Author Topic: Neukoelln ist ueberall  (Read 4581 times)

KarlMartell

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Neukoelln ist ueberall
« on: November 04, 2012, 12:51:55 am »
Vor Ihnen liegt ein politisches Buch, keine wissenschaftliche Expertise. Die hätten Sie vielleicht auch gar nicht gekauft. Ich bin nur der Bürgermeister eines Berliner Bezirks mit über 315 000 Einwohnerinnen und Einwohnern und der Flunderperspektive seines Rathausturmes, kein Wissenschaftler. Die Welt, die ich beschreibe, ist die Neuköllner Welt. Die Ableitungen, die ich für mich vornehme, müssen für die Gegebenheiten Ihrer Stadt und für Ihr Lebensumfeld nicht zutreffen. Die Entwicklung kann bei Ihnen sogar einen gegenteiligen Verlauf genommen haben. Insofern verschreibt dieses Buch nicht zwingend Rezepte. Ausschließen kann ich es aber nicht. Denn es gibt viele Neuköllns. Sie heißen nur anders. Doch egal, verständigen wir uns darauf, dass es einfach nur die aufgeschriebene Wirklichkeit an einem bestimmten Ort in der Bundesrepublik Deutschland ist.
Eine weitere Vorbemerkung ist wichtig. Um den zu erwartenden Aufgeregtheiten der organisierten Empörung vorzubeugen, müsste eigentlich auf jeder der folgenden Seiten oben und unten in Fettdruck der Hinweis stehen, dass die beschriebenen Sachverhalte niemals alle Einwanderer, alle Muslime, alle Hartz-IV-Empfänger und alle Jugendlichen meinen, ja, meinen können. Die menschliche Gesellschaft ist zu heterogen, zu vielschichtig, bunt und schillernd, als dass es möglich wäre, die Verhaltensweisen der Menschen in einem Universalcluster einheitlich zu definieren. Also, ich kann Sie beruhigen, liebe Leserin, lieber Leser, Sie sind nicht gemeint. Denn ich kenne Sie gar nicht.
Wenn ich auch heute wiederhole: »Multikulti ist gescheitert«, dann heißt das natürlich nicht, dass es keine gelungenen Integrationen in Deutschland gegeben hat. So rituell diese Sinnverfälschung unzulässigerweise immer wieder unterstellt wird, so deutlich wird die Verweigerung bestimmter politischer Kreise, sich ernsthaft mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Wirklichkeitsverweigerung und Lebenslügen unter der Überschrift »Weil nicht sein kann, was nicht sein darf« sind nach wie vor eine beliebte Spielart der Political Correctness.
Um es an dieser Stelle für jeden erneut nachlesbar zu machen: Ja, es gibt unzählige, vielfältig gelungene Integrationen. Mein Bekanntenkreis und vielleicht auch der Ihre ist reich an herausragenden Beispielen. Es gibt sie, die Familien und Menschen, die in diesem Land angekommen sind, sich wohlfühlen, ein Leben in Frieden und Wohlstand gefunden haben und hier auch die Perspektive für ihre Nachkommen sehen. Sie sind jedoch nicht das Thema dieses Buches. Dieses Buch beschäftigt sich mit der anderen Seite der Medaille. Mit den Stadtvierteln, in denen sich die gesammelt haben, die noch auf der Suche nach dem Schlüssel für die Tür der Gesellschaft sind. Mit der Seite der Medaille, die eigentlich seit Jahrzehnten versucht, ein Signal zur Beendigung von Lethargie und nahezu perfekt getarnter Tatenlosigkeit zu setzen und uns die Augen für Realitäten zu öffnen, die einen gesellschaftlichen wie kulturellen Rückwärtsgang bedeuten. Dafür, dass es Verhältnisse gibt, die geändert werden müssen. Die einen intervenierenden Staat und eine empathische Gesellschaft brauchen und keinen beobachtenden Staat mit ignoranter Arroganz. Wenn wir uns um die Verkehrssicherheit an einer Straßenkreuzung kümmern müssen, zählen und betrachten wir da die Zahl der Unfälle oder erfreuen wir uns an den Fahrzeugen, die die Kreuzung unfallfrei passiert haben?
Über die Integration und all ihre Nebenthemen gibt es in Deutschland keinen Erkenntnismangel. Wir haben ein Handlungsdefizit. Über die Fragen der unterlassenen Integrationspolitik, der imaginären Integrationspolitik, des Multikulti-Irrtums, der kulturellen Identitäten, des kultursensiblen Umgangs mit bisher fremden Riten und Gebräuchen, der Willkommenskultur, der Integrationsverweigerung, der nachholenden Integration, der integrationsbereiten Gesellschaft, der Überfremdungsängste, des Lokalpatriotismus und der Verantwortung der Gesellschaft, den sozialen Frieden zu bewahren, also den Laden zusammenzuhalten, gibt es Bücherwände gefüllt mit Diplom-, Promotions- und Habilitationsarbeiten, Sachbüchern und Romanen. Jede Woche kommen kleinere oder größere
Artikel in den Printmedien, Reportagen, Filme und Theaterstücke hinzu.
Ich beziehe mich an einigen Stellen durchaus auf wissenschaftliche Forschungs-, Studien- und Untersuchungsergebnisse von Instituten oder Einzelwissenschaftlern. Wir wissen allerdings, dass es zu jeder These eine Antithese gibt, zu jeder Studie eine mit gegenteiligem Ergebnis und zu jeder Untersuchung widersprechende Erkenntnisse. Dass ich vorwiegend die Belege zitiere, die meine Erfahrungswelt bestätigen, bitte ich mir nachzusehen. Zum Ausgleich toleriere ich Ihre abweichende Wahrheit, falls Sie sie bis zum Ende des Buches nicht still und dezent aufgegeben haben sollten.
Ich kenne kein gesellschaftspolitisches Thema, das so vordergründig flüchtig-intellektuell als verbale Luftnummer angesagt ist wie die Integration. Jeder ist Fachmann, jeder Dr. cand. ein Wissenschaftler und jede kurzzeitige Wohnepisode ein unerschütterlicher Erfahrungsschatz. Ich kenne aber auch kein Thema, bei dem so viel geheuchelt und gelogen wird. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die Wahrheit tut weh, und jeder möchte Schmerzen vermeiden. Auch die Gesellschaft. Die Politik bevorzugt eine schläfrige und eher träge Betrachtungsweise von Themen. Es könnte sonst ungemütlich werden, wenn die Forderung nach Abhilfe entsteht. Wieder andere sind generell für eine regelfreie und schrankenlose, sich selbst verwirklichende Gesellschaft. Meinen tut man damit aber meistens nur sich selbst. Im Idealfall auf Kosten anderer. Lebensregeln, die für den einen unabdingbare Voraussetzung für ein friedliches und konfliktfreies Miteinander sind, sind für einen anderen spießig, reaktionär und vordemokratisch. Und dann gibt es da noch links und rechts. Links, das sind die Guten, voller Verständnis und Hinwendung. Sie sagen, Ordnungsprinzipien und Sanktionen sind staatliche Repressionen, Ausläufer des Spätkapitalismus in seiner Verendungsphase. Alle, die sich nicht in dieser Aufzählung wiederfinden, sind rechts, konservativ, latent oder in echt rassistisch und überhaupt von gestern.
Zugegeben, die vorstehenden Zeilen sind arg zugespitzt. Eigentlich schon bösartig. Aber man kann auch bissig werden, wenn man sich der schulterzuckenden Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die das Thema Integration begleitet. Dieses vollmundig-inhaltsleere Gequatsche, stets verbunden mit engagiertem und entschlossenem Nichtstun, der Political Correctness, die meist nur ein Alibi für die professionelle Tatenlosigkeit darstellt. Dies alles führt bei denjenigen, die sich vor Ort ins Geschirr legen, zu einem Gefühl der Ohnmacht, gepaart mit emotionalen Wechselbädern aus Resignation und trotzigem Durchhaltewillen.
Mir ist es nicht anders gegangen. Als ich anfing, mich als Jugenddezernent Neuköllns Mitte der 90er Jahre mit der Thematik zu befassen, dachte ich noch, die Welt zu entdecken und ihr etwas Neues mitteilen zu können. Heute weiß ich, wie kindisch ich war. Schon damals wussten die, die an den Schalthebeln möglicher Veränderung saßen, genau, was vor Ort los ist. Sie gaben es aber nicht zu. Denn dann wären sie der Frage begegnet: »Und was tun Sie dagegen?« Ein unangenehmer Prüfstand. Da ist es schon besser, man weiß von nix. Fünf Minuten doof hilft manchmal über den ganzen Tag, sagt der Volksmund. Einer, der wie ich dann nicht aufhört, böse Sachen zu sagen, ist ein Stänker, ein Störenfried und Nestbeschmutzer. Das ist auch der Grund, warum bis heute viele Stadtväter mit hoher Einwandererpopulation noch nie etwas von Integrationsproblemen gehört haben wollen. Als ich in der einen oder anderen Stadt den Deckel vom Topf nahm, sprudelten die Emotionen voller Ärger und Enttäuschung über die Politik nur so. Es trat der ganze Frust zu Tage über die alltäglichen Erlebnisse in Bus und Bahn und über die Anpöbeleien auf der Straße, die – anders als von der Politik dargestellt – alles andere als die viel zitierte kulturelle Bereicherung sind. Mir wurde mit der Zeit immer bewusster, dass es zwei Welten der wahrgenommenen Integration in unserem Land gibt.
