Author Topic: Neukoelln ist ueberall  (Read 4594 times)

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« on: November 04, 2012, 07:26:04 am »
Die beschriebenen Mechanismen und dazu noch die sogenannte Political Correctness, parteiinterne Programmatik und gegebenenfalls auch persönliches Selbstverständnis oder Konfliktscheue führen im Endeffekt dazu, dass das Thema Integration in Verbindung mit Fehlentwicklungen in der Öffentlichkeit nur unterbelichtet und wenn, dann immer mit Bezug auf andere diskutiert wird. Entlädt sich die wahre Stimmungslage durch ein auftauchendes Ventil wie zum Beispiel ein Buch oder Sammlungsversuche meist älterer Männer zu einer politisch stets scheiternden Bewegung, dann regieren nur noch organisierte aufgeregte Empörung und hysterische Pseudobetroffenheit.
So kam Neukölln zu seinem Mythos als Alleinstellungsmerkmal. Dabei sind wir völlig normal. Jedenfalls unterscheiden wir uns nicht groß von anderen Städten mit gleichen oder ähnlichen Bevölkerungsstrukturen. Dessen ungeachtet wollen viele Buspauschalreisen oder politische Exkursionsgruppen einen Besuch des Bezirks Neukölln als Art Gruselfaktor im Programm nicht missen. Aber es gibt auch die, die Neukölln toll finden. Der Papst zum Beispiel. Er hat seine Nuntiatur nach Neukölln gelegt. Es ist die einzige Botschaft innerhalb unserer symbolischen Stadtmauern. Päpste haben eben Weitblick. Oder die niederländische Königin Beatrix. Sie bestand bei ihrem Staatsbesuch darauf, Neukölln kennenzulernen. Königin Silvia von Schweden und Kronprinzessin Viktoria konnte man in Neuköllner Jugendeinrichtungen ebenfalls bewundern, genauso wie die gesamte erste Reihe der deutschen Politik. Kanzler und Kanzlerin, Minister und Ministerinnen, Partei- und Fraktionschefs, sie alle waren und sind uns offiziell wie inoffiziell immer herzlich willkommen. Bundespräsident Köhler hielt in Neukölln seine berühmte Rede zur Bildungspolitik, Bundespräsident Rau nahm hier ein Bad in der Menge, und den Bundespräsidenten a. d. von Weizsäcker kann man heute noch im Theater Heimathafen treffen.
Der Spiegel bezeichnete Neukölln schon 1997 als Endstation. Andere Publikationen fanden, dass wir den Untergang der Zivilisation verkörperten oder die europäische Bronx seien. Na ja, viel herumgekommen scheinen diese Schreiberlinge nicht zu sein. Der Europarat zeichnete uns 1987 für »außergewöhnlichen Leistungen zur Förderung des europäischen Einigungsgedankens« mit dem Europapreis aus und berief uns 2008 als einzige deutsche Stadt in den Kreis der »Intercultural Cities«.
Größer kann die Bandbreite nicht sein. Vom Weltkulturerbe über ein Labor von Wissenschaft, Pädagogik und Architektur bis hin zur modernen Großstadt, in der manifeste Milieus der Bildungsferne eine Renaissance erleben. Vielleicht verstehen Sie jetzt unseren fast scheuen Wahlspruch: »Wo Neukölln ist, ist vorne. Sollten wir einmal hinten sein, ist eben hinten vorne.«
Neukölln ist mehr als die einzige Stadt Deutschlands, die über Integrationsprobleme klagt und eine Hauptschule mit Disziplinproblemen unter den Schülern hat, in der Christiane F. gelebt hat und Filme über den stillgelegten Grenzübergang Sonnenallee gedreht werden. Wenn Sie tapfer dieses Buch weiterlesen, werden Sie zwangsläufig auf Stellen treffen, die geeignet sind, Sie in das alte Klischee Neuköllns zurückfallen zu lassen. Wenn diese Situation eintrifft, lesen Sie dieses Kapitel einfach noch einmal von vorne. Oder noch besser, kommen Sie her und helfen Sie mit.
Neukölln heute
Nachdem ich Ihnen im vorigen Kapitel als Werbeblock die schönen Seiten Neuköllns nähergebracht habe und Ihnen vielleicht sogar etwas Appetit machen konnte, folgt nun das Neukölln von heute. Bösartig formuliert könnte man auch fragen: Was ist aus dem kaiserlichem Rixdorf 100 Jahre, zwei Weltkriege und drei Gesellschaftsordnungen später als Neukölln des 21. Jahrhunderts geworden? Zunächst einmal sind wir keine eigene Stadt mehr, sondern eingemeindeter Teil der deutschen Hauptstadt. Das muss zwar nicht so bleiben, aber bis auf Weiteres ist es so. Wir sind größer geworden als damals. Schon durch den Lauf der Zeit bedingt, sind wir auch moderner geworden und reicher. Wir definieren Armut nicht mehr an Hunger und Schwindsucht hinter den Wohnungstüren. Armut ist heute Konsumrückstand, nicht mehr Existenznot. Die Maßstäbe haben sich verändert: Mir geht es nicht schlecht, weil ich arm und krank bin, sondern weil es meinem Nachbarn besser geht.
