni 2012 immer noch 192 jugendliche Serienstraftäter unser Eigen nennen. Zur Erinnerung, hierbei handelt es sich um Intensivstraftäter mit mehr als zehn Straftaten im Jahr, Schwellentäter mit fünf bis neun Straftaten und kiezorientierte Mehrfachtäter, die auf dem besten Weg sind, in den Täteradel der Schwellen- und Intensivtäter aufzusteigen.
Nun sind 192 junge Menschen von 65 000 Einwohnern unter 21 Jahren weniger als ein halbes Prozent. Eigentlich mengenmäßig bedeutungslos. Bedenkt man, dass die Hälfte immer gerade sitzt, halbiert sich die Zahl auch noch. Gleichwohl reichen 100 völlig skrupellose Gewalttäter aus, um ganze Gegenden zu terrorisieren und in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie belagern Schulwege und fordern Wegezoll, Benutzungsgebühren für den Spiel- oder Bolzplatz, stehlen Jacken, Turnschuhe, Handys – »abziehen« nennt man das – oder erzwingen mit Gewalt blödsinnigste Unterwerfungs- und Demutshandlungen. Und sie sind ständig auf der Suche nach Opfern. Wer keine Kinder hat, bekommt von solchen Vorgängen meist nur durch Zufall etwas mit. Die jungen Leute aber sind untereinander vernetzt, sie wissen, wo was in der Stadt los ist, und sie wissen, wer wo sein Unwesen treibt. Danach entscheiden sie auch, wo sie hingehen und welche
Gegenden sie meiden. Das ist einer dieser Aspekte, der dazu führt, dass die jungen Menschen nicht zueinanderfinden, sondern sich voneinander entfernen. Unsere Polizei schätzt, dass in Problemgebieten wie Neukölln etwa 80 % der deutschen Jugendlichen zwischen 12 und 18 schon einmal Opfer einer Gewalttat geworden sind. Berichte von Eltern bestätigen diese Wahrnehmung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein junger Mensch bei uns Opfer einer Straftat wird, ist vierzigmal höher als für einen über 60-Jährigen.
Solche Aufteilung der Lebensräume in Gut und Böse bleibt nicht ohne Folgen. Ich bin teilweise richtig erschrocken darüber, wenn mir bei Diskussionen mit Oberschülern Stimmungslagen begegnen, die ich zwar nicht gleich als rassistisch bezeichnen möchte, die aber eine deutliche Trennung in »die« und »wir« erkennen lassen. Ein Beispiel. Als ich vor Jahren bei einer Schule anfragte, ob nicht Teile des Schulchores regelmäßig gegen eine kleine Aufmerksamkeit bei der Einbürgerungsveranstaltung das Stimmengerüst zum Singen der Nationalhymne abgeben möchten, erhielt ich eine Abfuhr: »Wir singen nicht für die, die uns auf der Straße verprügeln.« Das kann man für einen Ausreißer halten. Ich glaube das aber nicht.
Im Jahr 2006 drehte der Regisseur Detlef Buck den Film Knallhart. Die Geschichte eines Jungen, der aus einem gutbürgerlichen Viertel mit seiner Mutter nach Neukölln umziehen und hier infolge des Mobbings durch Straßenjugendliche und seine neuen Klassenkameraden ein Martyrium durchleiden muss. Die Handlung endet in einer Katastrophe. So weit der Film. Im Rahmen der Premierenfeier wurde die Filmklasse, die es in einer Neuköllner Schule wirklich gab, bei einem Interview gefragt, wie die Schüler die Gewalttaten im Film in ihrer dramaturgischen Übertreibung empfinden. Die Antwort war kurz und deutlich: »Wieso Übertreibung? Das richtige Leben ist bei uns noch viel härter.«
Die Zahl der Opfer dieser Möchtegern-Gangster ist nicht gering. Wir haben, wie erwähnt, in Neukölln im Jahr 2011 rund 2660 Straftaten jugendlicher Täter registriert. Das ist absolut gesehen zweifellos ein Rückgang, denn im Jahr 2008 waren es 3600 Taten. Allerdings darf man sich nicht an seligen Friedenszeiten von 1990 mit 1600 Delikten orientieren. Dann handelt es sich doch wieder um eine Steigerung. Das heißt, trotz rückläufiger Tendenz ist die Kriminalität immer noch deutlich höher als vor 20 Jahren.
Beim Täter-Opfer-Schema sind sich alle meine Gesprächspartner einig. In die erste Opferkategorie fallen deutsche Jugendliche, an zweiter Stelle kommt die deutsche alte Frau, und den dritten Rang nehmen alle ein, die den Eindruck der Schwäche vermitteln oder die in irgendeine (nervende) Beziehung zum Täter getreten sind. Letzteres sind bereits Aufforderungen zum Fahrscheinlösen oder zur Einhaltung des Rauchverbots im ÖPNV. Die Fachleute berichten, dass sich in jüngster Zeit anscheinend ein Opfermangel entwickelt. Es gibt in den Brennpunkten und an ihren Rändern nicht mehr genug junge Deutsche. Dadurch werden jetzt vermehrt Straftaten zwischen den Einwandererethnien registriert. Also Araber gegen Türken, Araber und Türken gegen Russen oder Bulgaren und Rumänen. Je nachdem, was gerade im Angebot ist. Manchmal mischen sich die Gruppen auch. Das hört sich zynisch an, beschreibt aber einfach nur die Realität.
Erinnert sei daran, dass ich an dieser Stelle nicht über alle jungen Leute schreibe. Noch nicht einmal über alle jugendlichen Straftäter. Für die meisten von ihnen bleibt die Kriminalitätserfahrung eine Episode in ihrem Leben. Junge Männer testen Grenzen aus, suchen den Kick, wollen der Coolste der Straße sein oder nur einfach einmal ausprobieren, was passiert. Etwa 80 % bis 85 % aller Erst- und Zweittäter erscheinen nie wieder vor Gericht. Auch sind die Verfehlungen eher untergeordneter Bedeutung. Meist geht es um Schwarzfahren, Laden- und Mopeddiebstahl, Fahren ohne Führerschein bis hin zur zünftigen Schlägerei, also Körperverletzung. Bei Jugendlichen, die wegen »Körperverletzung in Mittäterschaft« zu einer Jugendstrafe verurteilt werden, liegt die Rückfallquote übrigens nur bei rund 30 %. Bei Intensivtätern zwischen 50 % und 70 %. Aber selbst der letztere Wert bedeutet, dass fast jeder dritte Intensivtäter noch einzufangen ist. Ich glaube, dass bei einer anderen Haltung der Justiz die Rückfallquote noch erheblich gesenkt werden könnte.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #26 on: November 04, 2012, 09:20:20 am »
Die Stammkundschaft und die Täter mit den schwerwiegenden Gewalttaten, das sind die, die ich in diesem Abschnitt meine. Diese Täter sind es auch, die mit ihren Taten in den Gazetten erscheinen und die immer wieder öffentliche Diskussionen unter der Überschrift »Immer jünger und immer brutaler!« auslösen. Das trifft für Marokkaner in den Niederlanden, Algerier in Frankreich, Pakistani oder Schwarzafrikaner in London genauso zu wie für türkisch- und arabischstämmige Jugendliche bei uns. Gewaltbereitschaft ist keine ethnische Spezialität. Allerdings zeigen alle Untersuchungen auch in anderen Ländern, dass Komponenten wie eigene Gewalterfahrung und religiöses Egodoping stark begünstigende Faktoren sind. Den Risikofaktor »jung, männlich, Migrant« zum Abgleiten in die Kriminalität habe ich bereits erwähnt. Eine frühere Berliner Justizsenatorin fügte im Jahr 2010 folgende Ergänzung hinzu: »Der typische Serientäter ist männlich, arabischer Herkunft und bleibt auch als Erwachsener kriminell.« Dieses Erklärungsmuster führt natürlich sofort zu der Diskussion, ob die Gewaltbereitschaft junger Muslime durch ihre Religion bedingt ist oder nicht.
Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat hierzu einmal eine Studie mit dem Ergebnis vorgestellt, dass junge kaum religiöse Migranten zu über 40 % das Abitur ansteuern, zu über 60 % deutsche Freunde haben und sich zu zwei Dritteln auch als Deutsche fühlen. Junge gläubige Muslime hingegen streben nur zu 16 % das Abitur an, haben zu 28 % deutsche Freunde und fühlen sich lediglich zu 22 % als Deutsche. Diese Unterschiede sind schon beachtlich, obgleich ich auch an dieser Stelle erneut darauf hinweisen möchte, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Studien oder Forschungsarbeiten gibt, die zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen. Zu bedenken gebe ich aber, dass der hinter dem KFN stehende Wissenschaftler für Kriminalitätsforschungen Prof. Pfeiffer schlechthin als der »Papst« auf diesem Gebiet im deutschsprachigen Raum gilt. Aus diesem Grund ist dem Wahrheitsgehalt seiner Veröffentlichung, die auf der Basis von 45 000 Befragungen von Schülerinnen und Schülern der 9. Klassen in 61 Städten beruht, schon ein recht hoher Grad zuzubilligen. Selbst der GRÜNEN-Chef Cem Özdemir stufte die Studie als realistisch ein.
Ein signifikantes Merkmal von Gewalttätern ist sicher, dass mit abnehmendem Bildungsgrad auch die Fähigkeit zur gewaltlosen Konfliktlösung schwindet. Also: Je geringer die geistigen Kompetenzen, desto dicker die Muskeln. Zwei Drittel aller jungen Häftlinge haben keinen Schulabschluss und 90 % keine Berufsausbildung. Das bestätigt die These. In Berlin ist der Zusammenhang sogar noch deutlicher, hier haben 80 % keinen Schulabschluss, und bei einem Drittel der späteren Intensivtäter enthalten bereits die Schulakten Hinweise auf schwieriges und/oder aggressives Sozialverhalten, Sitzenbleiben und Schulschwänzen.
Dort, wo man ein Bildungssystem nicht kennt, nie selbst eine Schule besucht hat, gilt die Schulpflicht als eine Art unverbindliche Empfehlung. Wer von frühester Kindheit an Gewalt erlebt und spürt, für den ist Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Ansprüche.
Die Leiterin einer Neuköllner Schule erklärt das verhängnisvolle Erbe der Gewaltbereitschaft so:
»Obwohl es uns gelungen ist, eine weitgehend gewaltfreie, angenehme Schulatmosphäre herzustellen, kommt es dennoch manchmal auch zu Konflikten, die den Schulfrieden nachhaltig stören können. Der Grund hierfür ist, dass sich Familienmitglieder zum Beispiel arabischer Großfamilien in die inneren Angelegenheiten der Schule einmischen. Dabei wird deutlich, dass sie die Autorität der Institution Schule nicht anerkennen und die Idee vorherrscht, dass Recht und Ehre ihrer Kinder nur wiederhergestellt werden können, indem sich Väter, Onkel, Cousins in und vor der Schule versammeln und massiven Druck auf die Entscheidungen der Schule auszuüben versuchen. Diese Situationen können bisweilen nur durch Mitwirkung der Polizei gelöst werden.Eine Schule, in der solche Vorkommnisse auftreten, hat es schwerer, soziale und sprachliche Heterogenität zu stärken, da Eltern Angst um ihre Kinder haben.Die mangelnde Anerkennung staatlicher Institutionen durch eine Minderheit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das Schule nicht allein lösen kann.