Die eine ist die schöne, heile Welt des Alles-Verstehens, des Alles-Entschuldigens, der Nachsicht, des Laisser-faire bis zur Selbstverleugnung. Entschuldigung, dass wir bisher auch Werte und Normen hatten, die aber natürlich so minderwertig sind, dass man sie Einwanderern nicht zumuten kann. Nur nichts verlangen, nur nichts fordern, aber immer zur hingebungsvollen
Darbietung bereit. Man könnte es auch einen devoten Gesellschafts-Masochismus nennen. Die andere ist die schweigende Welt der Enttäuschung, des Gefühls, allein gelassen zu sein, und resignativer Lethargie. Man geht weg. Ich will damit nichts mehr zu tun haben, sollen die da doch machen, was sie wollen.
Die Politik lässt zu, ja, sie fördert es sogar, dass Menschen in ihrer Identität als Staatsbürger der Nerv gezogen wird und sie ihrer Seele beraubt werden. Dass der Begriff »kultursensibel« auch auf die eigene Bevölkerung anwendbar sein muss, ist keine Sichtweise des Multikulti-Mainstreams. Mit ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl am Puls der Bevölkerung hätte man nicht mit Entsetzen auf die Verkaufszahlen eines ungeliebten Buches zu schauen brauchen. Man bräuchte keine Integrationsgipfel, über die kaum noch die Lokalblätter berichten. Zu nachhaltig ist ihre Bedeutungslosigkeit enttarnt. Die DDR ist auch daran zugrunde gegangen, dass niemand im ZK mehr wusste, was in der Kaufhalle geredet wird.
Irgendwann habe ich aufgehört, Karten in diesem Spiel zu ziehen. Zu pharisäerhaft erschien es mir, den Menschen weiszumachen, es läuft alles rund in unserem Neukölln. Wir brauchten angeblich bis zu meiner Amtsübernahme im Jahre 2001 keinen Integrationsbeauftragten bei 120 000 Einwanderern. Es gab auch keinen Ausländerbeirat, wie diese Institutionen damals hießen. Die politische Mehrheit jener Zeit weigerte sich überhaupt, irgendein Problem zu erkennen. Die Wirtschaft blühte dank mantrahafter Beschwörungsformeln, und in unseren Schulen wuchsen lauter kleine Einsteins heran. Allerdings ohne die Grundrechenarten zu beherrschen, dafür aber als kulturelle Bereicherung. Aber Einstein war ja bekanntlich auch ein schlechter Schüler.
Ich selbst stellte schnell ein Phänomen fest. Je öfter ich Dinge aus- und ansprach, die jeder Mensch mit normalem Augenlicht sehen konnte, desto flinker festigte sich meine Bösewichtrolle. Anfangs war ich irritiert: Warum solche Hysterie um evidente Gegebenheiten des Alltags? Na ja, ich hatte zu jener Zeit die Spielregeln noch nicht ganz verstanden. Recht bald merkte ich dann, dass Ungnade der bestimmenden Kaste auch Zuneigung bei den normalen Menschen auslösen kann. Ich begann, mit der Ätze zu leben und die Anerkennung der Bürger als Adrenalin zu empfinden.
So wurde ich zum Alarmisten. Jedenfalls nach Meinung des Integrationsbeauftragten des Berliner Senats. Weil ich überhaupt etwas sagte. Das war nicht üblich. So wurde ich zum Rassisten, jedenfalls nach Auffassung der selbsternannten Weltbürger und Ethno-Universalisten, weil ich sagte, an welcher Stelle und bei wem etwas nicht funktioniert. Bis hin zum Neofaschisten, weil ich sagte, da müssen wir ran, etwas tun und die Verhältnisse ändern. Zur Not auch gegen Unwilligkeit.
Besonders unterhaltend sind immer die Hinweise, warum ich vor Ort als langjährig Verantwortung tragender Kommunalpolitiker nicht längst alle sozialen Verwerfungen beseitigt, alle Bildungsprobleme gelöst und alle Integrationsfragen beantwortet habe. Die darin zum Ausdruck kommende Einschätzung der Leichtgewichtigkeit der Materie, die von jedem Dorfschulzen im Handumdrehen getroubleshootet werden kann, lässt aufhorchen. Heißt es doch sonst immer, dass es sich um die Zukunftsfrage unseres Landes handelt, für die wir einen langen Atem brauchen und die nur generationenübergreifend zu lösen ist.
Auch als etwas ungeduldiger Mensch kann ich dieser Einschätzung ein gewisses Realitätsbewusstsein nicht absprechen. Ein beliebter Spruch aus dem Buch der Unverbindlichkeiten lautet: »Über den Erfolg der Integration wird vor Ort in den Städten und Gemeinden entschieden.« Ist noch nicht einmal ganz falsch. Aber dann muss man die örtliche Ebene auch machen lassen. In Berlin kann kein Bezirksbürgermeister über Klassengrößen, Lehrereinstellungen, Kitagruppengröße, Kita-Pflicht, Kindergeld, Fachpersonal an Schulen, Einrichtung von Ganztagsschulen usw. usw. usw. entscheiden. Da müssen dann schon die Herrschaften der Landes- und Bundesebene ran. Wenn die sich dann hinter der Kommunalpolitik verstecken, wird es einfach nur peinlich. Oder sie haben schlicht keine Ahnung, wovon sie reden. Kann ja mal vorkommen.
Viele große Köpfe kamen inzwischen zu uns nach Neukölln. Öffentlich oder vertraulich. Einige holten sich Wissen, andere Inspiration. Aber keiner hat anschließend wirklich etwas
Durchgreifendes verändert. In der Integrationspolitik herrscht Rat- und Zahnlosigkeit. Aber irgendwann, wenn der Leidensdruck da und übermächtig sein wird, wird man Terrierqualitäten brauchen.
Wenn aber schon alles aufgeschrieben ist, wozu dann noch dieses Buch, das Sie in der Hand halten? Das hatte ich mich genauso gefragt und eigentlich entschieden, dass die Welt es nicht braucht. Richtig, werden die einen sagen, wäre er doch bei dieser Meinung geblieben. Aber dann kamen die anderen, die Akteure in Neukölln, die Zuhörer bei Veranstaltungen, die da sagten: Schreiben Sie alles auf. Es soll später keiner sagen können, er hätte es nicht gewusst. Allmählich kam auch das Ende meiner aktiven politischen Tätigkeit um die Ecke. Und plötzlich wollte ich doch noch das eine oder andere Rezept auf dem Schreibtisch liegen lassen.
Dieses Buch beschreibt die Welt von Menschen in ihrem Alltag. Es skizziert die Gedanken und die Gefühle, aber auch das Handeln derjenigen, die sich Tag für Tag im so wechselhaften Integrationsprozess in Neukölln engagieren. Die sich aber in einer Gesellschaft voller abstruser Realitätsverweigerung und nahezu hysterischer Hexenverfolgung nicht mehr trauen, offen über die in ihren Händen zerrinnenden Zukunftschancen kleiner Menschen zu berichten. Fernsehsender finden immer schwerer aktive Menschen, die vor der Kamera ein offenes Visier haben. Journalisten werden geschnitten und mit verdecktem Beschäftigungsverbot überzogen. Interviewpartner wollen ihren Klarnamen nicht veröffentlicht sehen. Das ist schon eine schwierige Beschreibung für eine angeblich freie und ach so tolerante Gesellschaft. Geistesfreiheit und Meinungsvielfalt finden meist nur Akzeptanz, wenn sie mit den eigenen Koordinaten kompatibel sind.
Ich sehe alle vor mir, die sich mit Propellerarmen den Schaum vom Mund wischen. Ich kann ihnen nur zurufen: Sorgt lieber mit dafür, dass sich die Verhältnisse ändern! Dass das reale Leben euer Tun bestimmt und nicht die Sozialromantik der letzten Seminarübung weiter an seine Stelle tritt. Dann wird es auch solcher Bücher nicht mehr bedürfen. Dann könnt ihr auch die nächste Demo gegen rechts absagen. Die beste Willkommenskultur ist Chancengerechtigkeit und gemeinsame Lebensgrundlagen.
Viele haben an diesem Buch mitgewirkt. Haben mich mit Wissen geladen. Sie waren Inspiration, und ihre Erwartungshaltung war meine Motivation. Vielleicht ändert dieses Buch ja etwas, falls ja, dann hat Neukölln wieder einmal den Lauf der Dinge beeinflusst. Falls nein, stellen Sie es zu den anderen.