Meine Mutter war das elfte von zwölf Kindern. Im biblischen Alter von 99 Jahren verstarb sie 2010. Sie ist in Armut aufgewachsen und hat mir oft davon erzählt. Ich will jetzt niemanden mit den Geschichten davon, »wie’s damals war«, langweilen. Fest steht aber, dass sie mir aus einer Welt berichtete, die heute in Talkshows zu Ohnmachtsanfällen oder dem Ruf nach dem Gerichtshof für Menschenrechte führen würde. Mein Vater wiederum erzählte mir mehr aus der Zeit der nationalsozialistischen Tyrannei, vom Krieg und der Gefangenschaft.
Mit diesen beiden Erzählwelten wuchs ich auf. Inwieweit sie meine Entwicklung geprägt haben, kann ich nicht beurteilen. Geboren im Jahr 1948, kann ich mich selbst erst an die Zeit des Wiederaufbaus etwa ab Mitte der 1950er Jahre erinnern. Unsere Wohn- und Lebensverhältnisse waren so, dass wir heute mit Leichtigkeit viel Raum in einer Reality-Doku erhalten würden. Damals allerdings waren sie nicht besonders ungewöhnlich. Vier Personen in Stube und Küche im Keller neben der Waschküche des Hauseigentümers. Auch wenn der Aufstieg zum konsumorientierten Wohlstandsstaat sich unaufhaltsam vollzog, so kann ich mich doch daran erinnern, dass ein Leben ohne Auto, ohne Flachbildschirm, ohne Handy und ohne PC möglich war. In Kinderzimmern, wenn es sie überhaupt gab, war Elektronik noch nicht bekannt. Ich bin unsicher, ob das heute nicht bereits gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstoßen würde.
Zwei Sätze durchzogen meine Kindheit und Jugend wie ein roter Faden: »Junge, du musst lernen, damit du es einmal besser hast als wir!« und: »Wenn du etwas haben willst, musst du dafür arbeiten.« Als junger Mensch fand ich beide Leitmotive meiner Eltern nicht ganz so prickelnd. Ich ahnte damals noch nicht, wie präsent sie mir in meinem späteren Leben noch werden sollten.
Mit dem Prinzip »Willste was, machste was, dann haste was« machte ich schon sehr früh Bekanntschaft. Immer dann, wenn sich Wünsche meldeten, die nach Auffassung meiner Eltern nicht zu den Lebensnotwendigkeiten gehörten, war die Eigeninitiative gefordert. Der Plattenspieler, das Fahrrad, das Kofferradio, die Lederjacke oder das Trampen durch Skandinavien waren Auftraggeber, die keine Rückstellung duldeten. So begann ich schon als kleiner Steppke beim Bauern auf dem Feld Kartoffeln zu stoppeln (Handnachlese hinter der Maschine), das heute Gropiusstadt heißt. Das war mein erstes selbstverdientes Geld.
Die nächste Stufe der Karriereleiter hieß Zeitungsjunge. Dieser Job bescherte mir mein erstes regelmäßiges Einkommen. Nach meiner Erinnerung machte ich das so von 10 bis 13 Jahren. Mit 14 ging ich dann in den Ferien regelmäßig in die Fabrik als Hilfskraft. Immer in der ersten Hälfte, denn in der zweiten war ich mit einem Nato-2-Mann-Zelt auf dem Rücken und einem Freund an der Seite auf Achse. 4,95 DM betrug mein Stundenlohn. Viel mehr bekommt eine Bäckereiverkäuferin heute auch nicht. So doll hat sich unsere Gesellschaft in den letzten 50 Jahren wohl doch nicht verändert. Mit 17 fing ich meinen Führerschein an, und mit 18 hatte ich meinen »Kugelporsche«. Während meiner Ausbildung verdiente ich mir als Stadtführer für westdeutsche Gruppen in der Frontstadt recht ordentliches Geld dazu. Ich gebe es zu, wir Jugendlichen waren damals genauso
konsumorientiert wie die jungen Leute heute. Allerdings wäre niemand von uns auch nur im Traum auf die Idee gekommen, im Rathaus dafür die Kohle anzufordern. Wenn man etwas erreichen will, muss man reich geboren werden oder etwas tun.
Aus meiner Sicht sind viele Dinge der Gegenwart nur unter dem eingetretenen Paradigmenwechsel zu verstehen: weg von der Eigenverantwortung hin zu der Erwartung, der Staat trage die Verantwortung für das Wohl jedes Einzelnen und habe für seine Bedürfnisbefriedigung zu sorgen.
