Author Topic: Neukoelln ist ueberall  (Read 4591 times)

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« on: November 04, 2012, 07:23:19 am »
Neukölln an sich
Der Name Neukölln hat durchaus einen beachtlichen Bekanntheitsgrad erlangt. Das verwundert aber nicht, weil, man ja auch New York, Paris und Rom kennt. Zugegebenermaßen ist es aber so, dass dieses Neukölln erst in den letzten zehn Jahren richtig prominent geworden ist. Die Gründe hierfür sind die Diskussionen um soziale Verwerfungen in Großstadtlagen, um Integrationsprobleme, Parallelgesellschaften und das Versagen des Bildungssystems. Zu all diesen Einzelthemen gibt es widerstreitende Sichtweisen und Interessen. Und am Ende sind sich dann fast immer alle einig: Neukölln ist »Am Rande der Zivilisation«, wie die Süddeutsche Zeitung einmal titelte. Ähnlich wie Herat in Afghanistan befinde sich Neukölln so sehr am Rande der Zivilisation, dass vieles, was passiert, kaum mit unseren Maßstäben gemessen werden könne. Allerdings seien wir als düsterer Hintergrund für Leichenfunde in Krimiserien gut geeignet.
Eigentlich hat das auch schon Tradition. Denn genau vor 100 Jahren wurde die damalige stolze preußische Stadt Rixdorf in Neukölln umbenannt. Für die bürgerlichen Schichten hatte sich der Ruf der Stadt zu negativ entwickelt. Ja, es war nahezu kreditschädigend und ehrenrührig, den Namen im Briefkopf zu führen. Das alte Rixdorf war ein Arbeiterquartier, feuchte Wohnungen in dunklen Hinterhöfen beherbergten arme und kinderreiche, aber ebenso lebenslustige Familien. Getreu dem Motto des alten Gassenhauers »In Rixdorf ist Musike« herrschte, wie man heute sagen würde, ein recht folkloristisches Treiben. Die Hasenheide, eine ca. 50 Hektar große Grünanlage mit dem Vergnügungszentrum Neue Welt und vielen anderen Etablissements, bot Raum für Kurzweil und Pläsier. Freitags war Lohntütenball, und Mutter musste aufpassen, dass sie Vaddern so rechtzeitig von der Kneipe loseiste, dass vom Lohn noch etwas für die Kinder übrig blieb.
Die Namensschöpfung mit Genehmigung seiner allergnädigsten Majestät hatte durchaus einen historischen Bezug. Die im Jahr 1237 erstmalig in Erscheinung getretene Stadt Coelln mit ihrer späteren Vorstadt Neu-Coelln wurde Anfang des 18. Jahrhunderts mit Berlin verschmolzen und ging quasi unter. Die ländlichen Gebiete, die heute den Untergrund des Bezirkes Neukölln bilden, gehörten dereinst allerdings zum Refugium von Coelln. Noch heute weisen Namen wie Köllnische Wiesen und Köllnische Heide auf diesen Ursprung hin. Daran erinnerten sich die Stadtväter zur Zeit der Umbenennung und entschieden sich, den Namen der alten Schwesterstadt zu reanimieren. Sie ließen den Bindestrich weg, machten aus dem C ein K und aus dem oe ein ö. Das Doppel-l aber blieb – und schon war Neukölln geboren. Das verwirrt bis heute amerikanische Reisegruppen. Denen muss man dann erklären, dass Neukölln kein Vorort von Köln am Rhein ist. Na ja, man ist dort einfach andere Entfernungen gewohnt.
Erst 1912 umbenannt, war es schon 1920 vorbei mit der Unabhängigkeit und städtischen Herrlichkeit. Mit dem Groß-Berlin-Gesetz wurden sechs selbständige kreisfreie Städte und fast 100 Landgemeinden und Gutsbezirke zu der Figur zusammengefasst, die wir heute Berlin nennen. Wir Neuköllner sagen, wir wurden okkupiert. An der Revanche arbeiten wir noch. Warten wir weitere Seiten im Geschichtsbuch ab.
