Es gibt in Oslo zehn Moscheen. Anders als bei uns erhält im Sinne der Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften jede muslimische Gemeinde Steuergelder zur Finanzierung ihrer Arbeit. Als »Dank« für die staatliche Fürsorge kooperieren die Moscheen mit der Stadtverwaltung so gut wie gar nicht. In Schulen sind keine Gebetsräume vorzufinden. Es gibt einen gemeinsamen Religionsunterricht für alle Schüler. Priester und Imame dürfen keinen Religionsunterricht geben. Eltern können beantragen, dass ihre Kinder an religiösen Aktivitäten nicht teilnehmen müssen.
Wie immer gab es zum Schluss das obligatorische Gespräch mit dem Bürgermeister. Seine Ansicht war, dass Oslo dort steht, wo Neukölln vor 15 Jahren war. In Berlin sind die deutlich sichtbaren Warnungen damals nicht ernst genommen worden. Zustimmend konnten wir nur den Rat geben, klüger zu sein, als wir es waren. Wir gaben den ergänzenden Tipp, von Anfang an die Ordnungsdienste in die Integrationspolitik zu involvieren und dem Entstehen von Anonymität schaffenden Parallelgesellschaften konzentriert entgegenzuwirken.
Der Bürgermeister bemängelte das zu langsame Vorangehen bei der Einbindung von Migranten in das ehrenamtliche Engagement der Bürger. Er bestätigte, dass auch in Oslo junge Migrantinnen gegenüber männlichen deutlich angepasstere Entwicklungsphasen zeigen und ihre Kompetenzen schneller und konsequenter nutzen. Die norwegische Sprache ist das gleiche Problem für die Einwanderer wie in anderen Ländern die englische, die niederländische und die deutsche. Auch in Oslo versucht man durch Hausbesuche, die Familien zu erreichen und sie zu bewegen, die Sprache zu erlernen. Das erinnerte mich recht stark an unsere Stadtteilmütter. In Norwegen heiraten die Menschen mit Migrationshintergrund ebenfalls vorzugsweise unter sich in der eigenen Ethnie.
Mein Gesamteindruck war, dass sich das politische Oslo in einer Phase der erkennenden Sensibilisierung befindet. Die Stadt ist dabei, sich den Realitäten einer Einwanderungsgesellschaft zu stellen. Die deutlichen Werteverschiebungen im Vergleich zur norwegischen Lebensart konzentrieren sich bisher nur auf die Stadt Oslo. Wenn die Norweger die Probleme Oslos als Probleme Norwegens annehmen, dann können sie den bereits vorhandenen Integrationsproblemen einen anderen Verlauf geben, als wir es bei uns getan haben.
Der Name Neapel fällt immer, wenn die Medien über Flüchtlinge berichten, die das Mittelmeer Richtung Europa überquert haben. Aus diesem Grund hatten wir es als unser Ziel auserkoren.
Über die Grundzüge und Facetten der neapolitanischen Integrationspolitik ist schnell berichtet. Es gibt nämlich keine. Gleichwohl war die Stadt mit knapp einer Million registrierter Einwohner und einer Dunkelziffer an Illegalen, der selbst in der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, auch für uns ein markantes Erlebnis.
In Neapel herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit. Insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit sprengt mit 50 % fast jede Vorstellung. So richtig scheint das Problem aber die staatlichen italienischen Stellen nicht zu erreichen. Es gibt keine Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit. Was vorhanden ist, sind kirchliche Initiativen, die versuchen, sich der jungen Leute anzunehmen und dafür ehrenamtliche Helfer zu gewinnen. So besuchten wir ein ehrenamtliches Jugendorchester, eine Ausbildungsstätte für Metallhandwerker und eine für Fremdenführer. Aber das ist eigentlich noch weniger als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Je länger man sich in Neapel aufhält, desto mehr steigt die Verwunderung. Man sieht
niemanden in Sack und Asche verbiestert durch die Straßen ziehen. Das ist eher bei uns in Deutschland der Fall. In Neapel sind die Menschen lebensbejahend fröhlich, sie haben ihr Auto oder ihren Motorroller und kommen scheinbar gut über die Runden. Ein Pater erklärte uns, dass die Solidarität untereinander, insbesondere in den Familien, sehr hoch ist. Hinzu kommt ein legerer Umgang mit der Kriminalität. Sie ist ein akzeptierter Zustand. In diesem Zusammenhang fiel bereits sehr bald nach unserer Ankunft zum ersten Mal das Wort Camorra. Es wurde zur geflügelten Erklärung für eigentlich alles. Die Camorra ist für viele Neapolitaner die einzig verlässliche Größe.
