Author Topic: Neukoelln ist ueberall  (Read 4579 times)

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« on: November 04, 2012, 07:30:24 am »
Das gesamte kulturelle Leben und die üblichen Lebensabläufe sind plötzlich in Frage gestellt, wenn sich die Bevölkerung zu einem erheblichen Maß austauscht. Ein Beispiel aus dem Alltag ist der Sport. Der Sport ist der beste Motor der Integration, so heißt es immer. Na ja, wenn man es auf den Fußball reduziert und die weniger freundlichen Geschehnisse auf so manchem Fußballplatz am Sonntag außen vor lässt. Die Realität ist einfach so, dass bestimmte Sportarten von Muslimen nicht betrieben werden, und Mädchensport gibt es bei ihnen schon gar nicht. So kann es nicht verwundern, dass über die Jahre deutsche Vereine mit traditionellen Sportarten wie Turnen, Handball oder auch Volleyball von der Bildfläche verschwunden sind. Ein Stück Kultur, aber auch der Sportverein als Schmiede von Regelakzeptanz, Kameradschaftsgeist und Solidarität ist natürlich seiner Wirkung beraubt. Ich leite aus dieser Darstellung keine konkreten Schlussfolgerungen ab, aber ich möchte schon verdeutlichen, dass Einwandererviertel die herrschenden Rollen und Riten der einheimischen Bevölkerung nicht automatisch für sich übernehmen und insofern ein Kulturverlust eintritt.
Die deutschen Normen gelten nur so lange, wie sie nützen und/oder einträglich sind. Danach verlieren sie schnell an Bedeutung. An ihre Stellen treten rituelle Gebräuche und tradierte Verhaltensweisen, die eine enorm verbindliche Wirkung entfalten. Davon abweichende Lebensarten werden schnell als schlecht, schlampig oder ungläubig abqualifiziert. »Die leben wie die Deutschen« ist nicht als Kompliment gemeint. Bei den Betroffenen führt das zu Verunsicherung und
Anpassung. Die Deutschen wollen uns nicht und benachteiligen uns, weil wir Ausländer sind. Dann möchte ich auf keinen Fall, dass auch die eigenen Leute uns verstoßen.
Parallelgesellschaften erreichen mitunter die Bedeutung der Familie. Ihrem Wohl ist alles unterzuordnen. Jeder hat die Pflicht, alles zu tun, was sie schützt und stärkt, und alles zu unterlassen, was ihr oder ihrer Ehre schadet. So fragte ein muslimischer Schlüsseldienst beim Imam per E-Mail an, ob er der Polizei helfen darf, die Wohnung eines Glaubensbruders zu öffnen, oder ob ihn das sündig macht.
Die Botschaften, die wir zu diesem Thema aussenden, sind zu schwach bis nahezu absurd. Wenn die Bundeskanzlerin an die Einwanderer appelliert, die deutschen Gesetze zu respektieren, ist das fast schon eine Unterwerfungsgeste. Nicht anders empfinde ich die kürzlich erfolgte Reform des Eherechts: Seit 2009 ist das Verbot rein kirchlicher Ehen aufgehoben. »Damit werden der muslimischen Vielehe« – vier Ehefrauen sind erlaubt – »und der Zwangsverheiratung in Deutschland Tor und Tür geöffnet«, kritisierte die türkische Frauenrechtlerin und Rechtsanwältin Seyran Ateş völlig zu Recht. Solche »Ehen light« allein vor Allah, die selbst in der Türkei nicht zulässig sind, führen dazu, dass die Frauen völlig rechtlos sind und keinerlei Unterhalts- oder Erbansprüche geltend machen können. Gleichstellungspolitisch ein riesiger Schritt zurück zu Fred Feuerstein. Die Begründung hierfür müssen Sie sich auf der Zunge zergehen lassen: »Die Erfahrungen haben gezeigt, dass andere (als die katholische und evangelische Kirche) in Deutschland vertretene Religionsgemeinschaften trotz wiederholten Hinweises durch verschiedene deutsche Stellen nicht dazu bewegt werden konnten, ihre Eheschließungspraxis nach den §§ 67, 67a Personenstandsgesetz (= kirchliche Trauung erst nach standesamtlicher Eheschließung zulässig) auszurichten. Es sollte daher bei dem Wegfall der im Verhältnis zu den beiden großen Kirchen nicht erforderlichen und sonst offenbar wirkungslosen Vorschrift verbleiben.« Also auf Deutsch: Die Evangelen und Katholiken halten sich dran, andere wie die Muslime scheren sich eh einen Dreck um die Vorschrift, also kann sie auch gleich weg. Ich finde, größer kann ein Offenbarungseid nicht ausfallen. Wenn das Beispiel Schule macht, könnten wir so manchem Früchtchen das Leben in Deutschland leichter und bequemer machen: Vorschriften, die ohnehin keiner beachtet, schaffen wir einfach ab.