Zu jener Zeit waren Standards, wie sie in den späteren 1960er Jahren zur Normalität wurden, noch ein Traum. Die Toilette befand sich auf dem Hof, in Häusern mit etwas gehobenerem Komfort bereits im Treppenhaus eine halbe Etage tiefer. Natürlich immer für mehrere Parteien. An ein eigenes Bad oder eine eigene Dusche (die man damals so ohnehin nicht kannte) war gar nicht zu denken. Ziel für einen sozialen Aufstieg war der Umzug vom Hinter- in das Vorderhaus. Wer es dort dann auch noch in die »Beletage«, also in den ersten Stock, schaffte, der war zumindest in Gedanken dem Himmel sehr nahe. Realität war aber eher die Schwindsucht, unter der ganze Familien aufgrund der Wohnungsfeuchte litten. Denn viele Familien waren sogenannte Trockenwohner. Das heißt, sie zogen in gerade errichtete Häuser, die noch voller Baunässe waren, und wohnten sie trocken. Dafür war die Miete billig. Trotzdem waren oft noch sogenannte Schlafburschen vonnöten, um sie zusammenzukratzen. Das waren alleinstehende Männer, die am
Tage in den Betten der Familie schliefen und abends die Wohnung wieder verließen. Sie bezahlten dafür etwa zehn Pfennig pro Tag.
Es war also das, wofür später der Begriff »Zilles Milieu« geprägt werden sollte. Noch im Jahr 1990 gab es in Neukölln rund 15 000 Wohnungen ohne eigenes Bad und WC. Ich würde nicht gegenhalten, wenn jemand behauptete, auch heute noch solche Zustände entdeckt zu haben. Wie dramatisch die Lebensverhältnisse damals waren, kann man daran erkennen, dass das bis heute in Betrieb befindliche Stadtbad in der Ganghofer Straße als Einrichtung der Stadthygiene und der Seuchenprävention gebaut wurde. Das Problem war nur, dass die arme Stadt Rixdorf die Wasserrechnung nicht bezahlen konnte. Und so konnte der Bau erst freigegeben werden, nachdem sich die Charlottenburger Wasserwerke bereit erklärt hatten, das Wasser an die Städtische Badeanstalt unentgeltlich zu liefern.
Seine Funktion behielt das Stadtbad bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch im Jahr 1990 wurden dort 80 000 Reinigungsbäder in der Wanne oder unter der Dusche verabreicht. Bis heute dient das Bad immer wieder als beeindruckende Kulisse für Filme, die das Feeling einer antiken Thermenanlage benötigen. Es ist auch ein ausgesprochen imposantes Schmuckstück. Heute würde man sagen, eine völlig abgefahrene Event-Location. Wenn es Sie einmal zu uns verschlägt, sollten Sie nicht versäumen, eine Eintrittskarte zu kaufen und sich das Bad von innen anzusehen. Erfahrungsgemäß gibt das Personal auch gern den Stadtbilderklärer.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschoben sich die Gewichte in den Süden des Bezirks. Die Einfamilienhausbebauung nahm deutlich zu, und auf den Feldern von Rudow und Buckow entstand die Gropiusstadt, eine Neubausiedlung mit 19 000 Wohnungen für 50 000 Menschen. Wohnraum war knapp. So wurden die Pläne des Architekten Walter Gropius einfach verdichtet. Dies geschah in einem Umfang, der Gropius so verärgerte, dass er sich von der Siedlung distanzierte. In jahrelangem Bemühen wurden die Wogen wieder geglättet, und so war der Architekt dann doch einverstanden, dass die Siedlung den Namen ihres ursprünglichen geistigen Vaters erhielt.