Die organisierte Kriminalität als verlässliche gesellschaftliche Größe? Nun, wer nicht mehr zur Schule gehen will, kann bei der Camorra eine Berufskarriere beginnen. Man fängt als Parkplatzeinweiser an einem bestimmten Ort in der Stadt an, der dann das eigene Betriebsgelände ist. Später ist der Aufstieg zum Drogendealer oder zum Drogenmanager einer bestimmten Region durchaus möglich. Das verspricht ein lukratives Einkommen. Die Kinder und Jugendlichen werden von den enormen Geldbeträgen geblendet, von denen sie in diesem Milieu umgeben sind. 200 Euro Verdienst pro Tag selbst für niedrigste Handlangertätigkeiten beeindrucken schon, und dann erst die 30 000 Euro im Monat, wenn man es zur Persönlichkeit im Drogenhandel gebracht hat.
Die Camorra ist keine Familie, wie wir sie aus amerikanischen Kriminalfilmen kennen. Es sind miteinander konkurrierende Gruppen, die in einzelnen Stadtteilen wirken. Ein starker Machtfaktor ist sie aber allemal. Die offiziellen Stellen Neapels bezeichnen die Camorra auch als »Gegenstaat«. Ein Begriff, den ich vor meinem Besuch niemals gehört hatte.
Zur Schulausbildung der Kinder gehört die Wahrheit, dass über 30 % die Schule vorzeitig ohne Abschluss verlassen. Uns gegenüber machten die italienischen Gesprächspartner den sehr wechselhaften Umgang mit der Schulpflicht und dem Analphabetismus im 19. Jahrhundert dafür verantwortlich. Das Laisser-faire der damaligen Zeit wirke bis heute nach. Es gibt in Neapel keine staatlich finanzierte Jugendarbeit. Die einzelnen Sozialprojekte der Kirche oder von Wohlfahrtsorganisationen lässt die Camorra in Ruhe. Offensichtlich sind sie zu kleinmaschig und zu unbedeutsam, als dass es lohnen würde, sich damit abzugeben.
Es gab bisher keine direkte Einwanderung nach Neapel. Dies mag seine Begründung in zwei Faktoren haben. Zum einen gibt es in Italien kein Sozialsystem, wie wir es kennen. Es lohnt sich also nicht zu bleiben. Als einzige Form des Sozialtransfers erhalten Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen eine kleine Familienbeihilfe, die bei einem Kind knapp 170 Euro im Monat beträgt und bei zwei Kindern 320 Euro. Alleinerziehende erhalten eine Zulage auf die Familienleistung. Im fünf Monate dauernden Mutterschutz erhalten Frauen 80 % des letzten Arbeitseinkommens. Der zweite Aspekt ist der, dass es, wie erwähnt, ein sehr eng geknüpftes Netz der organisierten Kriminalität gibt. Diese sorgt nachdrücklich dafür, dass Konkurrenten schnell die Lust verlieren, sich niederzulassen. Beide Dinge waren bisher sicherlich Ursachen dafür, dass Neapel nur als eine Art Transitstation in den Schengenraum betrachtet wurde. In jüngerer Zeit stellt man in Neapel jedoch fest, dass immer mehr Migranten bleiben. Nach den uns gegebenen Daten hat sich dieser Anteil von Einwanderern von 20 % auf 60 % gesteigert. Insbesondere der starke Zuzug von Roma-Familien bereitet den Neapolitanern Sorge. Der Migrantenanteil liegt heute in Neapel bei 2 %. Gemessen an unseren Verhältnissen ist das kaum der Rede wert. Derzeit wird versucht, die Migrantenkinder mit Schulbussen in der Stadt zu verteilen, um eine Konzentration an einzelnen Orten zu verhindern. Es gibt ein Projekt »Recht auf Schule und Zukunft«. Roma-Eltern erhalten eine finanzielle Zuwendung, wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken. Finanzier ist das Innenministerium.
Aufgrund dieser Historie der Einwanderung erschien uns logisch, dass Italien erst jetzt anfängt zu begreifen, was Migranten bedeuten, die nicht nur durchreisen, sondern bleiben. Plötzlich entsteht die Frage, wie man erreicht, dass sich die Einwanderer an die herrschende Lebensweise anpassen. Bei diesem Prozess stehen die Italiener aber noch ganz am Anfang. Für alle sozialen Probleme wird üblicherweise der Gegenstaat verantwortlich gemacht. Dass Migration eine Herausforderung ist, die soziologische Konsequenzen hat, scheint noch nicht durchgängig ins
Bewusstsein gedrungen zu sein. Die Stadtverwaltung von Neapel sieht sich keineswegs in der Verantwortung, diese Probleme zu lösen. Der Islam war bei unseren Gesprächen kein Thema. Hier scheinen Gegenstaat und originärer Staat eine Einheit zu bilden, wie auch der starke Katholizismus keinen Raum für die Ausbreitung einer anderen Religion lässt.