Wie schnell und devot sich unsere Gesellschaft zurückzieht, zeigt auch ein anderes bemerkenswertes Beispiel: In der Jugendarrestanstalt in Berlin erhalten die Insassen grundsätzlich kein Essen mehr, das Schweinefleisch enthält. Die Begründung für den Erlass: »70 % der dortigen Arrestanten haben einen Migrations-Hintergrund. Sie dürfen aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch essen. Extrawürste lohnen sich nicht.« Alles klar, ist doch logisch. Wer die meisten Straftäter stellt, diktiert auch den Speiseplan. Allerdings stelle ich mir vor, was bei umgekehrten Verhältnissen wäre. Würden dann bei den 30 % Muslimen auch Leberwurst und Wiener auf den Tisch kommen? Ich glaube kaum. Wäre auch nicht in Ordnung.
Da ist der Rotterdamer Oberbürgermeister Ahmed Aboutaleb klarer und bestimmter: »Ich diskutiere mit niemandem über die Gesetze dieses Landes. Wem sie nicht gefallen, der kann sich gerne ein Land suchen, wo er mit ihnen besser zurechtkommt.« Wir jedoch stellen die Unabdingbarkeit unseres Rechtsstaates und seiner Normen immer wieder selbst in Frage. Was ist es anderes als Kulturrelativismus, wenn der Kreuzberger Bezirksbürgermeister seine politische Linie wie folgt beschreibt: »Warum sollen Bürger mit bestimmtem Background nicht in einer Parallelgesellschaft leben, wenn wir in einer Gesellschaft mit nur Parallelgesellschaften leben? Im Sportverein herrschen eigene Regeln. Wenn ich in der Karnickelzucht engagiert bin, bin ich dort auch in einer Parallelgesellschaft (…). Man sollte also auch Arabern ihre Parallelgesellschaft gönnen.« Das Auseinanderdriften der Gesellschaft so zu verharmlosen ist einfach nur verantwortungslos.
Wie immer darf man natürlich nicht alle und alles über einen Kamm scheren. Auch muss man nach meinem Dafürhalten eine grundsätzliche Trennung vornehmen. Und zwar zwischen
denen, die im Rahmen der Anwerbeabkommen als Gastarbeiter nach Deutschland kamen – sie hatten den Spirit, mit ihrer Hände Arbeit Wohlstand für ihre Familie in der Heimat zu schaffen –, und denen, die in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts mit völlig anderen Beweggründen eingewandert sind. Sie kamen als Asylbewerber, Bürgerkriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge oder als Teil einer ganzen Armutswanderung. Ihre Triebfeder war, den heimatlichen Zuständen zu entkommen.
Ich will an zwei Beispielen festmachen, zu welchen unterschiedlichen Auswirkungen diese mentale Divergenz führte. Es handelt sich um zwei Familien, die mir in den letzten Jahren begegnet sind. Die eine Familie war eine klassische Gastarbeiterfamilie. Sie hatte nur ein Ziel: Geld verdienen, es zusammenhalten, um den Kindern den Start in ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie wohnte in der Sonnenallee. Am Tage arbeiteten die Eltern in der Fabrik. Daneben versahen sie die Hauswartsstelle, und vor der Arbeit wurden Zeitungen ausgetragen. Bei den Hauswartstätigkeiten, also zum Beispiel beim Treppenputzen, mussten die Kinder mit ran.