Mit dem voranschreitenden Bau der Gropiusstadt vollzog sich eine Wanderungsbewegung aus dem Norden. Jede Wohnung war mit eigenem Bad und eigenem WC, teilweise sogar mit Gästetoilette ausgestattet, hell und verfügte über einen Balkon nach Süden oder Südwesten. Für die Bewohner der Hinterhöfe war das der Durchbruch zum modernen Wohnkomfort. In der Altstadt erfreuten die Bevölkerungsverschiebungen Hauseigentümer und Verwalter nur dezent. Viele Wohnungen standen leer, weil niemand mehr in den Altbauten leben wollte. Da kamen die Wünsche der Gastarbeiter nach eigenem Wohnraum gerade recht. Gern wurden die Fremden aufgenommen. Für diese war wiederum eine eigene Wohnung – auch mit Sanitäreinrichtungen eine halbe Treppe tiefer – gegenüber dem Lager auf dem Firmengelände oder den heimatlichen Wohnformen eine erhebliche Weiterentwicklung. So sortierte sich der Bezirk in den 1960ern bis in die Mitte der 1970er Jahre komplett neu.
Aber zurück zur historischen Entwicklung und den Beiträgen Neuköllns zum Weltgeschehen.
Da ist zuerst Friedrich Ludwig Jahn. Auch Turnvater Jahn genannt. Mit seinen vier Effs – frisch, fromm, fröhlich, frei – begründete er die neuzeitliche Sportbewegung. 1811 schuf er den ersten öffentlichen Turnplatz in der Hasenheide. Der olympische Gedanke war ihm damals nicht so nahe. Ihm ging es mehr um eine patriotische Erziehung mit körperlicher Ertüchtigung als Vorbereitung auf den Befreiungskrieg von der napoleonischen Herrschaft. Da man später staatsfeindliche Motive hinter seinem Treiben vermutete, landete er fünf Jahre im Knast. Sei es, wie es sei, ohne Turnvater Jahn keine Olympischen Spiele, keine Europameisterschaften, keine Bundesliga, keine Schiedsrichter- und Doping-Skandale und keine Sportübertragung im Fernsehen. Wir Neuköllner haben uns dafür aufgeopfert. Dank haben wir dafür nie gehört. Im Gegenteil, wenn heute das Wort Hasenheide fällt, rümpfen viele die Nase. Nur, weil dort 50 Drogerie-Einzelhändler ihr inzwischen 25-jähriges Betriebsjubiläum feiern (die Hasenheide ist als Drogenumschlagplatz
bekannt). Niemand spricht von dem kleinen, aber wunderschönen Tierpark, dem im Bau befindlichen Hindu-Tempel oder eben dem Jahn-Denkmal und klopft uns auf die Schulter. Böse, grausame Welt.
Die tatsächliche Verelendung des Proletariats und die Bildungsarmut inspirierten schon immer Menschen, zu uns zu kommen und nach neuen Wegen zu suchen. Schulreformer wie Kurt Löwenstein und Fritz Karsen haben in Neukölln gewirkt. Ende der 1920er Jahre entstand die erste staatliche Gesamtschule Deutschlands. Die Arbeiterabiturkurse hatten hier ebenfalls ihren Ursprung, wie Neukölln auch insgesamt in der entstehenden Volkshochschulbewegung eine Vorreiterrolle übernahm. Die Neuköllner Musikschule trägt den Namen des bedeutenden Komponisten Paul Hindemith. Sie gehört zu den ältesten drei Musikschulen Deutschlands. Mies van der Rohe und Max Taut begründeten hier ihre Karrieren, und die Hufeisensiedlung von Bruno Taut aus den 1920er Jahren ist heute Teil des Weltkulturerbes. Es war damals eine Sensation, Wohnungen mit allen Sanitäreinrichtungen und einem dazugehörigen Garten zum Standard für die Arbeiterklasse zu machen. Noch heute fahren die Busse mit Architekturstudenten durch die Hufeisensiedlung.