Dazu braucht es die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, der Polizei und zum Beispiel den arabischen Vereinen.Mehrheitlich kommen unsere Schüler/innen aus Familien mit patriarchalischen und hierarchischen Strukturen. Der vorherrschende Erziehungsstil ist autoritär, was die Schüler/innen als Stärke erleben. Daraus erwächst für eine Schule, deren erklärtes Ziel selbständiges, eigenverantwortliches Lernen und Teilhabe an Schulentwicklungsprozessen ist, eine doppelte Schwierigkeit. Zum einen interpretieren die Schüler/innen einen aushandelnden Erziehungsstil als Schwäche. Als schwach wahrgenommene Pädagogen/innen können Schüler/innen aber nur bedingt zum Lernen motivieren. Und zum anderen hält dieser autoritäre Erziehungsstil die Kinder bis hinein ins frühe Erwachsenenalter in der Unselbständigkeit. Da sie im familiären Bereich anders geprägt wurden, fehlen ihnen das Verständnis für die Sinnhaftigkeit eines solchen Vorgehens sowie wichtige Fähigkeiten wie Problematisieren und kontrovers Diskutieren. Und so spiegelt sich dieses Unverständnis in ihrer Ablehnung gegenüber einem Unterricht wider, der Selbständigkeit und Eigenverantwortung verlangt.Aus unserer Erfahrung heraus wäre ein Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis wichtig, um Wege zu finden, die helfen, dieses Dilemma zu überwinden.« Wie bereits erwähnt, entstammen nach Einschätzung des Türkischen Bundes bis zu 80 % der bei uns lebenden türkischstämmigen Bevölkerung der Unterschicht in der Türkei. Erfahrungsgemäß wird in dieser Gesellschaftsschicht Gewalt erheblich weniger in Frage gestellt als in bildungsorientierten Familien. Nach Erkenntnissen des KFN wird in Einwandererfamilien etwa drei- bis viermal häufiger Gewalt ausgeübt als in deutschen Familien.
Ein Einschub ist wichtig an dieser Stelle. Wenn junge Menschen aus der Spur geraten sind und die kriminelle Szene als völlig normale Lebensform für sich entdeckt haben, dann gibt es unter den Entwurzelten keinen Unterschied mehr. Ein russischer Intensivtäter unterscheidet sich in nichts von einem türkischen, arabischen oder deutschen. Der eine trägt Kurzhaarschnitt und Springerstiefel und ist gleichermaßen durch Verwahrlosung geprägt wie der, der kahl geschoren ist und einen Trainingsanzug mit Kapuze anhat. Mit Blick auf die Geburtenrate stellt sich nur das Problem: Verwahrlost heißt nicht impotent.
In Berlin haben 80 % der Intensivtäter einen Migrationshintergrund und verfügen über selbst erlittene Gewalterfahrung. Es ist gesicherte Erkenntnis, dass in bestimmten migrantischen Milieus Gewalt, insbesondere interfamiliäre Gewalt, eine diskussionsbeendende und hierarchiebestimmende Akzeptanz genießt. Von den 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben bisher rund 20 das Recht auf gewaltfreie Erziehung auf eine nationale gesetzliche Grundlage gestellt. Was in modernen, demokratischen Gesellschaften heute selbstverständlich ist, gilt noch lange nicht überall auf der Welt.
Gewalt in der Familie und eine keinen Widerspruch duldende autoritäre Erziehung sind mit Sicherheit eine entscheidende Grundlage für den überproportional hohen Anteil an Gewalttaten durch junge Männer mit Migrationshintergrund. Selbst für den Türkischen Bund steht fest, dass schon durch die Erziehung in den Familien Gewalt als normal angesehen werde. »Gewalt gilt als probates Mittel.« Familien, in denen Väter zwar nicht arbeiten gehen, kein oder nur ganz schlechtes Deutsch sprechen, aber ansonsten immer das letzte Wort behalten und alles bestimmen wollen und dies zur Not mit der Faust oder dem Bügel durchsetzen, das sind, denke ich, auch die Familien, in denen ein Schulabschluss weniger Bedeutung entfaltet als die sogenannte Familienehre.
Wer mit Gewalt aufgewachsen ist und Gewalt für sich adaptiert hat, der wird auch Gewalt an seine Kinder weitergeben. Gewalt führt immer wieder zu Gewalt. Auf die Frage, ob ein Mann seine Frau schlagen darf, wenn sie ihn betrügt, antworteten 4 % der bio-deutschen Jungen mit ja, bei den türkischen waren es 24 %. Nach der Erhebung durch das KFN erleben 45 % der Kinder in türkischstämmigen Familien Misshandlung und schwere Züchtigung.
Gerade zu diesem Punkt wird mir immer das Argument entgegengehalten, dass es auch Gewalt in deutschen Familien gibt. Natürlich gibt es die. Nicht umsonst hatten wir schon in der Weimarer Republik mit dem Jugendwohlfahrtsgesetz eine Schutzbestimmung für Kinder, die durch
das Kinder- und Jugendhilfegesetz noch erheblich erweitert wurde. Den Unterschied macht die Häufigkeit. In den bio-deutschen Familien beträgt der Anteil vergleichbar leidender Kinder »nur« rund 12 % und rund 6 % bei den Jugendlichen.
In Neukölln ist es Usus, dass das Jugendamt als Wächter über das Kindeswohl über jeden Polizeieinsatz unterrichtet wird, der mit häuslicher Gewalt unter Anwesenheit von Kindern zu tun hatte. Ich bin immer wieder erschüttert, welche Grausamkeiten das Faxgerät dort ausspuckt. Ich habe darüber keine Statistik geführt, aber gefühlt muss ich zu dem Ergebnis kommen, dass die genannten Werte bei uns noch weit übertroffen werden. Es sind fast nur Einwandererfamilien, bei denen die Polizei bei oder nach schweren Misshandlungen durch die Männer tätig werden muss.
Neben der familiären Gewalt und der gewaltdurchsetzten Erziehung ist ein weiteres Merkmal bei muslimischen Jugendlichen auffällig. Hierbei handelt es sich um den Ehrenkodex. In traditionellen und auch intellektuell kaum gebildeten muslimischen Elternhäusern spielen tradierte Rollenmuster nach wie vor eine dominierende Rolle. Die männliche Identität kennzeichnet der Begriff »Virilität«, also die Mannbarkeit und die Zeugungskraft, die in der Erziehung zu Kampfesmut, Tapferkeit, Stärke und selbstbewusstem Auftreten münden. Die weibliche Identität wird mit dem Schlüsselbegriff »Virginität«, also Jungfräulichkeit und Unberührtheit, versehen, der in der Erziehung Keuschheit, sexuelle Reinheit und Gehorsam gegenüber Ehemann, Eltern und Schwiegereltern als Ideale fordert.
Wenn man jungen Männern von klein auf immer wieder beibringt, dass sie selbstbewusst auftreten sollen, kampfesmutig und stark zu sein haben und dass die wichtigste Körperregion ihr Unterleib ist, dann muss man sich nicht darüber wundern, wenn sie ein entsprechendes Paschaverhalten an den Tag legen. Diese Gewalt legitimierende Machokultur begünstigt natürlich das Absenken der Skrupel, Gewalt gegen andere Menschen auszuüben. Befragt, was denn für sie Straßenkampf ist, antworten Jugendliche: »Wenn jemand meine Familie beleidigt oder meine Ehre.« Diese diffusen Vorstellungen von Ehre, Familie, Beleidigtwerden oder Benachteiligtsein sind in den Köpfen dieser jungen Leute schon allein die Rechtfertigung dafür, einen anderen Menschen niederzustechen, ihm mit Stiefeln ins Gesicht zu treten oder zu springen und damit seinen Tod billigend in Kauf zu nehmen.
»Wer zeigen will, dass er ein vollwertiger Mann ist, muss jemanden mit einem Messer verletzt haben«, sagt ein Polizeibeamter. Einen Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe in Bus oder U-Bahn zu schlagen oder zu treten, ist eine Mutprobe. Ein zweifelhafter Ritus, dem in Berlin täglich zwei Angestellte der BVG zum Opfer fallen. Als Anmerkung möchte ich nicht unerwähnt lassen, wie man diesem Spuk schnell ein Ende bereiten könnte. Für 30 Cent Aufschlag pro Fahrschein könnten 2000 Sicherheitskräfte mehr bei der BVG dafür sorgen, dass die Verkehrsmittel von jedem angstfrei benutzt werden können. Das wäre übrigens nichts aufregend Neues. In London bezahlen die Verkehrsunternehmen jährlich umgerechnet bis zu 190 Millionen Euro, damit 2000 Polizeikräfte im Bereich des Nahverkehrs für Sicherheit sorgen.
Zu welch verwirrten Gedanken dieses vordemokratische Erziehungsmuster bei jungen Männern führt, erklärt uns einer von ihnen auf die Frage, wie seine Zukunft aussehen soll, so: »Ich weiß es nicht, aber Gewalt wird immer eine Rolle in meinem Leben spielen.« Und was er werden will? »Vielleicht Kriminalkommissar oder Bodyguard. Irgendetwas, das mit Schlagen zu tun hat, und wo man viel Geld verdient.« Die Londoner Polizei macht sich diese kruden Gedanken zunutze. Ich erinnere an die Ausführungen zu den Volunteer Police Cadets in London.
Die wirtschaftliche Verelendung durch Arbeitslosigkeit und die mangelnden Möglichkeiten, den Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit selbst zu verdienen, führen zu einer stark eingeschränkten Liquidität der jungen Leute. Umgangssprachlich ausgedrückt, haben die Jugendlichen oder Heranwachsenden keine Kohle, um sich all das zu kaufen, was sie unbedingt haben wollen oder meinen, haben zu müssen. Das ärgert sie, und sie fühlen sich ausgeschlossen und diskriminiert. Andere, meist die verhassten Deutschen, haben vermeintlich all das, was sie nicht
haben. Das passt nicht in ihr Weltbild. Oft tritt zu ihrer materiellen Situation noch eine fundamentalistische Überreligiosität. Sie sind doch die besseren Menschen, und allein aus diesem Grund können sie ihre so empfundene Diskriminierung nicht hinnehmen. Ihre übermäßige, religiös fundierte Wertschätzung dieser Gewalt-»Kultur« ermächtigt sie dann zu dem, was wir Kriminalität nennen. Bei einem Streitgespräch mit dem Rapper Bushido erklärte mir dieser, dass die Jungs, über die ich hier rede, einen Finanzbedarf von 300 bis 500 Euro am Tag haben. Auf legale Art und Weise kommen sie niemals an solche Summen. Sozialneid und das Gefühl, von der Gesellschaft nicht gemocht zu werden, also ein unschuldiges Opfer zu sein, sind häufig die Grundlage für Suchtverhalten und eben auch für Kriminalität.