Neapel war für uns aus der engen Sicht der Integrationspolitik nicht besonders ergiebig. Allerdings haben wir recht plastisch vor Augen geführt bekommen, wie sich eine Stadtverwaltung auch mit Gegebenheiten einrichten kann, die aus unserer Sicht einen dringenden Handlungsbedarf auslösen müssten. Aber eben nicht in Italien. Die lebensbejahende Einstellung der Italiener relativiert jedes Chaos. Das Leben ist zu schön und zu kurz, um sich mit irgendetwas Schlechtem zu belasten. Gemessen an Wirtschaftsdaten und Arbeitslosigkeit, müsste es jedem Neapolitaner ziemlich dreckig gehen. Das Stadtbild spricht eine andere Sprache.
Ich möchte meinen Bericht über unsere Erfahrungen im Ausland mit einer Anekdote schließen, die sich bei der Oberbürgermeisterin von Neapel zugetragen hat. Das Gespräch fand, wie es sich gehört, in einem großen, prächtigen Festsaal statt. Bei der Bezeichnung der Epoche habe ich Wissenslücken. Irgendwann im Gespräch bewegten wir Themen der großen Linie wie Sozialsysteme, Verantwortung des Staates, Auffangnetz der Gesellschaft, Schutz des Einzelnen vor existenzieller Bedrohung, Würde des Menschen und Solidarität mit den Schwachen. Als ich das deutsche Sozialsystem nur sehr oberflächlich referierte, kam Bewegung in den hinteren Teil des Saales. Dort stand der Chef der Saaldiener. Nachdem der offizielle Teil der Veranstaltung beendet war, kam er auf dem Flur zu uns. Er fragte ernsthaft, ob wir ihn nicht nach Deutschland mitnehmen könnten. Die Unterstützungsbeträge des deutschen Sozialsystems würden sein Gehalt bei der Oberbürgermeisterin mehr als deutlich übersteigen.
Wir rieten ihm, die Vorzüge und die Schönheit Neapels zu genießen.
Kein Besuch verlief wie der andere. Die Vielfalt der Mentalitäten, der Lebensstile und der Politikphilosophien spiegelt sich im Umgang mit der Einwanderung wider. Trotzdem gibt es einen roten Faden, den wir immer wieder entdecken konnten:
Wo es starke Migration gibt, gibt es auch kulturelle Reibungsverluste, soziale Verwerfungen und Bildungsprobleme. Das heißt, Einwanderung geht nicht schmerzlos.
Probleme mit kulturellen Unterschieden, Bildungs- und Zivilisationsrückständen sowie erhöhte Kriminalitätsraten sind nicht an bestimmte Ethnien oder eine bestimmte Herkunft gebunden. Das heißt, nicht der Geburtsort vom Großvater ist entscheidend, sondern der Wille und die Fähigkeit, sich an die herrschenden Lebensregeln anzupassen.
Der Islam nimmt bei der Integration keine fördernde Rolle ein. Er stärkt eher das Verharren in tradierten Verhaltensmustern. Extreme Frömmigkeit kann zur hohen Hürde auf dem Weg in die moderne und liberale Gesellschaft werden.
Das A und O aller Integrationsbemühungen sind ihre Konsequenz und eine für alle verständliche Nachvollziehbarkeit. Beliebigkeit und gesellschaftliche Ignoranz sind die Totengräber der Integration. Kulturelle Rabatte bedienen die Bequemlichkeit, anstatt die Akzeptanz der Normen herauszufordern.
Staatliche Stellen können nur erfolgreich wirken, wenn sie vernetzt arbeiten und ihre Tätigkeit aufeinander abstimmen (völlige Aufgabe der Versäulung). Planloser Aktionismus und alles verstehendes Pampern frönen nur dem Grundsatz: Viel hilft viel. Beiden fehlen der strategische Ansatz und die Nachhaltigkeit. Nur mit konzeptionellem Vorgehen behalten die staatlichen Stellen den Überblick und das Heft des Handelns in der Hand.
Gesellschaftliche Bemühungen und staatliche Angebote müssen bei Nichterfolg oder bei Verweigerungshaltung zu unmittelbaren Konsequenzen führen. Sanktionsloses Fehlverhalten verschlechtert die Situation um ein Vielfaches, weil es automatisch den Gewöhnungs- und Wiederholungsprozess auslöst. Das »Wenn-Dann«-Prinzip muss dem »Kannst du ruhig machen, passiert sowieso nix« offensiv gegenübergestellt werden.