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KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #1 on: November 04, 2012, 07:23:19 am »
Neukölln an sich
Der Name Neukölln hat durchaus einen beachtlichen Bekanntheitsgrad erlangt. Das verwundert aber nicht, weil, man ja auch New York, Paris und Rom kennt. Zugegebenermaßen ist es aber so, dass dieses Neukölln erst in den letzten zehn Jahren richtig prominent geworden ist. Die Gründe hierfür sind die Diskussionen um soziale Verwerfungen in Großstadtlagen, um Integrationsprobleme, Parallelgesellschaften und das Versagen des Bildungssystems. Zu all diesen Einzelthemen gibt es widerstreitende Sichtweisen und Interessen. Und am Ende sind sich dann fast immer alle einig: Neukölln ist »Am Rande der Zivilisation«, wie die Süddeutsche Zeitung einmal titelte. Ähnlich wie Herat in Afghanistan befinde sich Neukölln so sehr am Rande der Zivilisation, dass vieles, was passiert, kaum mit unseren Maßstäben gemessen werden könne. Allerdings seien wir als düsterer Hintergrund für Leichenfunde in Krimiserien gut geeignet.
Eigentlich hat das auch schon Tradition. Denn genau vor 100 Jahren wurde die damalige stolze preußische Stadt Rixdorf in Neukölln umbenannt. Für die bürgerlichen Schichten hatte sich der Ruf der Stadt zu negativ entwickelt. Ja, es war nahezu kreditschädigend und ehrenrührig, den Namen im Briefkopf zu führen. Das alte Rixdorf war ein Arbeiterquartier, feuchte Wohnungen in dunklen Hinterhöfen beherbergten arme und kinderreiche, aber ebenso lebenslustige Familien. Getreu dem Motto des alten Gassenhauers »In Rixdorf ist Musike« herrschte, wie man heute sagen würde, ein recht folkloristisches Treiben. Die Hasenheide, eine ca. 50 Hektar große Grünanlage mit dem Vergnügungszentrum Neue Welt und vielen anderen Etablissements, bot Raum für Kurzweil und Pläsier. Freitags war Lohntütenball, und Mutter musste aufpassen, dass sie Vaddern so rechtzeitig von der Kneipe loseiste, dass vom Lohn noch etwas für die Kinder übrig blieb.
Die Namensschöpfung mit Genehmigung seiner allergnädigsten Majestät hatte durchaus einen historischen Bezug. Die im Jahr 1237 erstmalig in Erscheinung getretene Stadt Coelln mit ihrer späteren Vorstadt Neu-Coelln wurde Anfang des 18. Jahrhunderts mit Berlin verschmolzen und ging quasi unter. Die ländlichen Gebiete, die heute den Untergrund des Bezirkes Neukölln bilden, gehörten dereinst allerdings zum Refugium von Coelln. Noch heute weisen Namen wie Köllnische Wiesen und Köllnische Heide auf diesen Ursprung hin. Daran erinnerten sich die Stadtväter zur Zeit der Umbenennung und entschieden sich, den Namen der alten Schwesterstadt zu reanimieren. Sie ließen den Bindestrich weg, machten aus dem C ein K und aus dem oe ein ö. Das Doppel-l aber blieb – und schon war Neukölln geboren. Das verwirrt bis heute amerikanische Reisegruppen. Denen muss man dann erklären, dass Neukölln kein Vorort von Köln am Rhein ist. Na ja, man ist dort einfach andere Entfernungen gewohnt.
Erst 1912 umbenannt, war es schon 1920 vorbei mit der Unabhängigkeit und städtischen Herrlichkeit. Mit dem Groß-Berlin-Gesetz wurden sechs selbständige kreisfreie Städte und fast 100 Landgemeinden und Gutsbezirke zu der Figur zusammengefasst, die wir heute Berlin nennen. Wir Neuköllner sagen, wir wurden okkupiert. An der Revanche arbeiten wir noch. Warten wir weitere Seiten im Geschichtsbuch ab.
Zu jener Zeit waren Standards, wie sie in den späteren 1960er Jahren zur Normalität wurden, noch ein Traum. Die Toilette befand sich auf dem Hof, in Häusern mit etwas gehobenerem Komfort bereits im Treppenhaus eine halbe Etage tiefer. Natürlich immer für mehrere Parteien. An ein eigenes Bad oder eine eigene Dusche (die man damals so ohnehin nicht kannte) war gar nicht zu denken. Ziel für einen sozialen Aufstieg war der Umzug vom Hinter- in das Vorderhaus. Wer es dort dann auch noch in die »Beletage«, also in den ersten Stock, schaffte, der war zumindest in Gedanken dem Himmel sehr nahe. Realität war aber eher die Schwindsucht, unter der ganze Familien aufgrund der Wohnungsfeuchte litten. Denn viele Familien waren sogenannte Trockenwohner. Das heißt, sie zogen in gerade errichtete Häuser, die noch voller Baunässe waren, und wohnten sie trocken. Dafür war die Miete billig. Trotzdem waren oft noch sogenannte Schlafburschen vonnöten, um sie zusammenzukratzen. Das waren alleinstehende Männer, die am
Tage in den Betten der Familie schliefen und abends die Wohnung wieder verließen. Sie bezahlten dafür etwa zehn Pfennig pro Tag.
Es war also das, wofür später der Begriff »Zilles Milieu« geprägt werden sollte. Noch im Jahr 1990 gab es in Neukölln rund 15 000 Wohnungen ohne eigenes Bad und WC. Ich würde nicht gegenhalten, wenn jemand behauptete, auch heute noch solche Zustände entdeckt zu haben. Wie dramatisch die Lebensverhältnisse damals waren, kann man daran erkennen, dass das bis heute in Betrieb befindliche Stadtbad in der Ganghofer Straße als Einrichtung der Stadthygiene und der Seuchenprävention gebaut wurde. Das Problem war nur, dass die arme Stadt Rixdorf die Wasserrechnung nicht bezahlen konnte. Und so konnte der Bau erst freigegeben werden, nachdem sich die Charlottenburger Wasserwerke bereit erklärt hatten, das Wasser an die Städtische Badeanstalt unentgeltlich zu liefern.
Seine Funktion behielt das Stadtbad bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch im Jahr 1990 wurden dort 80 000 Reinigungsbäder in der Wanne oder unter der Dusche verabreicht. Bis heute dient das Bad immer wieder als beeindruckende Kulisse für Filme, die das Feeling einer antiken Thermenanlage benötigen. Es ist auch ein ausgesprochen imposantes Schmuckstück. Heute würde man sagen, eine völlig abgefahrene Event-Location. Wenn es Sie einmal zu uns verschlägt, sollten Sie nicht versäumen, eine Eintrittskarte zu kaufen und sich das Bad von innen anzusehen. Erfahrungsgemäß gibt das Personal auch gern den Stadtbilderklärer.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschoben sich die Gewichte in den Süden des Bezirks. Die Einfamilienhausbebauung nahm deutlich zu, und auf den Feldern von Rudow und Buckow entstand die Gropiusstadt, eine Neubausiedlung mit 19 000 Wohnungen für 50 000 Menschen. Wohnraum war knapp. So wurden die Pläne des Architekten Walter Gropius einfach verdichtet. Dies geschah in einem Umfang, der Gropius so verärgerte, dass er sich von der Siedlung distanzierte. In jahrelangem Bemühen wurden die Wogen wieder geglättet, und so war der Architekt dann doch einverstanden, dass die Siedlung den Namen ihres ursprünglichen geistigen Vaters erhielt.
Mit dem voranschreitenden Bau der Gropiusstadt vollzog sich eine Wanderungsbewegung aus dem Norden. Jede Wohnung war mit eigenem Bad und eigenem WC, teilweise sogar mit Gästetoilette ausgestattet, hell und verfügte über einen Balkon nach Süden oder Südwesten. Für die Bewohner der Hinterhöfe war das der Durchbruch zum modernen Wohnkomfort. In der Altstadt erfreuten die Bevölkerungsverschiebungen Hauseigentümer und Verwalter nur dezent. Viele Wohnungen standen leer, weil niemand mehr in den Altbauten leben wollte. Da kamen die Wünsche der Gastarbeiter nach eigenem Wohnraum gerade recht. Gern wurden die Fremden aufgenommen. Für diese war wiederum eine eigene Wohnung – auch mit Sanitäreinrichtungen eine halbe Treppe tiefer – gegenüber dem Lager auf dem Firmengelände oder den heimatlichen Wohnformen eine erhebliche Weiterentwicklung. So sortierte sich der Bezirk in den 1960ern bis in die Mitte der 1970er Jahre komplett neu.
Aber zurück zur historischen Entwicklung und den Beiträgen Neuköllns zum Weltgeschehen.