Nicht entscheidend, aber sicher verstärkend muss man zumindest einen kleinen Hinweis darauf verwenden, dass auch der Konsum von Brutalo-Filmen im Fernsehen und am Computer einen wesentlichen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und das Verhalten der Jugendlichen ausübt. In diesem Bereich ist davon auszugehen, dass türkischstämmige 10-Jährige durchschnittlich 210 Minuten täglich vor dem Bildschirm verbringen. Die Vergleichszahl für gleichaltrige deutsche Kinder beträgt 130 Minuten.
Zusammenfassen kann man die Risikofaktoren für Kriminalitätserscheinungen in den Einwanderercommunitys wie folgt: mangelnde Bildung, eigene Gewalterfahrung, Erziehungsstil der Machokultur, ständiger Geldmangel gepaart mit religiöser Selbsterhöhung. Kommen all diese Faktoren zusammen und hat das Wertegefüge unserer Gesellschaft – umschrieben mit Begriffen wie Disziplin, Fleiß, Ordnung, Rücksichtnahme, Toleranz und Respekt vor anderen – keinen Eingang in die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen gefunden, dann ist eine randständige Karriere recht wahrscheinlich.
Nach all seinen Studien und Forschungen kommt Prof. Pfeiffer zu dem Ergebnis, dass bei muslimischen Jugendlichen die Feindlichkeit gegenüber anderen Kulturkreisen und Verhaltensweisen oder Religionen wie zum Beispiel Deutschen, Homosexuellen oder Juden am stärksten ausgeprägt ist. Diese herbe Aussage wird den Muslimen nicht gefallen. Aber auch meine Erfahrungen in den letzten 20 Jahren bestätigen im Ganzen diese Sicht. Gerade die, die am lautesten nach Akzeptanz, nach Respekt und nach Toleranz rufen, sind diejenigen, die den niedrigsten Vorrat an diesen Kompetenzen aufweisen können. Prof. Pfeiffer kommt im Übrigen zu dem Ergebnis, dass die wirksamste Gegenmaßnahme gegen all diese Integrationshemmnisse im Bereich der Kriminalität ein möglichst frühes und langes gemeinsames Aufwachsen, Lernen und Miteinanderleben der kommenden Generationen wäre. Er spricht sich deshalb vehement für eine Vernetzung der Menschen im Alltag aus. Nur eine wie auch immer geartete Form der Durchmischung könne für das Aufbrechen der Barrieren sorgen. Leider kann ich ihm an dieser Stelle nicht folgen. Nicht, weil ich inhaltlich anderer Auffassung wäre, aber eine Bevölkerungsmischung wiederherstellen zu wollen ist Utopie. Die Segregation der Stadtquartiere ist aus meiner Sicht irreversibel. Die Durchmischung ist Geschichte, die bildungsaffinen Familien werden nicht zurückkommen. Wir müssen uns damit abfinden, dass sich geschlossene Stadtlagen entwickelt haben, in denen sich einzelne Ethnien selbst organisieren und auch ihr eigenes Dorf wiederauferstehen lassen. Parallelgesellschaften eben.
In jüngster Zeit mussten wir uns immer stärker mit der Erscheinungsform der Kinderkriminalität auseinandersetzen. In Berlin zählen wir pro Jahr etwa 5100 Kinder zwischen 12 und 14 Jahren, die Straftaten begehen. Schon unter den 8- bis unter 12-Jährigen sind es mehr als 2000. Knapp 50 Kinder gelten in Berlin bereits als Intensivtäter. Das kann im Einzelfall an der persönlichen Entwicklung und den Lebensumständen liegen. Leider haben wir aber auch den Eindruck, dass in verschiedenen Familien Kinder planmäßig zur Kriminalität erzogen und ausgebildet werden. Das ist wohl traditionell ein Markenzeichen von durchziehenden Banden aus Südosteuropa. Aber nicht nur. Teile der organisierten Kriminalität machen sich bewusst die Strafmündigkeitsgrenze von 14 Jahren zunutze: Wird ein Kind unter 14 Jahren bei einer Straftat erwischt, nimmt es die Polizei in Gewahrsam. Routiniert holt das Kind einen Zettel mit einer
Telefonnummer aus der Tasche. Auf den Anruf der Polizei, dass sich das Kind bei ihr befindet, kommt jemand und holt es wortlos ab. Dieser Vorgang kann sich durchaus in einem kurzen Zeitraum mehrfach wiederholen. Deutlicher kann man uns die Grenzen des Rechtsstaats nicht aufzeigen.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #27 on: November 04, 2012, 09:21:06 am »
Eine Besonderheit waren in Berlin vor etwa zwei Jahren sogenannte Kinderdealer. Diese erklärten im Falle der Festnahme, sie seien unter 14 Jahren und müssten deshalb wieder laufen gelassen werden. Von Statur und Aussehen war ihnen die Aussage nicht zu widerlegen. Es entwickelte sich eine heftige öffentliche Diskussion, wie lange Polizei, Justiz und Politik bräuchten, um überhaupt eine Möglichkeit zu schaffen, diese »Kinder« medizinisch untersuchen zu lassen. Die Wehrhaftigkeit unseres Rechtssystems wurde tatsächlich massiv der Lächerlichkeit preisgegeben. Insider der Szene wussten damals längst, dass es sich nicht um Kinder handelte. Es waren Angehörige eines besonders kleinwüchsigen Stammes aus dem arabischen Raum, die von Berliner Clans für den Drogenhandel eingekauft und importiert worden waren. Davor hatte es eine solche Masche schon einmal mit zierlichen Menschen aus Südosteuropa gegeben. Als es routinierte Untersuchungen und Nachweise des natürlich viel höheren Lebensalters gab, war der Spuk recht bald vorbei. Gleichwohl ist es ein gutes Beispiel dafür, wie ideenreich bestimmte Bevölkerungsgruppen unsere staatlichen Institutionen quasi an den Rand der Handlungsunfähigkeit führen können. Einen Rechtsstaat auszutricksen ist nicht allzu schwer. Insbesondere dann nicht, wenn er auch noch nur zögerlich mit seinen eigenen Instrumenten umgeht.
Angesichts der zunehmenden Brutalität herrscht bei den Fachleuten wenn nicht Hilflosigkeit, dann zumindest Ratlosigkeit. Die Aspekte der täglichen Gewöhnung an Gewalt, das Heranzüchten von kleinen Paschas, die das Gefühl überhaupt nicht kennen, in die Verantwortung genommen zu werden, der Väter, die selbst das Geld aus öffentlichen Kassen nicht für ihre Kinder ausgeben, sondern es verspielen, bis zu der Frage, wie selbst junge Menschen schon so verrohen können, bauen ein schier unüberwindliches Bollwerk auf. In der Jugendgerichtshilfe und vor Gericht sitzen brutalste Täter, vergießen Tränen und bemitleiden sich selbst: wie schlecht sie es haben, wie gemein die Welt zu ihnen ist und dass an ihrer Lage nur die Gesellschaft schuld sei. Die Eltern sind fassungslos, sagen, dass sie für ihren Sohn alles getan hätten, er nur in schlechte Gesellschaft gekommen sei, und die Polizei habe ihn auf dem Kieker gehabt. Es kann aber auch sein, dass sie vor dem Richter sitzen und lachen, ja, selbst im Gerichtssaal ihre Opfer noch verhöhnen. Mitleid und Empathie für die Opfer ist etwas, was sie nicht kennen. Es interessiert sie auch nicht, was aus dem Opfer geworden ist oder noch wird. Selbstkritisch muss man wohl anfügen: Sie sind Produkte einer Gesellschaft, die sich eben um junge Leute in prekären Lebenslagen nicht wirklich kümmert, die ihnen nichts abverlangt und die darauf setzt, dass sich schon alles irgendwie zurechtruckelt.
»Intensivtäter kann man nur in den Knast stecken.« Das ist eine harte Aussage, aber im Interesse der Integration und im Interesse des sozialen Friedens im Quartier bleibt nichts anders übrig. Solche Worte von einem Sozialarbeiter oder einem Jugendrichter zu hören ist schon bemerkenswert. Eine weitere Entwicklung muss uns Sorge machen. Unsere Jugendrichter sagen, eigentlich hätten sie es fast nur noch mit den Eierdieben am Rande der organisierten Kriminalität zu tun. Dort, wo wirklich »die Post abgeht«, in den Clans, in der professionellen Unterwelt, da herrscht Schweigen. Auch vor Gericht. Jeder weiß, dass es ihm schlecht ergeht, wenn er den Mund aufmacht. Deswegen bleibt der zu. Da ist etwas entstanden, was mit unserer Werteordnung nichts zu tun hat.