• Integration gibt es nicht zum Nulltarif und nicht von der Stange. Die sich ständig wandelnden Verhältnisse erfordern immer wieder neue Denk- und Handlungsansätze. Statische Politikformeln führen zu verlorenen Stadtvierteln.
*** Abrufbar unter:
http://www.coe.int/t/dg4/cultureheritage/culture/Cities/IntegrationspolitikNeuk%C3%B6lln_en.PDFDer Demographiehammer
Ein Leben in Wohlstand wird in Deutschland in der Zukunft ohne die Integration der Einwandererkinder nicht möglich sein. Insofern ist Integrationspolitik nicht der Wettbewerb um den Mutter-Teresa-Preis, und es ist auch keine Almosenpolitik à la Brot für die Welt. Es geht schlicht und ergreifend um das Überleben unserer Gesellschaft auf dem heutigen Niveau. Das Humankapital unseres Landes liegt nicht an der Elbchaussee in Hamburg, in Dahlem-Dorf in Berlin oder am Starnberger See in Bayern. Es liegt vielmehr dort, wo es viele Kinder gibt. Also dort, wo die Geburtenraten hoch sind. Aber kümmern wir uns genug um diese Gebiete? Behandeln wir das Kapital, das es dort gibt, wie ein kostbares Gut, und legen wir es zinsbringend an? Oder gehen wir damit eher um wie mit den toxischen Papieren einer Bad Bank?
Ich kann mir gut vorstellen, dass einige von Ihnen bei diesen Sätzen die Stirn gerunzelt haben. Es sind ja auch starke Worte. Deshalb will ich mich in diesem Kapitel mit der demographischen Entwicklung in Deutschland und ihren Auswirkungen auf die Stadtlagen beschäftigen. Im Übrigen kann man generell die Demographie nicht losgelöst vom Umbau der Bevölkerungsstruktur und den sich damit verschiebenden Geburtenraten betrachten.
Bevölkerungsprognosen, Geburtenraten, Reproduktionswerte, Wanderungssalden, Altersquotienten – solche Begriffe suggerieren nicht unbedingt eine spannende Lektüre. Das ist etwas für Feinschmecker. Der Normalmensch macht darum einen großen Bogen nach dem Motto »Damit sollen sich die Wissenschaftler herumplagen«. Einem Menschen wie mir, der aus seinen Erfahrungswerten und den Quellen des täglichen Lebens schöpft, geht das nicht anders. Ich würde mich auch gerne drücken. Es ist, glaube ich, nachvollziehbar, dass auf kommunaler Ebene, also auch auf der bezirklichen Ebene einer Großstadt, keine eigenen Erkenntnisse über die demographische Entwicklung des Landes geschöpft werden können. Wir leben von den Forschungen und Erkenntnissen der Demographen und ihren Prognosen. Das bedeutet natürlich, man bewegt sich immer auf dünnem Eis.
Wissenschaftler sind nicht immer einer Meinung – das ist auch bei der Demographie so. Mit ihren Forschungen und Expertisen können Demographen alles belegen, was ihrer Meinung entspricht, und widerlegen, was der Meinung eines Kollegen näherkommt. Auf wessen Seite schlägt sich nun ein Autor, der ein Kapitel mit Inhalten füllen will, für die er nicht selber geradestehen kann? Sollten Sie in diesem Kapitel auf Widersprüche stoßen, so kann ich nicht ausschließen, dass Sie recht haben. Ich habe mich aber bemüht, in Veröffentlichungen aufgetretene Streitebenen zu umschiffen und nur Daten zu verarbeiten, die unstreitig zu sein scheinen.
Es heißt, die Demographie sei eine sehr verlässliche Disziplin, weil sie eine »Wenn-Dann«-Wissenschaft ist. Das bedeutet: Wenn bestimmte Konstellationen eintreten, dann sind die Folgen verlässlich berechenbar. Die Demographen weisen immer wieder darauf hin, dass die Berechnungen der Vereinten Nationen für die Weltbevölkerung aus den 1950er Jahren für das Jahr 2000 lediglich eine Ungenauigkeitsabweichung von 1,5 % hatten. In Deutschland liegt die Trefferquote bei Vorausberechnungen für zehn Jahre bei unglaublichen 99,9 %. So behaupten es jedenfalls die Akteure. Die von mir im Folgenden wiedergegebenen Zahlen und Ableitungen beruhen auf Veröffentlichungen der Bertelsmann Stiftung, des Statistischen Bundesamtes, der Bundeszentrale für politische Bildung und von Prof. Dr. Herwig Birg. Letzterer gehört zu den wohl bekanntesten deutschen Demographen und war von 2001 bis 2004 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Ich gehe davon aus, dass die veröffentlichten Daten belastbar sind.