Author Topic: Neukoelln ist ueberall  (Read 4596 times)

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« on: November 04, 2012, 07:28:23 am »
Natürlich hinterließen die Veränderungen auch in der Bevölkerungsstruktur deutliche Spuren. Kindertagesstätten und Schulen sind hierbei die einzig verlässlichen Seismographen. Hier kann man zählen, beobachten, reden, Erfahrungen sammeln, Konflikte erleben und lösen. Kinder und ihre Elternhäuser sind das Original. Aus diesem Grund sind die Berichte und Hinweise von Erziehern und Lehrern aus unseren Einrichtungen für mich authentisch. Wichtiger und wegweisender als viele wissenschaftliche Untersuchungen, Abhandlungen und Ergüsse von tatsächlichen oder selbsternannten Experten, Sozialromantikern und Elfenbeinturmpolitikern. Deshalb wird den Stimmen aus der Praxis in diesem Buch auch breiter Raum eingeräumt.
In unseren Grundschulen unterrichten wir rund 14 100 Schüler, von denen 9300 einen Migrationshintergrund haben; das sind 66 %. Im Norden – zur Erinnerung: 150 000 Einwohner – sind es 87 %; 6300 von 7200 Schülern. Klassen mit gar keinen oder nur einigen wenigen Schulkindern deutscher Herkunft sind hier keine Seltenheit. Die Frage, wer hier wen wohin integriert, stellt sich da schon lange nicht mehr. Die einzigen Repräsentanten der deutschen Gesellschaft sind häufig nur noch die Lehrerinnen und Lehrer oder in den Kindergärten die Erzieherinnen und Erzieher. Ein interkultureller Transfer zwischen Kindern deutscher und nicht-deutscher Herkunft ist eher die Ausnahme.
Der Anteil der Schüler nicht-deutscher Herkunftssprache sagt für sich genommen kaum etwas über das soziale Gefüge in den Schulen aus. Erst in Kombination mit der Freistellung von der Zuzahlung bei den Lernmitteln entsteht ein Bild. Nichts zu den Lernmitteln beisteuern müssen alle Erziehungsberechtigten, die öffentliche Leistungen wie Hartz IV, Sozialhilfe, Wohngeld oder Bafög beziehen. Der Anteil betrug im Schuljahr 2011/2012 in ganz Neukölln 55 % und im Norden 79 %. Hier weisen nicht wenige Schulen sogar Befreiungen von über 90 % aus.
Wenn Sie sich von diesen Fakten wieder erholt haben, bedarf der letzte Aspekt noch der Vertiefung. Die Befreiungen bedeuten, dass in einer Schule 80 %, 90 % oder fast alle Eltern keiner geregelten, offiziellen Arbeit nachgehen. Den nicht fassbaren Teil der Aufstocker, also der Erwerbstätigen, die wegen ihres niedrigen Einkommens ergänzende öffentliche Leistungen erhalten, lasse ich an dieser Stelle einmal bewusst außen vor. Hieraus folgt, dass die Kinder in diesen Familien ohne den Einfluss der natürlichsten und entscheidendsten Triebfedern unseres menschlichen Seins sozialisiert werden: einen Lebensentwurf fertigen, ein Ziel haben, Leistung erbringen, Pläne verwirklichen, über Erreichtes Genugtuung empfinden, Misserfolge und Rückschläge verkraften, den Nachkommen ein Vorbild sein, um irgendwann mit ein bisschen Stolz auf sein Leben zurückblicken zu können. Die Kinder erleben nie, dass Vater und Mutter regelmäßig früh aufstehen und dann abends strahlend nach Hause kommen, weil sie Erfolg hatten, oder betrübt sind, weil es einen Misserfolg bei der Arbeit gab.
Die Wechselfälle des Lebens gehen nicht in die Erlebniswelt dieser Kinder ein und bereiten sie nicht auf eigene Lebenserfahrungen vor. Wenn die Lehrerin sie anfeuert: »Ihr müsst tüchtig lernen, damit ihr einen guten Schulabschluss macht, einen tollen Beruf erlernen könnt und viel Geld verdient, damit ihr eine schöne Frau heiraten und einen schwarzen BMW fahren könnt«, dann sagen unsere Kinder: »Aber Frau Lehrerin, das Geld kommt doch vom Amt.« Das sagen sie nicht, weil sie die Lehrerin ärgern wollen, sondern weil sie es nicht anders kennen. Kinder sind immer nur unser Spiegel.