Am 30. Juni 2012 zählte Neukölln 315 652 Einwohner. Davon hatten 128 359 oder 41 % einen Migrationshintergrund, waren »nicht-deutscher Herkunftssprache« (ndH), wie das im Amtsdeutsch heißt. Migranten oder Einwanderer oder Ausländer also. Die Begriffe sind vielfältig, aber keiner ist ganz treffend. Der Lebensrealität am nächsten kommt wohl die Bezeichnung »Einwanderer«. Sie ist aber auch die unbeliebteste. Denn ein Großteil der Politik hat heute immer noch ein Problem damit, zu akzeptieren, dass die Bundesrepublik Deutschland nach den USA und vor Russland die zweitstärkste Einwandererpopulation der Erde aufweist. Der südlichste aller Ministerpräsidenten behauptete noch im vorigen Jahr immer wieder: »Deutschland ist kein Einwanderungsland«. Eine beliebte Lebenslüge der letzten 50 Jahre. Angesichts von 16 Millionen Spätaussiedlern, Asylbewerbern, Flüchtlingen und Scheinflüchtlingen, Anwerbearbeitnehmern (sprich: Gastarbeitern), nachgezogenen Familienmitgliedern, hier geborenen Kindern und Enkelkindern ist das schon ein schneidiger, wenn auch wenig geistreicher Spruch. Rund 20 % beträgt der Bevölkerungsanteil der Migranten in Deutschland insgesamt. Das ist mehr als eine qualifizierte Minderheit.
Während vielleicht viele von Ihnen an dieser Stelle ausrufen, das ist ja furchtbar, sage ich: »Und das ist auch gut so.« Aber davon später mehr im Text zur demographischen Entwicklung.
Die statistischen Zahlen bilden allerdings nicht die Realität ab: Es ist davon auszugehen, dass es eine unbekannte Zahl von aus Versehen nicht angemeldeten Bewohnern oder Besuchern gibt. Da das Bürgeramt kein statistisches Merkmal für »illegal« kennt, wissen wir nicht genau, um wie viele Menschen es sich dabei handelt. Wir rechnen in Neukölln mit etwa 10 000 bis 15 000. Hierdurch entsteht ein Anteil von nicht bio-deutscher oder auch ethno-deutscher (sorry, diese Wortungetüme entspringen dem hilflosen Versuch, klare Begriffe zu finden) Bevölkerung von knapp unter 50 %. Ich werde im Folgenden jedoch nur die offiziellen Bevölkerungszahlen zugrundelegen. Der Aspekt der Illegalen bleibt unberücksichtigt.
Geographisch wie bevölkerungsmäßig ist Neukölln durch die Trennlinie des Teltowkanals in Nord und Süd geteilt. Der heutige Norden entspricht grob dem alten Rixdorf, und der bis an die Landesgrenze nach Schönefeld reichende Süden mit seinen Ortsteilen Britz, Buckow, Gropiusstadt und Rudow setzt sich zusammen aus den 1920 eingemeindeten Dörfern bzw. der in den 1960er Jahren errichteten Neubausiedlung. Die Bevölkerungszahl teilt sich an der Kanalgrenze etwa zur Hälfte. Aufgrund der Althausbebauung mit Substandard, aber dafür billigen Wohnungen war der Nordteil des Bezirks die von den sich niederlassenden Gastarbeitern bevorzugte Region. Hieraus ist in den folgenden Jahrzehnten die Verteilung entstanden, dass 65 % der Einwanderer (82 000) im Norden und 35 % (44 000) im Süden leben. Daraus ergibt sich ein Bevölkerungsanteil von 52 % im Norden und von 28 % im Süden.
Die Einwanderer selbst stammen aus rund 150 Herkunftsländern. (Spätaussiedler werden in diesem Zusammenhang zu den Einwanderern gerechnet, obwohl dies formal nach dem Staatsangehörigkeitsrecht nicht korrekt ist. Entscheidend ist für uns die Lebenswirklichkeit und nicht die historische Abstammung.) Aus der EU stammen 31 500 Bürgerinnen und Bürger, 14 000 davon mit Polen als Herkunftsland. Aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen 13 000 Einwohner und aus der früheren Sowjetunion 5300. Aus islamischen Ländern stammen 56 600 Einwohner mit den Hauptherkunftsländern Türkei (37 000), arabische Länder (15 000) und speziell Libanon (6600). Aus den USA kommen 1300 Bewohner, aus Vietnam 1000, und bei 11 700 lassen sich die
Herkunftsländer nicht eindeutig zuordnen.
Innerhalb der Muslime, die mit 45 % fast die Hälfte aller Einwanderer stellen, belegen die Türkischstämmigen zahlenmäßig eindeutig den ersten Rang. Immerhin beträgt auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in Neukölln beachtliche 12 %. Der Anteil aller Muslime kann mit 18 % ebenfalls nicht als minimal eingestuft werden.