Da ist zuerst Friedrich Ludwig Jahn. Auch Turnvater Jahn genannt. Mit seinen vier Effs – frisch, fromm, fröhlich, frei – begründete er die neuzeitliche Sportbewegung. 1811 schuf er den ersten öffentlichen Turnplatz in der Hasenheide. Der olympische Gedanke war ihm damals nicht so nahe. Ihm ging es mehr um eine patriotische Erziehung mit körperlicher Ertüchtigung als Vorbereitung auf den Befreiungskrieg von der napoleonischen Herrschaft. Da man später staatsfeindliche Motive hinter seinem Treiben vermutete, landete er fünf Jahre im Knast. Sei es, wie es sei, ohne Turnvater Jahn keine Olympischen Spiele, keine Europameisterschaften, keine Bundesliga, keine Schiedsrichter- und Doping-Skandale und keine Sportübertragung im Fernsehen. Wir Neuköllner haben uns dafür aufgeopfert. Dank haben wir dafür nie gehört. Im Gegenteil, wenn heute das Wort Hasenheide fällt, rümpfen viele die Nase. Nur, weil dort 50 Drogerie-Einzelhändler ihr inzwischen 25-jähriges Betriebsjubiläum feiern (die Hasenheide ist als Drogenumschlagplatz
bekannt). Niemand spricht von dem kleinen, aber wunderschönen Tierpark, dem im Bau befindlichen Hindu-Tempel oder eben dem Jahn-Denkmal und klopft uns auf die Schulter. Böse, grausame Welt.
Die tatsächliche Verelendung des Proletariats und die Bildungsarmut inspirierten schon immer Menschen, zu uns zu kommen und nach neuen Wegen zu suchen. Schulreformer wie Kurt Löwenstein und Fritz Karsen haben in Neukölln gewirkt. Ende der 1920er Jahre entstand die erste staatliche Gesamtschule Deutschlands. Die Arbeiterabiturkurse hatten hier ebenfalls ihren Ursprung, wie Neukölln auch insgesamt in der entstehenden Volkshochschulbewegung eine Vorreiterrolle übernahm. Die Neuköllner Musikschule trägt den Namen des bedeutenden Komponisten Paul Hindemith. Sie gehört zu den ältesten drei Musikschulen Deutschlands. Mies van der Rohe und Max Taut begründeten hier ihre Karrieren, und die Hufeisensiedlung von Bruno Taut aus den 1920er Jahren ist heute Teil des Weltkulturerbes. Es war damals eine Sensation, Wohnungen mit allen Sanitäreinrichtungen und einem dazugehörigen Garten zum Standard für die Arbeiterklasse zu machen. Noch heute fahren die Busse mit Architekturstudenten durch die Hufeisensiedlung.
Die Perinatalmedizin wurde Anfang der 1960er Jahre in Deutschlands größter Geburtsklinik von Prof. Dr. Erich Saling entwickelt. Millionen Menschen verdanken seinen Forschungen zur Behandlung des ungeborenen Lebens, zu Diagnose und Therapiemöglichkeiten bereits im Mutterleib, ihr Leben.
Nicht weit davon entfernt forschten und experimentierten Prof. Dr. Emil Sebastian Bücherl, der Physiker Prof. Dr. Max Schaldach und der Elektroingenieur Otto Franke am Kunstherz und den technischen Möglichkeiten der Kardiologie. Sie entwickelten den ersten deutschen implantierbaren Herzschrittmacher. Hieraus entstand der heute größte Neuköllner Arbeitgeber und einer der Weltmarktführer in der Kardio-Technik, die Firma Biotronik. Ich denke, nur die wenigsten Herzschrittmacher- und Defibrillatorträger ahnen, dass ihr Leben zwar nicht am seidenen Faden, aber am Prozessor aus Neukölln hängt.
Das größte und seit vielen Jahren auch wirtschaftlich erfolgreichste Kongresshotel Deutschlands steht natürlich in Neukölln. Mit rund 2000 Kongressen und 300 000 Übernachtungen jährlich ist es auch ein starker Wirtschaftsfaktor für die gesamte Stadt. Ein Drittel der Weltjahresproduktion von Marzipan stammt allen Werbespots zum Trotz aus Neukölln. Bei uns werden 200 Millionen Zigaretten täglich hergestellt, und der Cowboy bringt sie in viele Länder der Welt. Am liebsten rauchen Japaner Zigaretten aus Neukölln. Japaner haben eben Geschmack. Selbst die Bio-Industrie hat uns entdeckt. Egal, ob bei Produktion oder Vertrieb, Neuköllner Betriebe sind immer zur Stelle. In fast allen Tonproduktionsstudios der Welt stehen Präzisionslautsprecher von Adam Audio, Made in Neukölln. Wenn Sie es nahrhafter wollen, dann beliefern wir Sie auch gern mit Broten nach Feng-Shui-Art oder der gesamten Palette der löslichen Kaffeekompositionen der Deutschen Extrakt Kaffee. Die Tabs für Tassimo werden bei uns genauso exklusiv für die Welt produziert wie Dallmayr Prodomo oder das halbe Kaffeesortiment von Tchibo. Dazu garantiert die Cine Postproduktion seit 100 Jahren Kino- und zeitversetzt Fernsehvergnügen. Also, ohne Neukölln läuft auch bei Ihnen zu Hause gar nichts.
Immer wieder fallen Touristen auf die Falschinformation offenkundig bezahlter Provokateure herein, dass Berlin über drei Opernhäuser verfüge. Dahinter stecken Neid und Missgunst. Denn die beste Oper Berlins ist die Neuköllner Oper. Wer es nicht glaubt, kann sich ja bei seinem nächsten Besuch einmal selbst davon überzeugen.
Fachleute prämierten den Britzer Garten zur schönsten modernen Parkanlage Deutschlands. Die Deutsche Bundesgartenbau-Gesellschaft verlieh ihm den Ehrenpreis 2012 »für nachhaltige Parknutzung«, und zwar für die »exzellente Qualität des Volksparks« und die fortlaufende Weiterentwicklung, »ohne die ursprünglichen Gestaltungsideen aufzugeben«. Wer will schon Fachleuten widersprechen? 1,2 Millionen Besucher zahlen jährlich Eintritt, um Entspannung in der Natur oder Kurzweil bei den Veranstaltungen zu finden. Hier findet alljährlich auch das
spektakulärste Berliner Open-Air-Konzert »Feuerblumen und Klassik« statt. 12 000 Menschen sitzen und liegen auf den Wiesen, lauschen der Musik und beklatschen das Feuerwerk. Im Vergleich zu »Klassik Open Air« am Gendarmenmarkt und den Philharmonikern in der Waldbühne kann man da viel Geld sparen.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #2 on: November 04, 2012, 07:24:48 am »
Apropos Geld sparen, das gilt auch für das Flugticket in die USA. Die beste Las-Vegas-Show außerhalb der USA ist nämlich ohne jeden Zweifel in Neukölln zu sehen. »Stars in Concert« im Estrel-Hotel bringt es inzwischen auf vier Millionen Besucher. Wer noch nicht da war, hat eben etwas versäumt. Geben Sie acht, dass Sie nicht der letzte sind.
Die historischen Kerne von Britz und Rixdorf sind für Geschichtsverliebte wahre Fundgruben.
Wie es sich gehört, haben wir Neuköllner natürlich auch ein richtiges Schloss. Sonst könnten wir uns ja nicht mit London und Paris messen. Das Britzer Schloss war einst der Sitz preußischer Minister. Der berühmteste war Graf Hertzberg. Er führte die Vierfelderwirtschaft ein, begründete eine Seidenraupenzucht und war eine Schaltstelle zwischen St. Petersburg und Wien in der Aufklärung. Heute gehört das Britzer Ensemble mit Schloss, Park, Gutshof, Dorfkirche, Schulzenhaus, Dorfschule und Feuerlöschteich zu den ganz wenigen komplett erhaltenen Dorfkernen in Brandenburg. Es ist ein Publikumsmagnet. Mehr als 100 000 Menschen besuchen jährlich die Veranstaltungen oder auch nur das Gelände. Der am häufigsten gesprochene Satz lautet: »Ich hätte nie geglaubt, dass es so etwas in Neukölln gibt.«
Ein ähnliches Juwel ist das Böhmische Dorf. Mitten in Alt-Rixdorf versetzt es seine Besucher unaufdringlich, aber nachhaltig in eine andere Zeit. 1737 kamen die Hussiten als Glaubensflüchtlinge nach Preußen. Sie waren tüchtige Handwerker. Deswegen erlaubte Friedrich Wilhelm I. ihnen, sich anzusiedeln. Nach den Hugenotten im 16. Jahrhundert war das unsere zweite große Einwanderergruppe. An hohen Feiertagen ziehen sie, gekleidet in ihre traditionellen böhmischen Gewänder, vom Böhmischen Dorf zum Gottesacker. Aber es gab offensichtlich schon früher Reibungspunkte mit Fremden. Als die Böhmen kamen, teilte sich der Ort sofort in Deutsch- und Böhmisch-Rixdorf. Altansässige Familien benutzen diese Bezeichnungen heute noch.
Das Böhmische Dorf mit seinen Bauernhäusern, verträumten Innenhöfen und Scheunen, der Richardplatz mit dem historischen Schmiedehaus aus dem frühen 17. Jahrhundert oder der Garten des Lebens nach Jan Amos Comenius sind so bezaubernde Stätten direkt neben dem hektisch pulsierenden Leben eines multi-ethnischen Stadtteils, dass Besucher auch hier ihre Verblüffung kaum verbergen können. Im Comenius-Garten steht im Übrigen die einzige überlebensgroße Statue des Philosophen Jan Amos Comenius, die die tschechische Republik jemals ins Ausland verschenkt hat. Sie wurde 1992 von Alexander Dubček enthüllt.