Das ist nicht nur die alleinige Erkenntniswelt eines Bürgermeisters. Die, die tagtäglich mit diesen selbstgezimmerten Rechtfertigungen einer Randgesellschaft konfrontiert werden, sind in ihren Wertungen unmissverständlich. Nachstehend gebe ich Ihnen einen Einblick in meine Gespräche mit verschiedenen Jugendrichtern:
»Nein, vor Gericht öffnen sich die Jugendlichen nicht. Sie präsentieren meist nur dumme und faule Ausreden. Sie wollen nur alles ganz schnell hinter sich bringen. Die Erinnerung an das Opfer stört. Es war doch selbst schuld, warum war es auch gerade da an diesem Ort?«»Das Problem bei meiner
›Kundschaft‹ ist, dass es in diesen Familien keine Bildungsideale gibt, keinen Willen zum sozialen Aufstieg durch Bildung. Meine jungen Leute haben völlig unrealistische Vorstellungen über ihre Zukunft. Sie wollen alle Profifußballer werden oder Polizeibeamte. Sie wissen einfach nichts mit ihrem Leben anzufangen.«»Es macht mir wirklich Sorgen, dass in Berlin eine ganze Generation von Kindern aufwächst, die es zu nichts bringen wird. Sie haben nichts gelernt. Gar nichts. Sie werden ihr ganzes Leben lang auf staatliche Transferleistungen angewiesen sein, weil sie kaum lesen und schreiben können. Sie wissen gar nicht, wie es sich anfühlt, sich für etwas anzustrengen, richtig reinzuhängen und darauf dann stolz zu sein. Sie haben kein Selbstwertgefühl und verkraften nicht den kleinsten Rückschlag. Die winzigste Kränkung lässt sie ausrasten, sie sind angefüllt von Frustrationen und Missgunst über den Erfolg anderer und kriegen selbst nichts hin. Sie verfügen weder über Erfahrungsschätze noch Ziele, die ihnen Halt geben könnten. Aber sie haben bei uns eines von Anfang an gelernt: dass man für seinen Lebensunterhalt nichts tun muss.«»Als Richter bin ich sehr beglückt, wenn ich Hartz-IV-Bescheide sehe, die höher sind als mein Gehalt. Ja, und wie verrückt muss eine Gesellschaft eigentlich sein, die noch Kindergeld für Kinder zahlt, die andere halb totgeschlagen haben und im Knast sitzen?«»Die Episodenkriminalität ist nach meiner Auffassung auf dem Rückmarsch. Die, die wir allzu häufig wiedersehen, sind nicht nur zu viele, es werden auch nicht weniger. Warum bekannte Familien keinen permanenten Fahndungsdruck spüren, wieso wir sie mit dicken Autos durch die Straßen donnern lassen, obwohl sie Hartz-IV beziehen, erschließt sich auch mir als Richter nicht. Da ist doch ein Anfangsverdacht gegeben, mit dem man die Autos beschlagnahmen kann. Man muss diesen Familien das Leben schwerer machen. Das ist kein Generalverdacht über alle Einwanderer, das ist ein Schutz für Einwanderer, die eine tatsächliche Bereicherung für unser Land darstellen.«»Aber was ist die Realität? Ich sehe fünf vietnamesische Zigarettenhändler an einer Ecke stehen und gegenüber ein Polizeiauto. Ich gehe hin und frage: ›Warum unternehmen Sie nichts?‹ Die Antwort lautet: ›Wenn wir aussteigen, dann sind die doch weg.‹ Die Polizei schaut also tatenlos zu, wie Straftaten geschehen. Damit untergraben wir die Regeltreue der Mehrheit unserer Bevölkerung. Daneben müssen wir feststellen, dass unser Rechtsstaat mit seinen Regeln und auch seiner Justiz in einige vor allem arabisch geprägte Milieus nicht hineinreicht, seine Rechtsordnung gilt dort nicht wirklich, wird jedenfalls nicht durchgesetzt. Kommt von dort dann ein Fall zu uns, können wir gegen Absprachen und Schweigen nichts machen.«»Wir brauchen eine Ausländerpolitik, die ehrlich geführt wird, und nicht eine, die über Jahre alles schleifen lässt und damit massenhaft Härtefälle produziert. Ich habe in einem Bezirk jahrelang an einem Konzept zur Jugendkriminalität mitgearbeitet. Irgendwann, als wir glaubten, etwas Gutes vollbracht zu haben, kam der Datenschutz, und wir schmissen alles in den Papierkorb. Die eine Dienststelle darf nicht erfahren, was die andere macht. Das ist doch völlig krank. Niemand darf etwas voneinander erfahren, alles bleibt im Gestrüpp des Datenschutzes hängen.Der dickste Abschnitt im Jugendstrafvollzugsgesetz ist der Datenschutz. Ich will eine Geschichte erzählen von einer Mutter, die als Analphabetin weder lesen noch schreiben konnte. Ihr Sohn schwänzte immer die Schule. Das Amt schrieb ihr Brief auf Brief, Bußgeldbescheid auf Bußgeldbescheid. Es dauerte bis zum 14. Lebensjahr ihres Sohnes, bis die Polizei kam und ihn zur Schule brachte. Das waren acht Jahre sinnlosen Behördenschlafs.« Ich denke, es muss uns aufrütteln, wenn Menschen, die den jungen Leuten zugewandt sind, solche harten wie auch bitteren Worte finden. Wir können auf zwei Arten darauf reagieren. Wir können versuchen, daraus zu lernen und die Verhältnisse, die die Entwicklung begünstigen, zu verändern. Oder wir können sie diskreditierend abwürgen. Das erste wäre der anstrengendere Weg, das zweite der übliche.
Die Schwestern der Streetfighter sind lebenstüchtig und ehrgeizig. Warum sind ihre Brüder so anders? Hierauf gibt es eine schöne Antwort. »Lernen ist wie Puppen anziehen, lernen ist schwul.« Da ist es wieder, das Merkmal Pascha. Bei dieser Denkart bleibt keine Alternative zum Umhauen eines anderen. »Deutet denn wenigstens die sinkende Jugendkriminalität auf eine Veränderung der Verhältnisse hin?«, wollte ich wissen. Da war bei allen meinen Gesprächspartnern
deutliche Zurückhaltung: »Es kann auch daran liegen, dass wir neben dem Geburtenrückgang auch einen Anzeigenrückgang haben.« Man könne heute den Jugendlichen nicht ernsthaft raten, Anzeige zu erstatten. Sie können als Zeugen nicht geschützt werden. Und sie haben keine Großfamilie im Hintergrund, keinen siebten, achten und neunten Cousin, der sie schützen und für sie »mal etwas klarmachen« kann. Sie haben auch keine Familien, die sich untereinander Alibis verkaufen, sich absprechen und alles über den Friedensrichter regeln. Und sie begegnen ihren Drangsalierern jeden Tag wieder auf dem Schulweg, im Bus und auf dem Bolzplatz. Was bleibt ihnen? Die jungen Leute weichen aus, im Alltag und bei der Polizei. Und was können wir tun?
Eine Antwort auf diese Frage lautete: Jugendrichterin Kirsten Heisig. Sie wollte sich partout nicht mit der traditionellen Rolle der Justiz abgeben. Wir Richter sind nicht das hilflose letzte Glied in der Kette, das nur noch über Geschehenes zu urteilen hat, ohne einen Einfluss auf die Entwicklung nehmen zu können. Auch wir tragen Verantwortung dafür, ob junge Menschen immer wieder vor uns stehen und abgeurteilt werden müssen oder ob sie doch noch den Weg in ein normales Leben finden. Das waren ihre Gedanken und ihre Triebfeder, über die man nächtelang mit ihr diskutieren konnte. Wenn sie am frühen Nachmittag die Robe auszog, stand sie eine Stunde später in Neukölln auf der Matte: Sie stellte sich den jungen Leuten und organisierte Gesprächsabende mit türkischen und arabischen Eltern. »Ich will eure Jungs nicht ins Gefängnis stecken, und wenn ihr es auch nicht wollt, müsst ihr mir helfen«, rief sie im Rathaus den Eltern zu. Sie bildete Polizeibeamte fort und war ein Wirbelwind in der Berliner Jugendgerichtsbarkeit.
Leicht wurde es ihr nicht gemacht. Aber sie war vor Ort ein Idol. Sie gab Menschen Kraft, und sie zeigte, dass sie bereit war, mit hartem, gutem Beispiel voranzugehen. Sie war weiß Gott keine Heilige. Der Fußball und ein Glas Bier passten genauso gut zu ihr wie ihr Engagement für die jungen Leute. Dabei half ihr ihr übersprudelndes Temperament. In ihrer gefühlten Rolle als Sozialarbeiterin und ihrer Profession der gefürchteten »Richterin Gnadenlos«. Wer sie wie ich kannte, konnte über diese Bezeichnung nur lachen. Obwohl, wer nicht hören wollte, ganz schnell einfuhr. Und wer das Bußgeld fürs Schulschwänzen angeblich nicht bezahlen konnte, der fing sich schon mal einen Haftbefehl ein.
Ihr tragischer Tod war für mich ein Tiefschlag. Ich hätte sie gerne weiter als meine Ratgeberin zur Seite gehabt. Das Leben hat die Geschichte leider anders zu Ende erzählt.
Ihr Credo ist geblieben. Kirsten Heisig forderte: früher, schneller, konsequenter eingreifen. Sie schuf das Neuköllner Modell: Straftaten mit einfacher Beweislage (wenn also entweder ein Geständnis vorliegt oder das Gericht maximal drei Zeugen benötigt), bei denen höchstens ein Monat Jugendarrest zu erwarten ist, werden innerhalb von drei Wochen zum Abschluss gebracht. Sie hat mit aller Kraft dafür gekämpft, aber ist ihr wirklich der Durchbruch gelungen? Ja, formal schon. In Berlin ist das Neuköllner Modell inzwischen stadtweit eingeführt. Im Jahre 2008 wurden 61 Fälle nach diesem Modell abgearbeitet. Im Jahr 2009 dann 87 Fälle, 123 im Jahre 2010 und 57 in 2011. Zur Erinnerung, wir hatten 2660 Jugendstraftaten in Neukölln in 2011. Also gerade 2 % aller Vorfälle haben den Weg ins Neuköllner Modell gefunden. Außenstehenden mag das wenig erscheinen. Aber meine Gesprächspartner sind dennoch nicht unzufrieden. Sie verweisen darauf, dass es auch bei der Diversion, also der Erledigung eines Verfahrens ohne richterliche Beteiligung, mehrere Jahre gedauert hat, bis sie Routine im polizeilichen Alltag wurde. Die Schulungen für die Polizei laufen weiter. Richter werden sogar von Rechtssprechungsaufgaben freigestellt, um Polizisten fit zu machen für das Neuköllner Modell. Vor allem aber sehen die Fachkräfte seinen Vorteil darin, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht mehr übereinander, sondern miteinander reden – und das am konkreten Fall.
Früher gab es in den Polizeiabschnitten Jugendsachbearbeiter. Das waren Beamte, die nur auf Vorgänge mit und um Jugendliche spezialisiert waren. Diese Funktion ist dem Allzuständigkeitsprinzip zum Opfer gefallen. Kirsten Heisig wollte, dass sie wieder eingeführt wird. Ich glaube auch, dass es sinnvoll wäre, so zu handeln. Sie hat es nicht mehr erlebt. Im Moment
scheint es aber so, als gäbe es bald wieder zumindest einen »Jugendsachbearbeiter light«. Jemanden, der diese Aufgabe mit übernimmt. Besser als gar nichts.
Auch einen zweiten Kampf hat Kirsten Heisig nicht siegreich beenden können: die Regionalisierung der Staatsanwaltschaft. Wie in Rotterdam sollte es örtlich zuständige Staatsanwälte geben, die ihre Klientel und deren soziales Umfeld kennen und möglichst auch vor Ort im Bezirk arbeiten. Doch dagegen wehrt sich die Berliner Staatsanwaltschaft bis heute erfolgreich mit Händen und Füßen. Die Staatsanwälte wollen nicht weg aus ihren Gemäuern. Sie wollen den Schutz der Herde nicht aufgeben, um vor Ort transparent und nachprüfbar zu sein. Und sie wollen auch nicht weg von der Zuordnung nach Buchstaben oder Eingängen. Sie wollen einfach nicht regionalisiert werden. Und damit schneller wohl auch nicht. Die Erfahrungen aus Rotterdam und Tilburg lehren uns, dass das keine schlaue Haltung ist. Aber bequem ist sie schon.