Heute wohnen die beiden Alten wieder in ihrem Häuschen in der Nähe von Istanbul. Sie haben die deutsche Kleingärtnermentalität mit in die Türkei zurückgenommen. Die Nachbarn bewundern die bunten Blumen, die immergrünen Gewächse, die völlig unüblich in ihrem Garten blühen, und – nicht zu vergessen – die liederlich herumstehenden Gartenzwerge. Die Tochter ist in der Berliner Verwaltung tätig. Ich glaube, sie bereitet sich gerade auf eine neue Aufgabe als Oberamtsrätin vor. Der Sohn hat seinen Weg in einem großen Metallbetrieb gefunden. Beide haben hier Familien gegründet. Mit Flatrates kann man wunderbar in Verbindung bleiben und dank Billigfliegern sich auch mehrfach im Jahr sehen. Bei ihrem letzten Besuch traf ich die Eltern. Ihre Worte habe ich nicht vergessen: »Herr Bürgermeister, das ist hier nicht mehr unsere Sonnenallee. Hier würden wir heute nicht mehr wohnen wollen.« Man sollte solche spontanen Emotionen nicht überbewerten. Aber ein Zeichen sind sie schon.
Die zweite Familie entstand im Jahre 1990, als eine junge Frau und ein junger Mann als Asylbewerber aus dem Libanon nach Berlin kamen. Sie gründeten hier eine Familie und haben inzwischen zehn Kinder, von denen einige die Schulausbildung bereits beendet haben. Niemand von dieser Familie hat, solange er in Deutschland lebt, auch nur einen einzigen Tag selbst zu seinem Lebensunterhalt etwas beigesteuert. Ich höre förmlich die empörten Rufe, dass das genau die Familien sind, die Unmut erzeugen. Allerdings haben wir zu diesem Werdegang unser gehöriges Maß beigetragen. Über viele Jahre war unsere Gesellschaft nicht in der Lage, den Asylantrag endgültig zu bescheiden. Eine lange Zeit der Duldung war die Folge, in der die Eltern nicht arbeiten durften. Und so hat sich die Familie über zwei Jahrzehnte daran gewöhnt, dass Deutschland ein Land ist, in dem man Geld erhält, ohne dass man dafür eine Gegenleistung erbringen muss.
Ein Staat und eine Gesellschaft müssen klare Konturen haben. Es kann zu den Lebensnormen nur eine Verbindlichkeit geben, nämlich die der geltenden Rechtsordnung. Die Chinesen sagen nicht umsonst: »Du kannst nicht Diener zweier Herren sein.« Unser Gesellschaftssystem ist völlig anders aufgebaut als das der Herkunftsländer vieler Einwanderer. Ein Mischmasch geht nicht. Deshalb funktionieren Parallelgesellschaften nur, solange sie ihre Abschottung aufrechterhalten können: nämlich solange »die Deutschen« ein Schreckgespenst bleiben und man innerhalb der Community den Druck aufrechterhalten kann, sich von den Deutschen, den Ungläubigen, fernzuhalten. Das gelingt nicht immer. Es ziehen Einwandererfamilien aus Neukölln fort, die mir offen sagen: »Herr Bürgermeister, wir halten es hier nicht mehr aus. Wir wollen in Ruhe und Frieden leben. Meine Frau und ich sind es leid, uns im Supermarkt oder auf dem Spielplatz beschimpfen zu lassen, dass wir aus dem und dem Grund schlechte Moslems, schlechte Türken, schlechte Araber oder sonst was sind. Wir wollen auch nicht immer wieder erklären müssen, warum unsere Tochter kein Kopftuch trägt.«
Die vorstehenden Passagen werden dem einen oder anderen nach dem Motto »Der hat ja eine Einwandererphobie« stark übertrieben vorkommen. Nun ja, zu dieser Auffassung kann man
gelangen. Insbesondere dann, wenn man fernab ist, keine Verantwortung spürt oder trägt. Wem es egal ist, wie sich die Gemeinschaft und damit der Lebensraum jedes Einzelnen entwickelt, der trifft damit den aktuellen Mainstream. Die Gesellschaft liebt Placebos und Sedierung: Alles wird gut.