Ich könnte noch viel schreiben über dieses Neukölln, das so heterogen, so widersprüchlich ist: Dorfkirchen und -anger, Wasserkaskaden in Barockparks und Jugendstil-Brunnen, Windmühlen, in denen auch heute noch Korn gemahlen wird, die erfolgreiche Rudergesellschaft Wiking mit ihren bis dato 32 deutschen Meisterschaftstiteln, die vielfachen Weltmeisterinnen der Schwimm-Gemeinschaft Neukölln Franziska van Almsick und Britta Steffen, die zusammen mehr als ein Dutzend olympische Medaillen gewonnen haben, über Stadtbaurat Kiehl, der das Gesicht der Stadt veränderte, die Freiwillige Feuerwehr, die Häuslebauer, die Neubausiedlung Gropiusstadt, den Grenzkontrollpunkt Sonnenallee oder unsere berühmten Kinder- und Jugendchöre der Gropiuslerchen, aber leider auch über Intensivtäter, notwendigen Wachschutz vor unseren Schulen und organisierte Kriminalität. Neukölln reicht von Klein-Istanbul bis zum Dorfteich des Johanniterordens. Eine Schlafstadt waren wir noch nie und wollen es auch nicht werden.
Neukölln war immer lebendig und herausfordernd. Wer hier geboren und aufgewachsen ist, sein Leben hier verbracht hat, der ist gegen alle Fährnisse des Lebens gewappnet. Das Leben war und ist einfach ein bisschen rustikaler als dort, wo das Tafelsilber tatsächlich auf dem Tisch lag und seinen Namen auch verdiente. Zwar waren die Veränderungen in den letzten 50 Jahren so massiv,
dass sich nicht wenige unter dem Motto »Das muss ich nicht haben« aus dem Staub gemacht haben; verpfiffen, heißt es am Stammtisch. Etwas vornehmer ausgedrückt: Sie sind segregiert. Auf die Gründe dafür werde ich noch ausführlich zu sprechen kommen.
Aber es bleibt die Heimat von über 300 000 Menschen, und die Horrorphantasien, die in manchen Köpfen herumgeistern – dass wir mit dem Stahlhelm auf dem Kopf durch Schützengräben hasten, um unversehrt den Arbeitsplatz oder die Wohnung zu erreichen –, haben etwas Amüsantes, sind aber fern der Realität. Genauso, wenn sich Reisegruppen erkundigen, ob sie ihren Bus am Rathaus stehen lassen können, ohne dass ihm etwas passiert. Richtig süß ist auch immer wieder, dass der sogenannte »Türkenmarkt« von panischen Veranstaltern in deren Programmen nach Kreuzberg verlegt wird, obwohl er sich eindeutig in Neukölln befindet. Auf Nachfragen erhalte ich schon gelegentlich das Geständnis, dass man den Teilnehmern durch das Verschweigen des Wortes »Neukölln« eventuelle Ängste nehmen möchte. Der Name »Tempelhof Airport« für ein Hotel, das mitten im Neuköllner Kiez liegt und mit dem ehemaligen Flughafen Tempelhof so viel zu tun hat wie der Elefant mit Pulloverstricken, zeigt ebenfalls, wie hysterisch überlagert der Umgang mit uns manchmal ist.
Eigentlich ist das schade. Neukölln hat so viel zu bieten und ist so spannend, dass es die Zeit eines Touristen oder eines hier lebenden Menschen durchaus ausfüllen kann. Natürlich sind auch Dinge darunter, die die Welt nicht braucht. Meist sind wir Neuköllner aber gar nicht schuld. Sondern wir baden vor Ort nur das aus, was uns Schöngeister auf anderen gesellschaftlichen Ebenen eingebrockt haben. Dazu gehören auch die Folgeprobleme einer scheinbaren Integrationspolitik. Aber das Schreckgespenst »Iss deinen Spinat auf, sonst ziehen wir nach Neukölln« ist gegen das von Canterville zahnlos. Das stellen immer mehr junge Leute fest. Neukölln ist »in«, zumindest der Innenstadtbereich. Man nennt ihn bereits Kreuzkölln. Das hören wir Neuköllner nicht allzu gern. Wir legen nämlich schon Wert auf ein ganz eigenes Flair. Sei es die ausgeprägte Kulturszene, richtig nette Bühnen von der Travestie bis zum Volkstheater, Galerien, Modelabel, Kneipen, Bars und eine echte Sprachenvielfalt, mehr als nur Türkisch und Arabisch. »48 Stunden Neukölln« ist inzwischen das größte Kulturfestival Berlins. Ein Schmaus für Liebhaber traditioneller Kunstformen, aber durchaus auch für Anhänger experimenteller wie durchgeknallter Kunstdarbietungen.
Was im Moment noch fehlt, ist eine wirklich bunte und gute Gastronomie. Die hält sich bis auf wenige Ausnahmen bisher hartnäckig in Kreuzberg und Schöneberg. Aber: Wir arbeiten daran! Die Eröffnung des neuen internationalen Flughafens Willy Brandt (auch »Neukölln International« genannt), die Veränderungen auf der Riesenfläche des ehemaligen Flughafens Tempelhof, all das wird das Neukölln von morgen anders aussehen lassen. Zu den Entsetzensschreien von Mama, Papa, Oma und Opa auf die Mitteilung, dass die hippe, billige, verkehrsgünstig gelegene und total coole Studentenbude der Tochter oder des Sohnes in Neukölln liegt, gibt es bereits heute wenig Anlass.
Also – hier tut sich etwas. Ich hoffe, dass die seit einiger Zeit nach Neukölln drängende junge Kreativszene zum Quartiermacher wird. Was wir brauchen, ist eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur im Stadtteil. Eine Mischung von starken und schwachen Familien, von anspornenden Vorbildern und motiviertem Verantwortungsgefühl, von Erfolgreichen und denen, die noch auf der Suche nach ihrem Erfolg sind. Und was wir auf jeden Fall brauchen, ist eine Überwindung des lähmenden Breis der Bildungsferne. Nur so können wir wieder ein Mehr an Kompetenzen gewinnen: kulturelle Kompetenzen, Bildungskompetenzen, soziale Kompetenzen. Das neue Feeling, die spannende Vielfalt und die offene, tolerante Lebensweise in den Erdgeschossen – sprich: in den Bars, Ateliers und Restaurants der jungen Experimentier- und Kreativwirtschaft – müssen sich in den Wohnebenen darüber verstetigen. Um 23.00 Uhr eintreffende und gegen 3.00 Uhr nach einigen Caipis mit dem Taxi nach Hause fahrende Yuppies bringen uns nicht wirklich weiter. Wir bleiben dann ein Durchlauferhitzer. Eine Art Abenteuer-Episode beim Erwachsenwerden. Wie früher die Kerbe im Revolvergriff, so sind wir dann allenfalls ein Herausstellungsmerkmal im Bewerbergespräch: »Wissen Sie, dass ich drei Jahre in Neukölln
gelebt habe? Ich habe es (gut) überstanden, vor Ihnen sitzt ein harter Hund.«
Die höhere Nachfrage führt unweigerlich zu mehr Begehrlichkeiten bei den Hauseigentümern. Und so kann es schon sein, dass Sie heute für eine Wohnung, die vor drei Jahren noch 3,50 Euro kalt pro Quadratmeter gekostet hat, so um die 7,50 Euro pro Quadratmeter berappen müssen. Da dies im Vergleich mit den in Stuttgart, München oder Hamburg üblichen Mieten immer noch preiswert ist, werden die Forderungen anstandslos erfüllt. Bei der nächsten Neuvermietung wird dann ausprobiert, ob sich die Schraube noch ein bisschen weiter drehen lässt. Da Mieterhöhungen im Regelfall nur bei Neuabschluss des Vertrages greifen, erhöht sich die Miete für Wohnraum so schnell, wie sich die Wohnungen am Markt drehen. Auf Deutsch bedeutet das: Diejenigen, die durch episodenhafte Wohnsitze für starke Mieterfluktuation sorgen und die Gentrifizierung durch Mietsteigerungen beklagen, sind die Gentrifizierer.
Was wir brauchen, sind junge Menschen, die nach Neukölln ziehen, um hier ihren Familiensitz zu gründen, hier zu leben und zu bleiben. Die ihre Kinder hier zur Schule anmelden und nicht den Wohnsitz der Oma nutzen, um die lieben Kleinen in einem anderen Bezirk anmelden zu können, oder auch gleich ganz wegziehen, sobald der Termin für die Einschulung naht.