Weil die Zahl der Straftaten rückläufig ist, gehen natürlich auch weniger Fälle beim Jugendgericht in Berlin ein. Man nutzte aber diesen Rückgang nicht dazu, die Dauer der Verfahren zu verkürzen, sondern vielmehr dazu, vier Jugendrichter abzuziehen und sie an anderer Stelle einzusetzen. So kommt es, dass es trotz zurückgehender Fallzahlen immer noch rund vier Monate dauert, bis ein Fall vor Gericht abgeschlossen werden kann. Unbefriedigend, aber wieder ein kleines Lehrstück zum Thema Übereinstimmen von Worten und Taten in der Politik. Hieß es früher »Für mehr Richter haben wir kein Geld«, so heißt es heute »Wir brauchen die Richter woanders dringender«. Aber weinten nicht alle vor kurzem noch Krokodilstränen und beschworen die Bedeutung der Verkürzung der Verfahrensdauer? Was schert mich mein Geschwätz von gestern …
Doch zurück zur Praxis. Vor Gericht gegen die eigene Community auszusagen, wäre für Täter, Mittäter und Mitwisser extrem gefährlich. Die eigene Familie würde es nicht billigen, weil es Stress mit einer anderen Großfamilie bedeutet und weil man den Deutschen auch vor Gericht keinen Einblick in die Gesetze der Ethnie gewähren will. So etwas regeln wir unter uns, lautet der Grundsatz. Die Deutschen sind das Feindbild. Sie sind schwach, sie sind Weicheier, sie haben niemanden, der sie beschützt und der für sie kämpft. Der Knast hat kein Drohpotential. Da war mein Bruder, da war mein Vater, schon der Großvater. Dort, wo Gefängnis nicht als schlimm empfunden wird, hat Strafe ihre Abschreckung verloren. Wenn der, der aus dem Knast kommt, der Star ist, man ihm ein Auto schenkt, ja, warum soll er dann mit seinem Schicksal hadern?
Diese Verhaltensweisen schlagen sich natürlich auch auf dem Stimmungsbarometer nieder. In einer Studie erklärten rund 25 % der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, dass sie schon einmal bewusst einen Deutschen beschimpft haben, und 5 % sogar, einen Deutschen geschlagen zu haben. Bei einer anderen Erhebung zeigte sich, dass 19 % der bio-deutschen männlichen Jugendlichen sich in ihren Äußerungen als sehr ausländerfeindlich präsentierten. Ein deutlicher Beleg dafür, dass die Abneigung steigt. Man sieht Bilder vor dem geistigen Auge, die an amerikanische oder britische Städte erinnern. Separierte Stadtviertel und abgeschottete Lebenswelten sind dann an der Tagesordnung. Die Idee und die Vision der integrierten Stadtlagen wären damit nicht mehr ein erreichbares politisches Ziel. Das entspricht meinem Eindruck bei dem Besuch in London.
Auch wenn ich es mir im Moment nur schwer vorstellen kann, so muss ich doch zur Kenntnis nehmen, dass es ernstzunehmende Menschen gibt, die durchmischte Stadtlagen vom Grundsatz her nicht für erstrebenswert halten. Für den französischen Wissenschaftler Gilles Kepel bedeutet Multikulturalismus nichts anderes als die strikt getrennte Entwicklung verschiedener Bevölkerungsgruppen. Er sagt dazu Apartheid. Und der Bischof von Rochester stellt fest, dass es Gegenden in Großbritannien gibt, in denen Nicht-Muslime nur schwer leben und arbeiten könnten, weil dort Feindseligkeit anderen gegenüber herrsche. Die Äußerung unterscheidet sich inhaltlich nicht sehr von Herrn Kepel.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #28 on: November 04, 2012, 09:22:00 am »
Aber inzwischen besteht unter Fachleuten Einigkeit, dass sich in der bio-deutschen Jugend Veränderungen vollziehen. Vermehrt sind Stimmen zu vernehmen, sich nicht mehr alles gefallen zu
lassen. Die treibenden Kräfte im Hintergrund sind junge Frauen. Sie sind es leid, sich permanent sexueller Anmache und sexuellen Angriffen in Bus und Bahn ausgesetzt zu sehen. Sie finden die Frage nach Interesse an einem Fortpflanzungsvorgang, gekleidet in die Kurzformel des Straßenjargons »Willst du gefickt werden?« weder als schmeichelnd oder angemessen, noch wollen sie das Angebot annehmen. Ich kann diese Stimmungslage bestätigen. Bei Diskussionen mit Schülern zwischen 15 und 20 Jahren registriere ich immer häufiger eine Trotzhaltung. Aber Gegengewalt ist keine Lösung, sondern führt nur dazu, dass sich die Spirale weiter dreht. Das ist schon deshalb ein Irrweg, weil die deutschstämmigen Jugendlichen niemals den bedingungslosen Organisationsgrad der Einwandererjugendlichen erreichen werden. Ihnen fehlt nicht nur die rekrutierbare Masse, sondern auch der Hass auf alles als Triebfeder. Aber selbst wenn es anders wäre, darf die »West Side Story« nicht zum politischen Programm werden.
Irritiert hat mich, dass Vertreter der Justiz die Forderung erheben, der Staat müsse Stärke zeigen. Sind sie es nicht, die es in der Hand haben, ihre eigene Forderung auch in die Realität umzusetzen? Schlagworte wie »Opportunität« und »ethnische Rabatte« machen dann schnell die Runde. Im Jugendamt überlegt man, ob das Risiko gerechtfertigt ist, ein Kind aus einer Clanfamilie herauszuholen. Wer schützt dann die Sozialarbeiterin oder den Sozialarbeiter? Wir haben in Neukölln unsere Erfahrungen mit Mitarbeitern, die zusammengeschlagen oder zusammengetreten wurden, weil sie der Familie nicht preisgeben wollten, in welchem Heim das Kind untergebracht ist. Oder mit Sozialarbeitern, die in der Sprechstunde malträtiert, beim Hausbesuch aus der Wohnung geworfen und mit dem Messer über die Straße gejagt wurden. Da wird das Postulat, der Staat müsse Stärke zeigen, es dürfe keine rechtsfreien Räume geben, schnell zur Worthülse.
Es gibt sie längst, die rechtsfreien Räume. Und bis zu einem gewissen Grad verstehe ich sogar, wenn ein Funkwagen an Verkehrsordnungswidrigkeiten vorbeifährt, als hätte er nichts gesehen. Wenn ältere Menschen, die sich über Lärmbelästigungen unter ihrem Fenster beschweren, zu hören bekommen, dass man wegen zehn debattierender Menschen nicht mit einer Hundertschaft anrücken könne. Oder wenn illegale Partys und Kundgebungen geduldet werden, »um eine Eskalation zu vermeiden«. Man kann nicht jedes Mal eine Straßenschlacht beginnen, wenn drei Autos falsch geparkt sind oder fünf Familien grillen oder zehn Jugendliche über den Zaun geklettert sind, um auf dem Sportplatz Fußball zu spielen. Man nennt das die normative Kraft des Faktischen. Nur, wo ist die Grenze? Wann ist die Linie überschritten, an der die Missachtung der gesellschaftlichen Normen nicht mehr toleriert werden kann?
Polizeihauptkommissar Karlheinz Gaertner sagte mir, er würde bei einem beruflichen Neustart in Neukölln weder als Lehrer noch als Polizist arbeiten wollen. Die Ausführung der Gesetze, vor allem aber das Strafmaß entspreche nicht mehr dem, was er einmal gelernt habe und was er sich unter Gerechtigkeit vorstelle. »Ich habe Tausende von Straftätern festgenommen und Hunderte von Wohnungen durchsucht. Allein eine Person aus einer Großfamilie habe ich zwölfmal festgenommen. Ich stand dann vor 14 Verteidigern für sieben Angeklagte, von denen nicht einer einen einzigen Tag gearbeitet hatte. Aber sie waren wirtschaftlich voll integriert. Es mangelte ihnen an nichts. Ich bin beschimpft und bedroht worden. Den Richter hat es nicht weiter interessiert.« Man hört Resignation in seiner Stimme, wenn er von Kollegen berichtet, die sich vor der Gerichtsverhandlung mit Medikamenten beruhigten, um dieser nervlich gewachsen zu sein. Und wenn er zu dem Schluss kommt, dass es für Polizisten nicht leicht ist, in einer freien, toleranten und defensiven Gesellschaft dem Gesetz Achtung zu verschaffen und es durchzusetzen.
Es ist einfach so, dass Bevölkerungsschichten entstanden sind, die keinerlei Interesse daran haben, sich in diese Gesellschaft zu integrieren. Sie akzeptieren staatliche Repräsentanten und Institutionen in keinster Form und werden das auch künftig nicht tun. Davon können alle ein Lied singen, die in Uniform ihre Arbeit leisten, egal, ob Polizisten, Ordnungsamtsmitarbeiter, Feuerwehrleute, Sanitäter, Soldaten, Bus- und Bahnpersonal oder Behörden- und Krankenhausmitarbeiter. Jeder, der in irgendeiner Form die deutsche Gesellschaft sichtbar
repräsentiert, wird zum Ziel von Aggressionen.
In Neukölln betrifft das insbesondere die arabischen Großclans, die zu einem erheblichen Anteil in die organisierte Kriminalität verstrickt sind oder sie auch darstellen. 7 % der Neuköllner Bevölkerung sind arabischer Herkunft, aber 49 % unserer jugendlichen Serienstraftäter tragen arabische Namen. Nach meiner Einschätzung ist ein großer Teil dieser Familien nicht besonders religiös. Dieses Erklärungsmuster greift nicht. Die Clans sind eher mit Revierauseinandersetzungen und dem Aufbau und Erhalt mafiöser Strukturen beschäftigt.
Der normale Bürger merkt manchmal gar nicht mehr, in welchen Netzwerken er sich bewegt. So eng sind die Verbindungen zwischen Lokalen, Shisha-Bars, Spielcasinos, Wettbüros, Schnellimbissen sowie Türstehern, ****, Mädchen- und Drogenhandel inzwischen geknüpft. Immer mehr Grundstücke, Wohn- und Geschäftshäuser werden direkt oder über Strohleute erworben. Moscheen werden großzügig finanziert. Von allem geht eine einzige Botschaft aus: Die Macht haben wir.
Mieter werden nach dem Hauserwerb unter Gewaltandrohungen vertrieben, in Schulen werden die Sekretariate laut schreiend besetzt, um irgendwelche vermeintlichen Rechte durchzusetzen, die Benotung einer Arbeit zu verändern oder sich über das rassistische Verhalten der Lehrerin zu beschweren. In der Neuköllner Klinik wusste man sich ob der unangemessenen und Gewalt androhenden Auftritte nicht mehr anders zu helfen, als die Notaufnahme mit Wachschützern zu sichern. Über eine Ausweitung auf die Kinderklinik wird derzeit nachgedacht.