In einer Grundschule haben wir bei der Feststellung der Befreiung von der Zuzahlungspflicht einmal die elterlichen Bewilligungsbescheide des Jobcenters aufgerechnet. Wir kamen auf rund 500 000 Euro pro Monat. Die gesamte Lebenswelt der Kinder dieser Schule alimentiert die Gesellschaft jährlich mit einem Betrag von sechs Millionen Euro. Ohne das Netz der Gemeinschaft wäre eine ganze Schule mit ihren Kindern nicht lebensfähig. Warum in drei Teufels Namen soll dann diese Gesellschaft nicht auch das Recht, ja die Pflicht haben, Forderungen zu stellen, wie sich diese Welt zum Wohle der Kinder und zum Wohle der Gesellschaft weiterzuentwickeln hat?
Wie dynamisch die beschriebenen Entwicklungen sind, sieht man an der Steigerung der Befreiungen von 33,5 % im Jahr 2004 auf 55 % im Jahr 2012. Die Theorie, dass sich soziale Verwerfungen mit der Zeit »verwachsen«, wird auch an dieser Stelle widerlegt.
Zur Geschwindigkeit der sich vollziehenden Entwicklung kann auch der Hinweis gelten, dass im Jahr 2000 der Anteil der nicht-deutschen Schüler an allen Schulabgängern in Neukölln 25 % betrug. Im Jahr 2011 waren es bereits 57 %. Wenn wir also über Notwendigkeiten von Veränderungen in Bildungssystemen sprechen, so tun wir das nicht über die Bedürfnisse einer kleinen Minderheit. In vielen Städten stellen die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund bereits mehr als die Hälfte der Gesamtschülerschaft. Auch die Wirtschaft muss zur Kenntnis nehmen, dass neben der sinkenden Gesamtzahl durch rückläufige Geburtenziffern mit den Einwandererkindern eine zweite Komponente bei der Gewinnung von Nachwuchskräften hinzukommt.
Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Schülerzusammensetzung kann auch ein Blick auf den Verlauf der Schulkarrieren nicht ausbleiben. Ich konzentriere mich an dieser Stelle auf die Abiturquoten. Im Jahre 2000 haben 10 % der migrantischen Schüler in Neukölln die Schule mit dem Abitur abgeschlossen. 2011 waren es 22 %. Wer hieraus eine exorbitante Steigerung der Schulerfolge von Einwandererkindern schlussfolgert, springt zu kurz. Denn ein solcher Anschein relativiert sich schnell, wenn man die Zahlen mit der Abiturquote deutschstämmiger Schüler vergleicht. Sie ist im selben Zeitraum von 25 % auf 42 % angestiegen. Die Bildungskluft zwischen den Schülern deutscher und nicht-deutscher Herkunft aus dem Jahr 2000 hat sich also mitnichten verringert. Die migrantischen Schüler haben noch immer nicht im gleichen Umfang Teilhabe am Bildungserfolg wie ihre deutschen Mitstreiter. Im Gegenteil, die Schere ist sogar weiter auseinandergegangen. In Zahlen ausgedrückt: Beim letzten Jahrgang haben 42 % der deutschen Schüler mit der allgemeinen Hochschulreife abgeschlossen, bei den ndH-Schülern hingegen nur 22 %. Die Differenz hat sich von 15 % auf 20 % erhöht.
Dies ist ein gutes Exempel, wie in der politischen Darstellung Sachverhalte schöngeredet und problematische Entwicklungen verschwiegen werden. Die Erfolgsmeldung in unserem Beispiel, dass sich die Abiturabschlüsse in Neukölln in den letzten elf Jahren mehr als verdoppelt haben, ist faktisch vollkommen richtig. Dass dieser Erfolg eingebettet in eine allgemeine Zunahme höherwertiger Schulabschlüsse und bei den nicht migrantischen Schülern die Erfolgsquote deutlich stärker angestiegen ist, wird aber nicht kommuniziert. Ohne die Leistung des einzelnen Schülers schmälern zu wollen, bleibt für mich die Feststellung, dass wir auf dem Bildungssektor bei der Frage der Chancengerechtigkeit nicht wesentlich vorangekommen sind.