Durchaus gewünschte und erwünschte Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur werden von vielen als Vertreibung und damit als politische Fehlentwicklung zu Lasten der Armen und Schwachen gegeißelt. Ich halte das für falsch. Der Begriff »Gentrifizierung« wurde von einer britischen Soziologin 1964 geprägt und beschreibt Vorgänge, bei denen die Bevölkerung eines Stadtviertels infolge einer neuen städtebaulichen und soziologischen Architektur des Viertels komplett durch eine neue, wohlhabende Bürgerschaft ersetzt wird. Eine Entwicklung, die vornehmlich in den USA um sich gegriffen hatte. Davon kann in Neukölln, aber auch in anderen Stadtteilen Berlins, überhaupt keine Rede sein. Nicht einmal im Prenzlauer Berg, der gemeinhin im Jargon als »SBZ« (schwäbisch besetzte Zone) bezeichnet wird. Worum es geht, ist eine soziale und ethnische Durchmischung, nicht eine Vertreibung. Eine Käseglocke über Hartz-IV-Milieus, Monokulturen der Bildungsferne oder ethnisch entmischte Türken- oder Araberquartiere zu stülpen, hat mit verantwortlicher Stadtpolitik und Zukunftssicherung für seine Bewohner nichts zu tun. Dort, wo derjenige, der seine Miete selbst bezahlt, automatisch im Verdacht steht, ein Gentrifizierer zu sein, ist die Entwicklung schief gelaufen. Ein solidarisches, durch Respekt und Toleranz geprägtes Miteinander setzt eine Mischung von Lebensentwürfen, Lebensphasen und Lebensperspektiven voraus. Dort, wo alles nivelliert ist, werden Aufstiegswillen und Bildungsstreben nicht mehr abverlangt. Man muss sich nur noch unter Gleichen einrichten.
Unsere Staatsministerin für Integration, Prof. Dr. Maria Böhmer, sagt stets zu mir: »Die Bundesrepublik besteht nicht nur aus Neukölln.« Ich habe diese Aussage im Atlas überprüft. Sie ist fachlich nicht zu beanstanden. Gleichwohl räumt Frau Prof. Böhmer damit indirekt ein, dass meine Darstellungen des Alltags in Großstadtlagen mit starker Einwandererbevölkerung durchaus den Tatsachen entsprechen. Trotzdem gibt es recht wenige Stadt- und Kommunalpolitiker, die einer ungeschminkten Betrachtungsweise zuneigen. Wenn wir bei der Vollversammlung des Deutschen Städtetages unter 1500 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern im Smalltalk unsere Erfahrungen austauschen, so sind diese und damit auch unsere Sorgenkinder recht identisch. Allerdings werden die Probleme umso kleiner, je dichter ein Mikrophon oder ein Stenoblock kommen. Am Schluss bleiben häufig nur das wunderbar gelungene multikulturelle Straßenfest oder die genialen Tore von Mesut Özil bei Europa- oder Weltmeisterschaften übrig.
Erklären lässt sich das Phänomen leicht. Städte stehen insbesondere in Ballungsräumen in harter Konkurrenz zueinander. Ein Bürgermeister, der alle Fakten auf den Tisch legt, eventuell noch zugibt, dass sich die Probleme allenfalls schrittchenweise und im Schneckentempo lösen lassen, oder die Hilflosigkeit der Stadtpolitik gegenüber dem einen oder anderen Sachverhalt eingesteht, der hat keine lange Halbwertszeit. »Nestbeschmutzer« wird man ihn schimpfen, man wird ihn dafür verantwortlich machen, dass bei der Ansiedlung eines Unternehmens mit 200 neuen Arbeitsplätzen
ein halbes Jahr zuvor eine Nachbarstadt die Nase vorn hatte. Alle Fehlentwicklungen der jüngsten Vergangenheit vor dem anstehenden Wahltermin wird man ihm und seinem Alarmismus ankreiden, denn so schlimm ist doch alles gar nicht. Selbstredend wird der Gegenkandidat oder die Gegenkandidatin verkünden, mit der Miesmacherei sei jetzt endlich Schluss, und ab sofort gehe es wieder bergauf.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #3 on: November 04, 2012, 07:26:04 am »
Die beschriebenen Mechanismen und dazu noch die sogenannte Political Correctness, parteiinterne Programmatik und gegebenenfalls auch persönliches Selbstverständnis oder Konfliktscheue führen im Endeffekt dazu, dass das Thema Integration in Verbindung mit Fehlentwicklungen in der Öffentlichkeit nur unterbelichtet und wenn, dann immer mit Bezug auf andere diskutiert wird. Entlädt sich die wahre Stimmungslage durch ein auftauchendes Ventil wie zum Beispiel ein Buch oder Sammlungsversuche meist älterer Männer zu einer politisch stets scheiternden Bewegung, dann regieren nur noch organisierte aufgeregte Empörung und hysterische Pseudobetroffenheit.
So kam Neukölln zu seinem Mythos als Alleinstellungsmerkmal. Dabei sind wir völlig normal. Jedenfalls unterscheiden wir uns nicht groß von anderen Städten mit gleichen oder ähnlichen Bevölkerungsstrukturen. Dessen ungeachtet wollen viele Buspauschalreisen oder politische Exkursionsgruppen einen Besuch des Bezirks Neukölln als Art Gruselfaktor im Programm nicht missen. Aber es gibt auch die, die Neukölln toll finden. Der Papst zum Beispiel. Er hat seine Nuntiatur nach Neukölln gelegt. Es ist die einzige Botschaft innerhalb unserer symbolischen Stadtmauern. Päpste haben eben Weitblick. Oder die niederländische Königin Beatrix. Sie bestand bei ihrem Staatsbesuch darauf, Neukölln kennenzulernen. Königin Silvia von Schweden und Kronprinzessin Viktoria konnte man in Neuköllner Jugendeinrichtungen ebenfalls bewundern, genauso wie die gesamte erste Reihe der deutschen Politik. Kanzler und Kanzlerin, Minister und Ministerinnen, Partei- und Fraktionschefs, sie alle waren und sind uns offiziell wie inoffiziell immer herzlich willkommen. Bundespräsident Köhler hielt in Neukölln seine berühmte Rede zur Bildungspolitik, Bundespräsident Rau nahm hier ein Bad in der Menge, und den Bundespräsidenten a. d. von Weizsäcker kann man heute noch im Theater Heimathafen treffen.
Der Spiegel bezeichnete Neukölln schon 1997 als Endstation. Andere Publikationen fanden, dass wir den Untergang der Zivilisation verkörperten oder die europäische Bronx seien. Na ja, viel herumgekommen scheinen diese Schreiberlinge nicht zu sein. Der Europarat zeichnete uns 1987 für »außergewöhnlichen Leistungen zur Förderung des europäischen Einigungsgedankens« mit dem Europapreis aus und berief uns 2008 als einzige deutsche Stadt in den Kreis der »Intercultural Cities«.
Größer kann die Bandbreite nicht sein. Vom Weltkulturerbe über ein Labor von Wissenschaft, Pädagogik und Architektur bis hin zur modernen Großstadt, in der manifeste Milieus der Bildungsferne eine Renaissance erleben. Vielleicht verstehen Sie jetzt unseren fast scheuen Wahlspruch: »Wo Neukölln ist, ist vorne. Sollten wir einmal hinten sein, ist eben hinten vorne.«
Neukölln ist mehr als die einzige Stadt Deutschlands, die über Integrationsprobleme klagt und eine Hauptschule mit Disziplinproblemen unter den Schülern hat, in der Christiane F. gelebt hat und Filme über den stillgelegten Grenzübergang Sonnenallee gedreht werden. Wenn Sie tapfer dieses Buch weiterlesen, werden Sie zwangsläufig auf Stellen treffen, die geeignet sind, Sie in das alte Klischee Neuköllns zurückfallen zu lassen. Wenn diese Situation eintrifft, lesen Sie dieses Kapitel einfach noch einmal von vorne. Oder noch besser, kommen Sie her und helfen Sie mit.
Neukölln heute
Nachdem ich Ihnen im vorigen Kapitel als Werbeblock die schönen Seiten Neuköllns nähergebracht habe und Ihnen vielleicht sogar etwas Appetit machen konnte, folgt nun das Neukölln von heute. Bösartig formuliert könnte man auch fragen: Was ist aus dem kaiserlichem Rixdorf 100 Jahre, zwei Weltkriege und drei Gesellschaftsordnungen später als Neukölln des 21. Jahrhunderts geworden? Zunächst einmal sind wir keine eigene Stadt mehr, sondern eingemeindeter Teil der deutschen Hauptstadt. Das muss zwar nicht so bleiben, aber bis auf Weiteres ist es so. Wir sind größer geworden als damals. Schon durch den Lauf der Zeit bedingt, sind wir auch moderner geworden und reicher. Wir definieren Armut nicht mehr an Hunger und Schwindsucht hinter den Wohnungstüren. Armut ist heute Konsumrückstand, nicht mehr Existenznot. Die Maßstäbe haben sich verändert: Mir geht es nicht schlecht, weil ich arm und krank bin, sondern weil es meinem Nachbarn besser geht.
Meine Mutter war das elfte von zwölf Kindern. Im biblischen Alter von 99 Jahren verstarb sie 2010. Sie ist in Armut aufgewachsen und hat mir oft davon erzählt. Ich will jetzt niemanden mit den Geschichten davon, »wie’s damals war«, langweilen. Fest steht aber, dass sie mir aus einer Welt berichtete, die heute in Talkshows zu Ohnmachtsanfällen oder dem Ruf nach dem Gerichtshof für Menschenrechte führen würde. Mein Vater wiederum erzählte mir mehr aus der Zeit der nationalsozialistischen Tyrannei, vom Krieg und der Gefangenschaft.