Es sind die permanent fordernden und Angst einflößenden Auftritte, die zu Abschottungsverhalten führen. Das Verhalten der Erwachsenen wird von den Kindern kopiert. Sie machen einfach das nach, was sie beim Vater, Onkel, Bruder und Cousin sehen. So ist es keine Seltenheit, dass Kinder unter zehn Jahren zu einem ausgesprochenen Problem im Wohnviertel werden. Die Bewohnerschaft schweigt zumeist. Jeder weiß, dass hinter den Kindern eine große Familie steht und man richtig Ärger bekommen kann, wenn man sich mit den Dreikäsehochs wegen eines Ladendiebstahls, einer Sachbeschädigung oder sogar auch wegen tätlicher Angriffe auseinandersetzt.
Einige Beispiele sollen die Ausführungen nachvollziehbar machen. Zwei 14-jährige Mädchen geraten in der Schule in einen Streit. Die eine ruft ihre Familie per Handy zu Hilfe. Auf dem Nachhauseweg wird das andere Mädchen überfallen, zu Boden geschlagen, und eine erwachsene Frau tritt ihr mit dem Absatz ins Gesicht. In dem anderen Fall sticht ein 13-Jähriger einem Gleichaltrigen mit dem Messer ins Bein. Die Mutter verteidigt ihren Sohn mit dem Hinweis, dass der andere Junge ihn wütend gemacht habe, weil er nicht mit ihm reden wollte.
Zwei als verfeindet bekannte Clan-Chefs sitzen im Hinterzimmer einer Shisha-Bar und verhandeln irgendetwas. Der eine hat eine Schussverletzung am Bein. Eine Anzeige gab es nicht. Offensichtlich wurde gerade der Ausgleich für die erlittene Verletzung gesucht. Zwei andere Clan-Chefs geraten in Streit miteinander, und sie schießen die Sache gemeinsam mit anderen Familienangehörigen auf der Straße aus. 60 Projektile fand die Polizei in Hauswänden und Autos. In der Gerichtsverhandlung konnte sich niemand mehr an den Vorfall erinnern. Alle nahmen ihre Freisprüche entgegen und gingen ihrer Wege.
Wegen eines Parkknöllchens greift ein arabischstämmiger Mann den Mitarbeiter des Ordnungsamtes tätlich an. Bei der darauf folgenden Verhandlung vor Gericht bedroht er ihn erneut: Er lässt ihm ausrichten, dass er die gesamte Familie des Mitarbeiters auslöschen lassen wird, wenn dieser ihn belastet und er verurteilt wird. Er schwört es bei Allah, dem Koran und seinem ältesten Sohn. Der Mann ist vor 20 Jahren als Asylbewerber nach Deutschland gekommen, bringt es auf eine erkleckliche Anzahl von Straftaten, taucht hin und wieder unter oder sitzt auch ein. Er erhält öffentliche Unterstützung und fährt Mercedes. Jemand, der in unserer Gesellschaft Schutz vor eigener Bedrohung sucht, bedroht hier seinerseits andere mit dem Tod. Wir alimentieren ihn, und er tritt – nicht nur – unsere Gesetze mit Füßen.
Ich könnte seitenweise so fortfahren. Andere könnten sie aus ihren Städten ergänzen. Ich habe die Fälle aufgelistet, um die Haltung des zitierten Polizeibeamten verständlich zu machen. Wenn die Polizisten, die bei uns jeden Tag ihre Haut zu Markte tragen, feststellen müssen, dass sie wenige Wochen später vor demselben Täter stehen, weil wieder nichts passiert ist, dann verlieren sie Lust und Elan. Wenn man eine defensive Gesellschaft des alles verzeihenden und zurückgezogenen Staates will, darf man hinterher nicht nach mehr Sicherheit rufen oder bei eigener Betroffenheit klagen. Ich weiß nicht, wie viele versuchte Gefangenenbefreiungen es in den letzten Jahren in Neukölln gegeben hat. Es waren aber bestimmt nicht wenige. Diese Aktionen sind ein deutliches Zeichen dafür, dass die Autorität und das Gewaltmonopol des Staates in bestimmten Einwanderercommunitys nicht akzeptiert und mehr als in Frage gestellt wird.
Polizeihauptkommissar Karlheinz Gaertner holt noch einmal tief Luft: »Für uns als Polizeibeamte ist es inzwischen völlig normal, beleidigt zu werden. Aus Sicht unserer Klientel darf man das auch, denn Deutsche haben keine Ehre. Ungefähr 70 % meiner Kollegen haben Gewalt gegen sich erlebt. Auch mein Sohn ist schon überfallen worden. Meine Kinder fahren deswegen nicht mehr U-Bahn. Sie wären der klassische Opfertyp, noch vor der deutschen Oma.«
Es war viel Verbitterung in diesem Gespräch. Auf meine Frage, wie man denn dieser Situation begegnen sollte, lautete die Antwort: »Die Welt ist so, wie sie ist. Aber es gibt zwei Dinge, die unsere Arbeit extrem behindern. Erstens, dass niemand diesem Milieu ans Geld geht und die Gesellschaft immer noch mehr Geld in dieses System hineinpumpt, und zweitens, dass wir einen Täterschutz haben, der Datenschutz heißt. Die Gesellschaft ernährt und beschützt diese Kreise.« – »Woher kommt das Geld für die schweren Autos?«, fragte ich. »Fahren Sie um Mitternacht durch Neukölln, schauen Sie sich die geöffneten leeren Geschäfte an mit drei, vier Leuten Personal. Da wird in vielen Fällen Geld gewaschen. Die Einnahmen aus dem Drogen- und Mädchenhandel oder was auch immer wandern so in den Wirtschaftskreislauf und mehren das offizielle Vermögen. Es landet in Luxusartikeln, teuren Autos und Immobilien hier oder in der ursprünglichen Heimat.«
Ich habe den Schwerpunkt in diesem Kapitel auf den Aspekt der Jugendkriminalität gelegt. Wenn wir in die Zukunft schauen, ist die Jugenddelinquenz auch bedeutsamer für die Gesellschaft als das, was die Alten treiben. Neben Bildungsferne, Arbeitslosigkeit und sedierendem Sozialstaat ist das die vierte Säule, die die Integration tragen oder zusammenbrechen lassen kann. Ich habe versucht darzustellen, was Menschen auseinandertreibt und Stadtlagen veröden lässt.
Kriminalität ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Es gab sie immer, und es wird sie immer geben. In einer Großstadt ist sie fast Normalität. Das ist nicht schön, aber Fakt. Allerdings geht sie bei uns schon über das Normalmaß, was jeder auch darunter verstehen mag, weit hinaus. Dass in einem Monat im Frühjahr 2012 vier Menschen grundlos oder aus nichtigem Grund niedergestochen wurden, dass ein junger Türke auf der Straße niedergeknallt und ein arabischer junger Mann bei einer sinnlosen Rangelei durch einen Messerstich tödlich verletzt wird, dass sich zwei Großfamilien zu fünfzigst eine Massenschlägerei gönnen, dass zwei Familien sich eine Schießerei auf offener Straße liefern, es dürfte eigentlich jedem einleuchten, dass solche Verhältnisse den Fortzugsgedanken näher rücken lassen. Wir können die Zahl der Sozialprojekte verdoppeln oder verzehnfachen: Bleibt das Lebensumfeld weiterhin so unakzeptabel und fühlt sich darüber hinaus die Bevölkerung auch noch unsicher, dann wird es immer wieder Möbelwagen bei uns geben.
Unsere Kindertagesstätten
Immer wenn mich die Lust packt, wieder einmal eine Lehrstunde im täglichen Neuköllner Leben zu nehmen, besuche ich eine Kindertagesstätte oder eine Grundschule. Nicht nur, dass diese beiden Institutionen am dichtesten an den Familien dran sind, hier arbeiten normalerweise auch die fittesten Kräfte des öffentlichen Erziehungsangebots. Die menschliche Bandbreite immer einbezogen. Will man wissen, was sich im Gebiet tut, verändert und worauf man sich einstellen muss, so sind sie die untrüglichen Manometer im Melting Pot.
Ein Frühstück mit der Leiterin einer Kindertagesstätte oder einer Grundschulrektorin vermittelt mehr Einblicke in den Stadtteil als drei Workshops mit akademischen Sprechblasendrehern von der Metaebene. Das Prä haben ein klein wenig die Kindertagesstätten, weil dort meist das Verhältnis zwischen Eltern und der Einrichtung etwas entspannter ist als später in der Schule. Schule ist schon erheblich formaler, es ist eine staatliche Zwangseinrichtung, und erst dort geht es nach Meinung vieler Eltern ja wirklich um die Entwicklung des Kindes. Das ist zwar eine völlige Fehleinschätzung, aber sie korrespondiert mit dem landläufigen Vorurteil, dass Kindertagesstätten Einrichtungen sind, in denen Kinder aufbewahrt werden, weil die Eltern gerade keine Zeit für sie haben – die Kleinen spielen eben ein bisschen herum unter der Aufsicht von Kaffee trinkenden Erzieherinnen.
Kindertagesstätten sind Bildungseinrichtungen. Und ich gehe noch weiter. Sie sind das Fundament unseres gesamten Bildungssystems. Sie sind weder die Brückenköpfe einer sozialistischen Einheitserziehung noch ein Kinderheim light für Kinder von erziehungsunterbelichteten Eltern. Die weitverbreitete und immer wieder propagierte Meinung: »Nur Eltern, die arbeiten müssen oder zu faul sind, sich um ihre Kinder zu kümmern, bringen ihren Nachwuchs in die Kindertagesstätte, gute Eltern erziehen ihre Kinder alleine zu Hause«, ist genauso töricht wie fachlich unhaltbar.
Keine Kindertagesstätte kann und will den Kindern das Elternhaus ersetzen. Dass sie es manchmal doch muss, ist eine traurige Realität. In der Zeit vom 3. bis zum 6. Lebensjahr entwickelt sich das menschliche Gehirn mit einer unglaublichen Dynamik. Eigentlich beginnt sie schon vom 2. Lebensjahr an, indem die Kinder ihre Muttersprache ohne Lehrer erlernen und sich das Sprachzentrum ordnet. In dieser Lebensphase sind Kinder wie Schwämme: Sie saugen Erlebtes, also Wissen und Sprache, begierig auf. Geschieht das in einem Sozialraum unter Gleichaltrigen, entwickeln sich parallel ihre sozialen Kompetenzen. Hierbei müssen die Kinder unterstützt werden durch Stimulanz, Impulse und Motivation. Kinder entdecken die Welt. Alles ist aufregend für sie, und sie lernen gern. Die Herausbildung ihrer kognitiven Fähigkeiten, also die Kompetenz, Dinge wahrzunehmen und zu verstehen, sich Wissen anzueignen, entscheidet nahezu irreversibel über den weiteren Lebensweg. Keine noch so engagierten, bildungsbeflissenen und liebevollen Eltern sind in der Lage, ein gleiches Feuerwerk an Kreativität und Abwechslungsreichtum aufzubieten, wie es eine Kindertagesstätte kann. Deshalb ist es innerhalb des Bildungsbürgertums absolut üblich, dass die Kinder in diesem Alter einem sozialen Lebensraum zugeführt werden. Seien es die Kindergruppen der Kirchengemeinde, schichtenreine Initiativkindergärten oder stinkteure gewerbliche Frühförder- oder Hochbegabten-Einrichtungen. Welches Türschild angeschraubt wird, ist eigentlich unwichtig. Das Ziel heißt immer, dem Kind eine herausfordernde Erlebniswelt zu bieten. Daran ist ja auch nichts falsch.