Natürlich möchte ich auch den Vergleich der Berliner Zahlen nicht schuldig bleiben. Während in Berlin durchschnittlich 48 % aller deutschstämmigen Schüler ihre Schullaufbahn mit dem Abitur beendeten, waren es bei den Schülern mit Migrationshintergrund lediglich 24 %. Also ein identisches Bild. Die Anzahl der ndH-Schüler nimmt stark zu, auch die Bildungserfolge zeigen eine leichte Tendenz nach oben auf, ohne allerdings auch nur im Entferntesten an den Standard der deutschstämmigen Schüler heranzukommen. Schönreden ist hier auch völlig fehl am Platz. Unser Bildungssystem schafft es über ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Einwanderung immer noch nicht, Schüler unabhängig von ihrer Herkunft zu integrieren.
Das Unwohlsein über die gefeierten Erfolgsmeldungen der Schulabschlüsse verstärkt sich
noch bei einer weiteren Differenzierung. Zumindest unter Insidern ist es kein Geheimnis, dass die einzelnen Ethnien sehr ungleich, gemessen an ihrem Schüleranteil, an den höheren Schulabschlüssen beteiligt sind. Nach einer Erhebung des Senats im Jahr 2006 betrug zum Beispiel der Anteil der türkischstämmigen Schüler an allen ndH-Schülern 42 %. An den Abituren aller ndH-Schüler waren sie jedoch nur zu 23 % beteiligt. Polnische Schüler mit einem Mengenanteil von 4,2 % waren es hingegen zu 10 % und vietnamesische Schüler bei einem Anteil von 4,1 % zu 6 %.
Die Negativskala zeigt im Vergleich der deutschen mit den ndH-Schülern zwar eine inzwischen etwas abgeflachte Kurve, die aber immer noch deutliche Unterschiede ausweist. In Neukölln verlassen 14 % der Schüler die Schule ohne Abschluss (berlinweit 9 %). Bei den Schülern mit Migrationshintergrund sind es 18 % (berlinweit 14 %). Ohne Schulabschluss oder mit dem Hauptschulabschluss verlassen 42 % der Schüler in Neukölln die Schule (in Berlin 29 %). Bei den Schülern nicht-deutscher Herkunft sind es 50 % (in Berlin 43 %). Dass der Hauptschulabschluss nicht selten ein Akt pädagogischer Gnade der Lehrerin oder des Lehrers ist, sei mit dem Mantel des Schweigens bedeckt.
Die Schwierigkeit unseres Bildungssystems, gerade die Schüler mit Migrationshintergrund zu erreichen und zu motivieren, lässt sich auch an den Neuköllner Ergebnissen der Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss 2012 ablesen. Von den teilnehmenden Realschülern waren 69 % nicht-deutscher Herkunft. Wir sehen hier bereits ein deutliches Übergewicht der Einwandererkinder in den Realschulen. Von diesen Prüflingen haben lediglich 64 % im Fach Deutsch bestanden und nur 17 % (!) in Mathematik (die Durchfallquote aller Mädchen betrug in Mathematik 91 %). Noch Fragen? Insgesamt haben zwei Drittel der Schüler den Mittleren Schulabschluss geschafft. In Bezirken mit weniger starken Migrantenanteilen liegt diese Quote bei über 80 %.
Zur Bestehensquote allgemein muss man allerdings noch wissen, dass in Berlin seit dem Prüfungsjahrgang 2011 durch ein mündliches Nachprüfen das Manko bei der schriftlichen Prüfung ausgeglichen werden kann. Man kann das Desaster also wegquatschen. Damit relativieren sich natürlich Prüfungsergebnisse. Ich entstamme noch einer Generation, bei der es mit einer Fünf in Deutsch oder Mathematik in der heutigen Sprache hieße »no way, once again, please«. Ich persönlich stehe dem Mittel von Leistungsabsenkungen zur Erhöhung der Bestehensquote außerordentlich distanziert gegenüber. Man trainiert einen Hochspringer auch nicht damit, dass man die Latte niedriger hängt. Die Leistung muss dem Standard angepasst werden und nicht umgekehrt. Der Aufprall der jungen Menschen wird in der realen Welt des Berufslebens immer furchtbarer, je mehr wir sie mit einer Scheinwelt ihrer Kompetenzen in Watte packen.