Mit diesen beiden Erzählwelten wuchs ich auf. Inwieweit sie meine Entwicklung geprägt haben, kann ich nicht beurteilen. Geboren im Jahr 1948, kann ich mich selbst erst an die Zeit des Wiederaufbaus etwa ab Mitte der 1950er Jahre erinnern. Unsere Wohn- und Lebensverhältnisse waren so, dass wir heute mit Leichtigkeit viel Raum in einer Reality-Doku erhalten würden. Damals allerdings waren sie nicht besonders ungewöhnlich. Vier Personen in Stube und Küche im Keller neben der Waschküche des Hauseigentümers. Auch wenn der Aufstieg zum konsumorientierten Wohlstandsstaat sich unaufhaltsam vollzog, so kann ich mich doch daran erinnern, dass ein Leben ohne Auto, ohne Flachbildschirm, ohne Handy und ohne PC möglich war. In Kinderzimmern, wenn es sie überhaupt gab, war Elektronik noch nicht bekannt. Ich bin unsicher, ob das heute nicht bereits gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstoßen würde.
Zwei Sätze durchzogen meine Kindheit und Jugend wie ein roter Faden: »Junge, du musst lernen, damit du es einmal besser hast als wir!« und: »Wenn du etwas haben willst, musst du dafür arbeiten.« Als junger Mensch fand ich beide Leitmotive meiner Eltern nicht ganz so prickelnd. Ich ahnte damals noch nicht, wie präsent sie mir in meinem späteren Leben noch werden sollten.
Mit dem Prinzip »Willste was, machste was, dann haste was« machte ich schon sehr früh Bekanntschaft. Immer dann, wenn sich Wünsche meldeten, die nach Auffassung meiner Eltern nicht zu den Lebensnotwendigkeiten gehörten, war die Eigeninitiative gefordert. Der Plattenspieler, das Fahrrad, das Kofferradio, die Lederjacke oder das Trampen durch Skandinavien waren Auftraggeber, die keine Rückstellung duldeten. So begann ich schon als kleiner Steppke beim Bauern auf dem Feld Kartoffeln zu stoppeln (Handnachlese hinter der Maschine), das heute Gropiusstadt heißt. Das war mein erstes selbstverdientes Geld.
Die nächste Stufe der Karriereleiter hieß Zeitungsjunge. Dieser Job bescherte mir mein erstes regelmäßiges Einkommen. Nach meiner Erinnerung machte ich das so von 10 bis 13 Jahren. Mit 14 ging ich dann in den Ferien regelmäßig in die Fabrik als Hilfskraft. Immer in der ersten Hälfte, denn in der zweiten war ich mit einem Nato-2-Mann-Zelt auf dem Rücken und einem Freund an der Seite auf Achse. 4,95 DM betrug mein Stundenlohn. Viel mehr bekommt eine Bäckereiverkäuferin heute auch nicht. So doll hat sich unsere Gesellschaft in den letzten 50 Jahren wohl doch nicht verändert. Mit 17 fing ich meinen Führerschein an, und mit 18 hatte ich meinen »Kugelporsche«. Während meiner Ausbildung verdiente ich mir als Stadtführer für westdeutsche Gruppen in der Frontstadt recht ordentliches Geld dazu. Ich gebe es zu, wir Jugendlichen waren damals genauso
konsumorientiert wie die jungen Leute heute. Allerdings wäre niemand von uns auch nur im Traum auf die Idee gekommen, im Rathaus dafür die Kohle anzufordern. Wenn man etwas erreichen will, muss man reich geboren werden oder etwas tun.
Aus meiner Sicht sind viele Dinge der Gegenwart nur unter dem eingetretenen Paradigmenwechsel zu verstehen: weg von der Eigenverantwortung hin zu der Erwartung, der Staat trage die Verantwortung für das Wohl jedes Einzelnen und habe für seine Bedürfnisbefriedigung zu sorgen.
Am 30. Juni 2012 zählte Neukölln 315 652 Einwohner. Davon hatten 128 359 oder 41 % einen Migrationshintergrund, waren »nicht-deutscher Herkunftssprache« (ndH), wie das im Amtsdeutsch heißt. Migranten oder Einwanderer oder Ausländer also. Die Begriffe sind vielfältig, aber keiner ist ganz treffend. Der Lebensrealität am nächsten kommt wohl die Bezeichnung »Einwanderer«. Sie ist aber auch die unbeliebteste. Denn ein Großteil der Politik hat heute immer noch ein Problem damit, zu akzeptieren, dass die Bundesrepublik Deutschland nach den USA und vor Russland die zweitstärkste Einwandererpopulation der Erde aufweist. Der südlichste aller Ministerpräsidenten behauptete noch im vorigen Jahr immer wieder: »Deutschland ist kein Einwanderungsland«. Eine beliebte Lebenslüge der letzten 50 Jahre. Angesichts von 16 Millionen Spätaussiedlern, Asylbewerbern, Flüchtlingen und Scheinflüchtlingen, Anwerbearbeitnehmern (sprich: Gastarbeitern), nachgezogenen Familienmitgliedern, hier geborenen Kindern und Enkelkindern ist das schon ein schneidiger, wenn auch wenig geistreicher Spruch. Rund 20 % beträgt der Bevölkerungsanteil der Migranten in Deutschland insgesamt. Das ist mehr als eine qualifizierte Minderheit.
Während vielleicht viele von Ihnen an dieser Stelle ausrufen, das ist ja furchtbar, sage ich: »Und das ist auch gut so.« Aber davon später mehr im Text zur demographischen Entwicklung.
Die statistischen Zahlen bilden allerdings nicht die Realität ab: Es ist davon auszugehen, dass es eine unbekannte Zahl von aus Versehen nicht angemeldeten Bewohnern oder Besuchern gibt. Da das Bürgeramt kein statistisches Merkmal für »illegal« kennt, wissen wir nicht genau, um wie viele Menschen es sich dabei handelt. Wir rechnen in Neukölln mit etwa 10 000 bis 15 000. Hierdurch entsteht ein Anteil von nicht bio-deutscher oder auch ethno-deutscher (sorry, diese Wortungetüme entspringen dem hilflosen Versuch, klare Begriffe zu finden) Bevölkerung von knapp unter 50 %. Ich werde im Folgenden jedoch nur die offiziellen Bevölkerungszahlen zugrundelegen. Der Aspekt der Illegalen bleibt unberücksichtigt.
Geographisch wie bevölkerungsmäßig ist Neukölln durch die Trennlinie des Teltowkanals in Nord und Süd geteilt. Der heutige Norden entspricht grob dem alten Rixdorf, und der bis an die Landesgrenze nach Schönefeld reichende Süden mit seinen Ortsteilen Britz, Buckow, Gropiusstadt und Rudow setzt sich zusammen aus den 1920 eingemeindeten Dörfern bzw. der in den 1960er Jahren errichteten Neubausiedlung. Die Bevölkerungszahl teilt sich an der Kanalgrenze etwa zur Hälfte. Aufgrund der Althausbebauung mit Substandard, aber dafür billigen Wohnungen war der Nordteil des Bezirks die von den sich niederlassenden Gastarbeitern bevorzugte Region. Hieraus ist in den folgenden Jahrzehnten die Verteilung entstanden, dass 65 % der Einwanderer (82 000) im Norden und 35 % (44 000) im Süden leben. Daraus ergibt sich ein Bevölkerungsanteil von 52 % im Norden und von 28 % im Süden.
Die Einwanderer selbst stammen aus rund 150 Herkunftsländern. (Spätaussiedler werden in diesem Zusammenhang zu den Einwanderern gerechnet, obwohl dies formal nach dem Staatsangehörigkeitsrecht nicht korrekt ist. Entscheidend ist für uns die Lebenswirklichkeit und nicht die historische Abstammung.) Aus der EU stammen 31 500 Bürgerinnen und Bürger, 14 000 davon mit Polen als Herkunftsland. Aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen 13 000 Einwohner und aus der früheren Sowjetunion 5300. Aus islamischen Ländern stammen 56 600 Einwohner mit den Hauptherkunftsländern Türkei (37 000), arabische Länder (15 000) und speziell Libanon (6600). Aus den USA kommen 1300 Bewohner, aus Vietnam 1000, und bei 11 700 lassen sich die
Herkunftsländer nicht eindeutig zuordnen.