Aus all dem folgt, dass Kindertagesstätten als Institution der vorschulischen Bildung eine enorme Bedeutung für die Bildungskarriere der Kinder haben. Kinder lernen zehnmal schneller als Erwachsene. Aber man muss es ihnen beibringen. Werden die Weichen in den ersten Lebensjahren aus Unwissenheit oder Bequemlichkeit falsch gestellt, hat das zur Folge, dass viele Begabungen und intellektuelle Fähigkeiten für den Rest des Lebens ungenutzt verkümmern.
Bildungsferne Eltern haben zumeist die klare Vorstellung, dass ihr Kind Doktor, Anwalt
oder Pilot werden soll. Allerdings fehlt ihnen die Einsicht, welche Anstrengungen hierfür notwendig sind. Sie wissen nicht, wie eine Leistungsgesellschaft funktioniert und dass die Erfüllung der Träume vom gesellschaftlichen Aufstieg mit Lernen und Bildung zu tun hat. Da die Erfindung des Nürnberger Trichters weiterhin auf sich warten lässt, wird bis auf Weiteres die alte Methode des Lehrens, Übens und Lernens den Vorzug erhalten. Den Teilen der Gesellschaft, denen solche Erkenntnisse verborgen sind und eventuell auch verborgen bleiben, muss man bei der Erziehung ihrer Kinder helfen. Genau dies geschieht durch Kindertagesstätten. Aus meiner Sicht optimal vom 13. Lebensmonat an.

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #29 on: November 04, 2012, 09:23:13 am »
Aber genug der Philosophie. Wenden wir uns der praktischen Kindergartenwelt von Neukölln zu. 172 Kindertagesstätten bieten in Neukölln 12 400 Plätze an. Am 31. Mai 2012 waren diese Plätze mit rund 11 300 Verträgen belegt, von denen 6200 zur Gruppe der Einwandererkinder gehörten. Also etwa 55 %. Unsere Betreuungsquote betrug bei den unter 3-Jährigen 27 % und bei den 3- bis 5½-Jährigen (5½ ist das Einschulungsalter in Berlin) 89 %.
All diese Zahlen sind mit äußerster Vorsicht zu genießen. Fest steht nur, dass rund 1100 Plätze mit Betriebserlaubnis nicht genutzt werden, vorwiegend aus dem Grund des Erziehermangels. Uns fehlt es nicht an Plätzen, sondern an Personal. »Die haben Sorgen«, wird so mancher von Ihnen jetzt denken. In der Zahl der Verträge sind auch die Neuköllner Kinder enthalten, die eine Kita außerhalb Neuköllns besuchen. Ich gehe davon aus, dass sich diese Zahl mit der Zahl derjenigen aufhebt, die in Neukölln einen Platz belegen, den Vertrag aber in ihrem Wohnort haben.
Noch skurriler ist die Angabe des Anteils der Einwandererkinder, in Berlin, wie gesagt, »Kinder nicht-deutscher Herkunftssprache« (»ndH-Kinder«) genannt. Die statistische Erfassung beruht ausschließlich auf der Selbstauskunft der Eltern durch Ankreuzen eines Kästchens, ob zu Hause überwiegend deutsch gesprochen wird oder nicht. Für sehr belastbar halte ich diese Angaben daher nicht. Schon gar nicht mehr, seit ich in Erfahrung gebracht habe, dass dieses Merkmal immer wieder von Eltern nachträglich geändert wird, wenn ihr Kind vor einiger Zeit in einer Einrichtung aufgenommen wurde. Die Änderung erfolgt von der Kategorie »es wird zu Hause deutsch gesprochen« in »es wird zu Hause nicht überwiegend deutsch gesprochen«. Zum Hintergrund muss man wissen, dass Kindertagesstättenträger für Kinder mit dem Merkmal »kein überwiegender Gebrauch der deutschen Sprache« staatliche Zuschläge erhalten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Für das Eintauchen in den Alltag habe ich zwei Leiterinnen in den Zeugenstand gerufen. Sie haben mir ungeschminkt ihre Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus jahrzehntelanger Arbeit mit Kindern in Neukölln auf den Tisch gelegt. Beide waren damit einverstanden, dass ich ihre Namen nenne. Es sind eben sehr selbstbewusste und nicht so leicht umzupustende Frauen. Trotzdem tue ich es nicht. Ich belasse sie in ihrer Anonymität. Sie kennen das Geschäft nicht. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man planmäßig gemobbt wird. Auch dafür, dass man nur das beschrieben hat, was jeder mit gesundem Augenlicht selbst sehen kann. Eine Schulleiterin hat einmal mit mir zusammen ein öffentliches Interview gegeben. Sie nahm kein Blatt vor den Mund. Zwei Jahre hatte sie darunter zu leiden.
Ich möchte, dass meine beiden Leiterinnen weiter ungestört für die Neuköllner Kinder arbeiten können. Deswegen bleiben sie die großen Unbekannten. Beide leiten Einrichtungen von freien Trägern und nicht des bezirklichen Kindertagesstättenbetriebes. Sie sind also weder direkt noch indirekt von mir abhängig und haben es daher auch nicht nötig, mir nach dem Mund zu reden. Beide Kindertagesstätten liegen in einem geschlossenen Wohngebiet in Nord-Neukölln. Einmal mit rund 5000 Einwohnern und einmal mit 3500. Der Gesamt-Einwandereranteil liegt bei 68 % bzw. bei 58 %.
Meine erste Gesprächspartnerin beschreibt, dass es in »ihrem« Wohngebiet in letzter Zeit eine hohe Zuzugsrate gegeben hat. Betrug die Leerstandsquote der Wohnungen in der als sozialer Brennpunkt bekannten Siedlung früher mindestens 10 %, so ist heute von einer Vollvermietung
auszugehen. Sie hat jährlich 200 Anmeldungen für 20 freie Plätze. Zu dem früher üblichen Bestand der türkisch- und arabischstämmigen Bevölkerung haben sich zunehmend Schwarzafrikaner im Gebiet niedergelassen. Mit den Afrikanern ist noch mehr Brutalität, Drogen- und Alkoholmissbrauch eingezogen. Türkische und arabische Männer sitzen in den Cafés. Afrikanische Männer sitzen zu Hause, sehen fern, spielen, telefonieren und trinken. Afrikaner lassen sich noch schwerer in die Karten schauen als die anderen Ethnien.
Männer lassen sich in ihrer Kita selten blicken. Nur wenn sie Druck macht und darauf besteht, bequemen sie sich, zum Gespräch zu erscheinen. Fordernd werden, das kann sie, diese resolute Frau. Sie kommt aus dem Kiez. Sie hat ihre Nase schon in alle Ecken gesteckt. Auch in die, wo es manchmal nicht so gut riecht. Angst hat sie keine. Es kann durchaus passieren, dass jemand, der ihr zu nahe kommt oder zu unverschämt wird, einfach rausfliegt.
Die Kinder werden in die Einrichtung gebracht, damit sie Deutsch lernen. »Viele Familien haben schon kapiert, dass ein guter Schulabschluss wichtig ist. Und deswegen wollen sie, dass wir ihr Kind auf die Schule vorbereiten.« Dass dies auch ihre Aufgabe als Eltern ist, sei ihnen schon weniger bewusst. Auch nicht, dass man sich an Uhrzeiten halten muss und pünktlich zu sein hat. Spontanität und Beliebigkeit bestimmen den Alltag stark.
Die Elternarbeit liegt unserer Leiterin sehr am Herzen. Das beginnt damit, dass die Mütter, wenn sie morgens die Kinder in die Einrichtung bringen, freundlich und höflich begrüßt werden. »Das ist nicht in jeder Neuköllner Einrichtung so«, sagt sie. »Wenn unser Gruß nicht erwidert wird, wiederholen wir ihn so lange, bis ein nettes Lächeln die Antwort ist.«
Elternarbeit ist für sie auch der Deutschkurs in der Einrichtung. Frauen, die anfangs überhaupt kein Deutsch sprachen, können sich inzwischen verständlich machen. Aber auch hier heißt es, immer am Ball bleiben, motivieren, anfeuern und das Abschlusszertifikat zum Ziel erklären. Spielenachmittage mit den Müttern organisieren und ihnen den Sinn von »Mensch ärgere dich nicht« oder »Mau-Mau« erläutern. Die Männer müssen je nach Fertigkeit ackern, reparieren und bauen. Dabei kann man viel besser mit ihnen reden als auf einem Elternabend, zu dem sowieso niemand käme.
Die Sprachausbildung der Kinder ist für meine Gesprächspartnerin heute selbstverständlich. Sie verfügt über vier dafür ausgebildete Erzieherinnen. Hinzu kommen Lesepatinnen, die schon in der Krippe den Kindern aus dem Bilderbuch vorlesen. Und sie sagt, man kann zusehen, wie sich der Sprachstand der Kinder dadurch verändert. Das ist wirklich anders als früher, erinnere ich mich. In meiner Zeit als Jugenddezernent begannen wir mit der Sprachausbildung von 3-Jährigen zu experimentieren. Wir wurden damals mit der Tatsache konfrontiert, dass immer mehr Kinder zu Hause kein Deutsch sprachen. Aber niemand wusste, wie man mit so kleinen Menschen lernen und üben kann. Wie lange können sie sich konzentrieren? Wie viel Inhalt auf einmal verkraften? Wie »unterrichtet« man 3-Jährige? Für Kids vom 6. Lebensjahr an wussten wir alles. Da hatten wir unsere Lehrer. Zu jener Zeit war aber Lernen in der Kindertagesstätte geradezu tabu. »Gegen die Verschulung der Kindertagesstätten!«, lautete ein Schlachtruf. Wenn ich mich richtig erinnere, begannen damals der Bezirk Kreuzberg und wir mit Experimentierphasen im Kindergartenalter. In Neukölln probierten drei Einrichtungen drei Konzepte von unterschiedlichen Hochschulen aus. Ich stellte damals Geld zur Verfügung, damit sich die Einrichtungen auf den Weg machen konnten. Heute ist Sprachtraining und Sprachausbildung in unseren Kindertagesstätten Alltag. »Und sie bewegt sich doch«, würde Galileo Galilei an dieser Stelle sagen.