Der Anteil der Bevölkerung mit fehlenden allgemeinen oder beruflichen Abschlüssen, also ohne zumindest Hauptschulabschluss oder Anlernausbildung, betrug 2010 in Neukölln 30,3 %. Im Jahr 2005 waren es 32,5 %. Demnach ist in sechs Jahren nur eine marginale Verbesserung eingetreten. Diese Werte übersteigen diejenigen für den Bezirk Pankow um das Vierfache und die für den Bezirk Treptow-Köpenick um das Dreifache. Deutlich auffällig ist auch der Bezirk Mitte, der ebenfalls einen starken Anteil von Einwanderern an der Gesamtbevölkerung aufweist. Interessant ist in diesem Zusammenhang noch eine Auswertung des Anteils der Bevölkerung unter 60 Jahren, der in einem Haushalt ohne Erwerbstätige lebt. In Neukölln ist das jeder Vierte mit 25,8 % gegenüber 27,2 % im Jahr 2005. Auch in diesem Feld ist der Bezirk Mitte der einzige Bezirk, der mit 27,2 % im Jahr 2010 sogar noch schlechter abschnitt.
Die Arbeitslosenquote betrug im Frühjahr 2012 in Neukölln 22 %. Regionalisiertes statistisches Material über die Arbeitslosigkeit bei Einwanderern liegt mir nicht vor. Wir schätzen die entsprechende Quote allerdings auf mindestens 35 %. Dies ist wahrscheinlich noch eine sehr konservative Betrachtungsweise.
Nur jeder siebte Arbeitslose in Neukölln erhält das originäre Arbeitslosengeld I. Das Gros hat keinen Anspruch auf diese Versicherungsleistung, weil entweder die Anwartschaft nicht erfüllt wird oder die Arbeitslosigkeit schon länger besteht. Die Masse bezieht also steuerfinanziertes Hartz
IV. Das »Arbeitslosengeld II«, wie es korrekt heißt, hat die frühere Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe abgelöst.
Mit der Einführung von Hartz IV hat sich die Zahl der Menschen mit Transfereinkommen – im Jargon auch Stütze oder Sozialknatter genannt – erheblich ausgeweitet. Betreute das Neuköllner Sozialamt früher rund 50 000 Kunden, so sind es im Jobcenter konstant rund 80 000. Interessant ist, dass konjunkturelle Schwankungen nur einen geringen Einfluss auf den Kundenstamm des Jobcenters haben. Nach meinen Beobachtungen beträgt die Bandbreite der Zu- und Abgänge maximal 5 %. Jeweils im Juni von 2007 bis 2012 belief sich die Gesamtzahl zwischen 77 400 als unterstem Wert und 80 950 im oberen Bereich. Die Zahl der unter 25-Jährigen beträgt nach gleichem Schema 31 730 bis 33 200. Die Zahl der erwerbsfähigen Hilfeempfänger variiert von 56 200 bis 58 200. Dennoch handelt es sich nicht um statische Akten. Innerhalb eines Jahres integriert das Jobcenter 11 000 Kunden in den Arbeitsmarkt oder in Maßnahmen. Der sogenannte Drehtüreffekt muss also eine enorme Bedeutung haben. Nach Angaben des Neuköllner Jobcenters befinden sich fast 60 % aller in den Arbeitsmarkt Vermittelten schon nach sechs Monaten wieder im Leistungsbezug. Diese sehr kurzfristigen Beschäftigungsepisoden hängen mit der Niedrigqualifikation der Hilfeempfänger zusammen. 28 % verfügen über keinen Schulabschluss und 67 % über keine Berufsausbildung. Sie sind natürlich die ersten, die bei betrieblichen Maßnahmen zur Disposition stehen, aber auch mangelndes Durchhaltevermögen und Unstetigkeit spielen eine Rolle.