Die Perinatalmedizin wurde Anfang der 1960er Jahre in Deutschlands größter Geburtsklinik von Prof. Dr. Erich Saling entwickelt. Millionen Menschen verdanken seinen Forschungen zur Behandlung des ungeborenen Lebens, zu Diagnose und Therapiemöglichkeiten bereits im Mutterleib, ihr Leben.
Nicht weit davon entfernt forschten und experimentierten Prof. Dr. Emil Sebastian Bücherl, der Physiker Prof. Dr. Max Schaldach und der Elektroingenieur Otto Franke am Kunstherz und den technischen Möglichkeiten der Kardiologie. Sie entwickelten den ersten deutschen implantierbaren Herzschrittmacher. Hieraus entstand der heute größte Neuköllner Arbeitgeber und einer der Weltmarktführer in der Kardio-Technik, die Firma Biotronik. Ich denke, nur die wenigsten Herzschrittmacher- und Defibrillatorträger ahnen, dass ihr Leben zwar nicht am seidenen Faden, aber am Prozessor aus Neukölln hängt.
Das größte und seit vielen Jahren auch wirtschaftlich erfolgreichste Kongresshotel Deutschlands steht natürlich in Neukölln. Mit rund 2000 Kongressen und 300 000 Übernachtungen jährlich ist es auch ein starker Wirtschaftsfaktor für die gesamte Stadt. Ein Drittel der Weltjahresproduktion von Marzipan stammt allen Werbespots zum Trotz aus Neukölln. Bei uns werden 200 Millionen Zigaretten täglich hergestellt, und der Cowboy bringt sie in viele Länder der Welt. Am liebsten rauchen Japaner Zigaretten aus Neukölln. Japaner haben eben Geschmack. Selbst die Bio-Industrie hat uns entdeckt. Egal, ob bei Produktion oder Vertrieb, Neuköllner Betriebe sind immer zur Stelle. In fast allen Tonproduktionsstudios der Welt stehen Präzisionslautsprecher von Adam Audio, Made in Neukölln. Wenn Sie es nahrhafter wollen, dann beliefern wir Sie auch gern mit Broten nach Feng-Shui-Art oder der gesamten Palette der löslichen Kaffeekompositionen der Deutschen Extrakt Kaffee. Die Tabs für Tassimo werden bei uns genauso exklusiv für die Welt produziert wie Dallmayr Prodomo oder das halbe Kaffeesortiment von Tchibo. Dazu garantiert die Cine Postproduktion seit 100 Jahren Kino- und zeitversetzt Fernsehvergnügen. Also, ohne Neukölln läuft auch bei Ihnen zu Hause gar nichts.
Immer wieder fallen Touristen auf die Falschinformation offenkundig bezahlter Provokateure herein, dass Berlin über drei Opernhäuser verfüge. Dahinter stecken Neid und Missgunst. Denn die beste Oper Berlins ist die Neuköllner Oper. Wer es nicht glaubt, kann sich ja bei seinem nächsten Besuch einmal selbst davon überzeugen.
Fachleute prämierten den Britzer Garten zur schönsten modernen Parkanlage Deutschlands. Die Deutsche Bundesgartenbau-Gesellschaft verlieh ihm den Ehrenpreis 2012 »für nachhaltige Parknutzung«, und zwar für die »exzellente Qualität des Volksparks« und die fortlaufende Weiterentwicklung, »ohne die ursprünglichen Gestaltungsideen aufzugeben«. Wer will schon Fachleuten widersprechen? 1,2 Millionen Besucher zahlen jährlich Eintritt, um Entspannung in der Natur oder Kurzweil bei den Veranstaltungen zu finden. Hier findet alljährlich auch das
spektakulärste Berliner Open-Air-Konzert »Feuerblumen und Klassik« statt. 12 000 Menschen sitzen und liegen auf den Wiesen, lauschen der Musik und beklatschen das Feuerwerk. Im Vergleich zu »Klassik Open Air« am Gendarmenmarkt und den Philharmonikern in der Waldbühne kann man da viel Geld sparen.