Unsere Leiterin ist Optimistin. Sie sagt, das Bildungsniveau wird besser. Alleine schaffen es die Eltern und die Kinder aber nicht. Sprache, Sport und vernünftige Ernährung sind die drei Stellschrauben, meint sie. Kinder aus der Siedlung, die in der Kita waren, haben in der Schule eine Chance, die anderen gehen den Bach runter. Das ist ein sehr brutales Resümee. »Ja«, sagt sie, »aber es hilft nichts, sich daran vorbeizumogeln.« Und sie weiß, was das konkret bedeutet: Wir brauchen zumindest in den Stadtgebieten, in denen prekäre Lebenssituationen dominieren, eine
Kindertagesstättenpflicht. Und wenn es nicht genug Plätze und Erzieher gibt, dann müssen wir welche aus dem Boden stampfen. Manchmal tun es ausgediente Bahnwagen auch. Wir müssen für die Kinder den Rucksack des Lebens packen. In der Schule kristallisieren sich dann die Unterschiede der intelligenten Kinder und der nicht so intelligenten heraus. Und dann kommt wieder so ein Hammersatz: »Schlechte Eltern machen Kinder zu Zeitbomben.«
Niemand geht mit den Kindern in den Zoo, der Fernseher regelt alle Probleme, eigene Anstrengung ist verpönt. Die Kita-Leiterin ist durchaus dafür, dass man Eltern Druck macht. Wenn jemand seine Kinder vernachlässigt: weg mit dem Kindergeld und kein Hartz IV. Wir haben die Menschen bequem gemacht, die Gesellschaft regelt alles für sie. Sie bügelt die Falten aus dem Hemd des Lebens. Aber jeder Familienhelfer macht die Familie noch unselbständiger.
Gut 30 % der Kinder der Siedlung haben eine Chance, weil sie ihre Kindertagesstätte besucht haben. 70 % kommen vom Fernseher zu Hause motorisch gestört und intellektuell verarmt in die Schule. Als ich ihr sage, dass wir im letzten Jahr 39 % der Einwandererkinder mit schwersten Sprachdefiziten in Neukölln eingeschult haben, entlässt sie mich mit einem kurzen und knackigen Satz: »Aber die kamen nicht aus meiner Kita!«
Meine zweite Gesprächspartnerin gilt ebenfalls als ausgesprochen resolut. Sie leitet eine große Einrichtung. Das Haus hat Regeln, die für alle gelten. Wem sie nicht gefallen, der kann gehen. Wer nicht freiwillig geht, wird nachdrücklich entfernt.
In ihrer Kindertagesstätte gibt es keine Kopftücher, und man schaut sich an, wenn man miteinander spricht. Väter, die verlangen, dass sie als Frau den Blick vor ihm zu senken hat, müssen weiter nach einem Platz suchen. Seit 1996 macht sie ihren Job. »Früher war es einfacher«, sagt sie. »Wir hatten hier klare türkische und arabische Mehrheiten. Heute sprechen unsere Kinder 26 verschiedene Sprachen. Wir sind eine Bildungseinrichtung, die einzige, die die Kinder haben. Unsere Siedlung ist das Dorf. Und ihr Dorf lieben alle, das kennen sie.«
Viele Familien verlassen die Siedlung nie. Mit den Kindern irgendwo hinzufahren, in den Tiergarten oder ins Kindertheater, darauf kämen die meisten nie. »Wir inszenieren Ausflüge über die nahegelegene nächste Hauptstraße. Das sind zwar nur 100 bis 200 Meter, aber die Wirkung, die das Überschreiten dieser Grenze auf die Kinder hat, ist unglaublich. Wir sind in unserer Arbeit kleinteilig geworden, aber auch bescheiden bei der Erfolgserwartung. Wenn wir sehen, dass 10 % der Eltern das annehmen, was wir trainiert haben, dann sind wir froh.«
»In unserer Einrichtung wollen wir den Kindern Verlässlichkeit beibringen«, sagt sie. »Der Tag ist strukturiert. Jeder kann sich darauf verlassen: Was angekündigt wird, findet auch statt. Es beginnt damit, dass alle Kinder bis 8.30 Uhr zum Morgenkreis da sein müssen. Dann schließen wir die Tür ab. Das hört sich hart an, aber wir müssen die Menschen in Regeln zwingen. Bei 90 % haben wir Erfolg.«
Es gibt in allen Gruppen ein gemeinsames Frühstück. Eltern kaufen ein und zahlen 10 Euro extra im Monat. Obst und Brot sind obligatorisch. Diese kleine Selbstverständlichkeit funktioniert nur, wenn alle da sind. Und sie klappt auch nur, wenn alle bezahlen. »Es ist ein immer währender Kampf um diese 10 Euro. Fast ein Spiel mit Eltern, die laut über ihre Armut klagen, um dann die dicke Rolle Geldscheine aus der Gesäßtasche zu ziehen.« Bei einer Familie standen sage und schreibe acht schwere Autos vor der Tür, aber das Frühstücksgeld konnte nicht erübrigt werden. Da schlägt die Kindertagesstättenleiterin schon mal härtere Töne an. Sie sagt, in ihrer Einrichtung seien ungefähr 20 % der Familien wirklich arm. Das sind die, die für gebrauchte Kleidung dankbar sind. Der Rest befindet sich in der antrainierten Opferhaltung, mit der man in Deutschland sehr gut durchs Leben kommt. Da könne man sich mit gebrauchter Kleidung nur eine Ablehnung einhandeln. Unter denen, so schätzt sie, gibt es noch einmal 20 %, die sie als Deutschenhasser bezeichnet, für die wir alle einfach nur Ungläubige sind. An dieser Stelle berichtet sie mir von Auseinandersetzungen zwischen den Eltern über das Essen. Polnische Eltern wollen Schweinefleisch und haben wenig Verständnis für Halal-Forderungen der Muslime. Letztere am unversöhnlichsten vorgetragen von
Konvertiten.
Stolz berichtet sie von ihrer Väterarbeit. Arabische und türkische Väter mit der Kittelschürze, die in der Küche helfen. Die ehrenamtlich in den Gruppen sitzen und vorlesen. Und die malern, schrauben und reparieren. »Das sind die kleinen Fortschritte, die uns am Leben erhalten.«
Die Kinder sollen sich frei entwickeln können. Egal, wie verschroben der Vater manchmal ist. In ihrer Einrichtung können Jungen auch mit Puppen spielen. Und sie müssen auch fegen und saubermachen, obwohl das angeblich keine Jungenarbeit ist.
Es ist schon manchmal abenteuerlich, was einem alles begegnet. Ein Vater verätzte seinem Kind das Gesicht, weil er ihm mit irgendeiner scharfen Substanz den Mund ausgewaschen hat, als er erfuhr, dass sein Kind in der Kindertagesstätte Gummibärchen gegessen hatte, die nicht halal waren.
Die Einrichtung verfügt auch über türkische Erzieherinnen. Wer glaubt, das erleichtere den Alltag, irrt. Es ist ein erstklassiges Konfliktpotential mit arabischstämmigen Eltern.
Beim Thema Sprachentwicklung kommt unsere zweite Leiterin zum gleichen Ergebnis wie die erste. Noch vor drei Jahren benötigten 50 % der Kinder eine Sprachförderung vor dem Schulbeginn. Heute sind es erheblich weniger. Und die, die noch eine Förderung brauchen, waren keine zwei Jahre in der Einrichtung: Beim letzten Test waren nur 7 von 55 Kindern länger als zwei Jahre dabei. Hinzu kommt, dass der Besuch mitunter recht unregelmäßig ist und die Kinder Fehlzeiten von bis zu drei Tagen pro Woche aufweisen. Die Anwesenheitsquote aller Kinder beträgt höchstens 70 %.
Eines will sie unbedingt loswerden. Als Beleg dafür, dass auch deutsche Kinder die gleichen Sprachprobleme haben, wurde einmal der Bezirk Hellersdorf angeführt. Es handelte sich aber, wie sich dann herausstellte, um die Kinder von Spätaussiedlern aus Russland.
»Es bringt gar nichts, das Kind ein Jahr in die Kindertagesstätte zu schicken. Wir brauchen eine Kindertagesstättenpflicht. In Brennpunkten sind Kindertagesstätten familienergänzende Einrichtungen.« Meine Gesprächspartnerin wird bitterer. Sie sagt, unsere Gesellschaft sei zu schlapp für die Kinder. Wir schauen zu, wie Kindergeld für alles Mögliche ausgegeben wird, aber nicht für die Kinder. Wir entmündigen die Eltern, indem wir sie behutteln und betutteln. Man nimmt ihnen damit jedes Verantwortungsgefühl. »Das einzige, bei dem viele Familien munter werden, ist Geld.« Nur über die Verknüpfung von Geld und Leistung wird man zu Verhaltensänderungen kommen, meint sie.
Auch sie berichtet von Kindern mit schweren Mängeln im Bewegungsablauf, weil sie nur gekarrt oder im Auto gefahren und bis zum Alter von vier oder fünf Jahren gestillt werden oder bei der Einschulung noch Windeln tragen. Kinder, die in diesem Alter einer normalen Unterhaltung nicht folgen können, weil sie über keinen Wortschatz verfügen, hält sie für fast schon gescheitert.
»Wir haben die Latte inzwischen sehr niedrig gehängt«, sagt sie. »Ich merke, dass ich zu hart werde. Ich liebe Kinder und möchte ihnen helfen, dass sie den Weg ins Leben finden. Hier stoße ich an meine Grenze. Ich werde meine Einrichtung und Neukölln verlassen.«
Ein halbes Jahr nach dem Gespräch treffe ich die Kita-Leiterin wieder. Sie hat es wahrgemacht und arbeitet jetzt in einem anderen Berliner Bezirk. »Ich mache gerade eine neue Lebenserfahrung«, antwortet sie mir auf die Frage, wie es ihr denn so gehe fernab vom eigentlich geliebten Kiez. »Es kommen Kinder in mein Büro und reden mit mir in ganzen Sätzen.«
So weit der Blick hinter die Kulissen von zwei Neuköllner Kindertagesstätten und in die Erfahrungswelt von zwei Frauen, die ihr gesamtes Berufsleben lang Kindern und Eltern Ratgeber waren. Mich packte bei beiden Gesprächen immer dann ein unbändiger Zorn, wenn meine Gedanken auf Wanderschaft gingen und mir das Betreuungsgeld in den Sinn kam, diese Mutation einer verantwortungsvollen Politik für die Kinder dieses Landes. Während ich diese Zeilen schreibe, ist noch nicht endgültig klar, ob sich die vernünftigen Kräfte in der CDU/CSU doch durchsetzen oder ob sie dem massiven Druck erliegen und plattgemacht werden. Im Juni 2012 verhalf ein
Verfahrenstrick zum Zeitgewinn. Aber damit ist die Schlacht noch nicht gewonnen.