Wer wie ich in den beschriebenen Verhältnissen tagtäglich umgehen muss, sieht sie fast schon wieder als Normalität. Dabei gehen selbst mir manchmal die Maßstäbe verloren. Als ich das Untersuchungsergebnis für die Einschulung vom letzten Herbst erhielt, habe ich kein bisschen gezuckt. Und dennoch ist es bei einigem Nachdenken unglaublich, dass wir insgesamt 39 % aller Einwandererkinder eingeschult haben mit gar keinen oder nur sehr fehlerhaften Deutschkenntnissen. Dass dies nach 48 % in 2009 und 49 % in 2010 schon ein erheblich niedrigerer Wert ist, wirkt dabei auf mich kein bisschen beruhigend (zumal zwischen 2009 und 2011 die Sprachauffälligkeiten bei den deutschstämmigen Abc-Schützen von 10 % auf 17 % gestiegen sind). Wir schulen Kinder der dritten oder vierten Einwanderergeneration ein, die der Landessprache nicht mächtig sind. Von denen fast 10 % sogar ohne jeden Bezug zur Sprache sind. Obwohl zumeist einer der Elternteile in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Wo haben sie bisher gelebt? Wie wird in der Familie gesprochen? Welcher Fernsehsender ist eingeschaltet?
Ich glaube, wir alle können diese Fragen beantworten: Man spricht die Sprache aus dem Dorf von Opa. Wir sind und bleiben Türken, Araber, Somalier oder was auch immer. Das ist eben der Unterschied zu Einwanderern in den USA. Diese wollen Amerikaner werden. Die Menschen aber, über die ich spreche, wollen keine Deutschen werden. Deswegen leben und bleiben sie in ihrer Welt, und deswegen bemühen sie sich nicht, aktiv das deutsche oder mitteleuropäische Wertesystem zu erfassen. Es ist auch leicht für sie, diesen Weg zu wählen. Man muss in Stadtlagen wie Neukölln nicht die deutsche Sprache beherrschen. Das Alltags- und Dienstleistungsangebot der eigenen Ethnie ist inzwischen perfektioniert und vollkommen. Benötigt man einen Behördenkontakt, regelt das ein Bekannter als Sprachmittler, oder man besteht auf einem Dolmetscher. Wird diesem Willen nicht nachgegeben, gerät die Behörde in die Kritik, weil sie nicht kultursensibel ist.
Ob es sich einfach um menschliche Bequemlichkeit oder eine aktive Verweigerungshaltung handelt, ist naturgemäß im Einzelfall schwer zu entscheiden. Bei meinen vielfältigen Gesprächen über einen langen Zeitraum mit unmittelbar vor Ort tätigen Menschen in Kindergärten, Schulen, Migrantenorganisationen oder auch direkt mit Einwanderern wird immer wieder ein Wert von 30 % der Einwanderer genannt, die – entweder bewusst oder aus Gleichgültigkeit – an der deutschen Gesellschaft vorbeileben. Ich kann nicht belegen, ob diese Einschätzungen zutreffen. Aus der Erfahrung heraus halte ich es für nicht unwahrscheinlich.
Die Auffassung, das ist eben so und basta, ist bequem. Dann lassen wir die ethnischen Kolonien oder »asymmetrischen Gesellschaften«, wie sie der verstorbene Stadtsoziologe Professor Dr. Hartmut Häussermann oder der Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad genannt haben, doch einfach in Ruhe. In Kanada, in den USA, in Australien, überall gibt es »ethnische Stadtviertel«. Was stört uns an Deutsch-Izmir in Berlin? Das ist in der Tat kein Spaß, sondern von erheblicher Relevanz. Bereits heute liegt der Anteil der Einwandererkinder bis 18 Jahren bei 67 %. In Nord-Neukölln sind es schon 80 %. Spätestens in zehn Jahren wird Neukölln, zumindest aber Nord-Neukölln eine Einwandererstadt sein.
Wir entscheiden heute mit unserer Politik, ob Neukölln dann nur noch auf dem Atlas in Mitteleuropa liegt oder auch in den Köpfen und in den Herzen der Menschen, die dort leben. Deswegen ist es eben nicht egal, ob die Eltern ihre Kinder erziehen, wie sie sie erziehen, und welche Werte sie ihnen vermitteln. Aus meiner Sicht steht mehr auf dem Spiel als in der witzigen Bemerkung einer bedeutenden Person, die sich beim Amtsantrittsgespräch bei mir einführte mit der Bemerkung: »Eines habe ich als allererstes gelernt: In Neukölln herrscht eine andere Straßenverkehrsordnung.«