Innerhalb der Muslime, die mit 45 % fast die Hälfte aller Einwanderer stellen, belegen die Türkischstämmigen zahlenmäßig eindeutig den ersten Rang. Immerhin beträgt auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in Neukölln beachtliche 12 %. Der Anteil aller Muslime kann mit 18 % ebenfalls nicht als minimal eingestuft werden.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #4 on: November 04, 2012, 07:27:15 am »
Der Kanal teilt die Stadt nicht nur geographisch und bevölkerungsmäßig, sondern er markiert auch eine soziale Trennungslinie. Der Süden ist mit Einfamilienhausgebieten, höherem Durchschnittseinkommen und höherem Bildungsstand bürgerlicher geprägt als der Norden. Dies gilt selbstverständlich auch für die dort lebenden Einwanderer. Ein erheblicher Teil von ihnen, der es im Laufe der Zeit zu mehr oder weniger Wohlstand gebracht hat, hat inzwischen den Norden verlassen und sich im Süden angesiedelt. Nicht immer zur Freude der dort ansässigen ethno-deutschen Bevölkerung. Im Süden ist also nicht nur der Einwandereranteil erheblich niedriger als im Norden, sondern auch die sozioökonomische Situation der Bewohner deutlich besser. Das sind die beiden wesentlichen Gründe dafür, dass der südliche Teil Neuköllns eigentlich nie als sozialer Brennpunkt oder Problemgebiet der Integration empfunden und bezeichnet wird. Er ist es auch nicht.
Mit der Abwanderung bestimmter Teile der Bevölkerung des Nordens vollzog sich in den letzten 20 Jahren eine ethnische und eine soziale Segregation. Die deutschen Bewohner flohen vor dem immer stärkeren Anteil der Einwanderer, und unter den Einwanderern vollzog sich die Flucht aus dem »Ausländerghetto«. Die Menschen stimmten mit dem Möbelwagen ab. Aber mit jedem Lastwagen verließen nicht nur Möbel das Quartier, sondern auch und vor allem soziale und wirtschaftliche Kompetenz. Gerade unter den Einwanderern war dieser Aderlass schmerzlich. Es gingen die Besten. Die mit Vorbildfunktion. Die, die als soziale Kontrolle insbesondere in ihrer eigenen Ethnie wirkten. Die, die als Eltern- und Mietervertreter Verantwortung übernommen hatten oder hätten übernehmen können. Sie waren es, die die Schulen im Süden abtelefonierten, um sich zu erkundigen, wie hoch der Ausländeranteil dort sei, und um danach zu entscheiden, wo die eigenen Kinder angemeldet wurden.
Die freien Räume im Norden wurden natürlich sofort wieder gefüllt. Entweder durch zuziehende deutsche Multiproblemfamilien, seit Generationen Arbeitsplatzsicherer im Sozial- und im Jugendamt, oder die frische Einwandererfamilie. Frisch, weil gerade eingereiste Asylbewerber oder die junge Familie mit dem eingeflogenen Importbräutigam oder der Importbraut. Nicht nur, dass wir mit der neuen jungen Migrantenfamilie wieder bei Punkt Null der Integration anfangen mussten und müssen, nein, auch der integrationsfähige und integrierende Bevölkerungsanteil wurde immer schwächer. Einer schwindenden bildungsorientierten Bevölkerungsschicht standen immer stärker werdende gesellschaftlich marginalisierte Gruppen gegenüber, denen dazu auch noch die schwersten der gesellschaftlichen Aufgaben aufgebürdet wurden: die Integration neuer kultureller Einflüsse und die Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebenswelten. Das konnte nicht gutgehen. Und so veränderte sich fast unmerklich, aber im Alltag dann doch deutlich sichtbar auch der öffentliche Raum in Nord-Neukölln.
Wenn ich heute Menschen frage, von welchem Zeitpunkt an sie diese Entwicklung bewusst wahrgenommen und für sich als negativ und belastend empfunden haben, wird mir übereinstimmend der Zeitraum Anfang bis Mitte der 1990er Jahre genannt. Für die Mehrheitsbevölkerung unübliche Verhaltensweisen wurden evident. Und wenn es nur die war, dass migrantische Familien in unseren Fußballplätzen einen idealen Ort zum Picknicken erkannten und nur sehr unwirsch dem Trainings- und Spielbetrieb ab 16.00 Uhr wichen.
Durch den Zuzug steigerte sich auch der Anteil der migrantischen Schüler in unseren Schulen explosionsartig. Ebenso ging diese Entwicklung nicht spurlos an unseren Jugendclubs vorbei. Ich kann das aus meiner beruflichen Tätigkeit als damaliger Jugenddezernent bestätigen. Zu jener Zeit begannen wir kleine Stadtteilläden verstreut im gesamten Norden einzurichten, die sich an die jungen Leute des direkten Wohnumfelds richteten. Die durchaus auch ethnisch ausgerichtet
waren, weil sich bereits damals die Jugendlichen nur äußerst ungern mischten.
All dies ging einher mit Veränderungen der lebensweltlichen Rahmenbedingungen. Nach dem Mauerfall 1989 drehte der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel kurzerhand den Hahn der Berlin-Förderung zu. Berlin sei jetzt eine normale Stadt und müsse sich selbst ernähren, sagte er. Die Zeit des Pamperns als Bollwerk gegen den Kommunismus sei vorbei. Dies hatte als erstes nach dem Flashlight-Effekt der alles konsumierenden DDR-Bürger zur Folge, dass die Arbeitsplätze der verlängerten Werkbank Berlin (West) wegbrachen. Sobald die Subventionen nicht mehr flossen, verloren die Firmen schlagartig das Interesse an ihren Zweigniederlassungen in West-Berlin. Allein im verarbeitenden Gewerbe fielen in den 1990er Jahren fast 60 % der Industriearbeitsplätze weg. Neukölln als starker Standort der Nahrungs- und Genussmittelindustrie bekam eine volle Breitseite ab. Etwa 20 000 Arbeitsplätze verschwanden von heute auf morgen. Viele entstanden wieder neu, nur nicht bei uns. Sondern dort, wo die Arbeitskraft der Menschen billiger zu haben war.
Die spektakulärsten Fälle waren wohl Alcatel und Milka Lila Pause. Das eine, ein gesundes Werk der Metallindustrie mit vollen Auftragsbüchern, wurde vom französischen Mutterkonzern zur Jahrtausendwende gekillt und ein paar Kilometer weiter in Poznan wiederaufgebaut. Ein Arbeiter kostete dort nur ein Drittel des Lohns seines Neuköllner Kollegen. Mit Lila Pause überschwemmten wir halb bis ganz Europa. Als das riesige, mit hohem Investitionsaufwand errichtete modernste Schokoladenwerk Europas 1994 geschlossen wurde, war es gerade einmal vier Jahre in Betrieb. Ich hatte mit den Grundstein gelegt, das Richtfest gefeiert und die Inbetriebnahme. Von der Licht-aus-Aktion erfuhr ich aus der Presse. So »nachhaltig« sind staatliche Subventionen.
Die Entwicklung zum sozialen Brennpunkt von Nord-Neukölln hatte also verschiedene Ursachen. Bildungsaffine Familien mit beruflichen Kompetenzen und gesunder wirtschaftlicher Grundlage verließen das Gebiet, Arbeitsplätze wurden abgebaut, Menschen verloren ihre wirtschaftliche Basis und damit ihre Liquidität. Bildungsferne Familien zogen zu, destabilisierten das soziale Gefüge und dominierten nach und nach das Quartier. Das entsprechend gewandelte Konsumverhalten der Anwohner sowie die beginnende Verwahrlosung des öffentlichen Raums machten den Einzelhandelsstandort unattraktiv und führten zu starkem Kunden- und Umsatzrückgang. Ein Geschäftesterben setzte ein.
Die Karl-Marx-Straße war trotz ihres Namens einmal einer der attraktivsten Handelsorte im Westen der Stadt. Sie konkurrierte stets mit der Steglitzer Schloßstraße darum, wer hinter dem Kurfürstendamm und der Wilmersdorfer Straße Platz 3 im Ranking einnimmt. Bei Schuhen und Unterhaltungselektronik war die Karl-Marx-Straße das Maß aller Dinge. Hier präsentierten sich ganze Branchen. Heute ist der einstige Einkaufsboulevard nur noch ein Schatten seiner selbst. Der frühere Glanz musste der Tristesse weichen. Handyläden, Billiganbieter, Tag-und-Nacht-Geschäfte, Spielhallen und Wettbüros prägen das Stadtbild, und nur wenige Fachgeschäfte von früher haben überlebt. Auf der drei Kilometer langen Straße sind es von einst 400 nicht mehr als ein gutes Dutzend. Meist steht hier das gesamte Haus im Eigentum, so dass nur eine steuerliche Miete anfällt, oder die Besitzer sind zu alt, um sich noch einmal zu verändern. Mitunter wird das Geschäft allein aus Tradition aufrechterhalten und durch Erträge aus anderen Unternehmungen quersubventioniert.
In der Hermannstraße und der Sonnenallee, den beiden anderen Hauptverkehrsstraßen, ist die Entwicklung identisch. Die Hermannstraße fällt vor allem durch reißerische Leuchtreklame an fast 40 Geschäften auf, die die Möglichkeit zum Wetten und Spielen bieten. Obwohl es zu 90 % nur Pseudo-Spielhallen sind, so ist das aggressive Erscheinungsbild doch prägend für den gesamten Straßenzug. Sie müssen schon über eine solide Pfadfinderausbildung verfügen, um auf der mehrere Kilometer langen Geschäftsstraße einen Imbiss mit Schweinefleischprodukten zu finden. Viel Glück, berichten Sie mir von Ihren Jagdergebnissen.
In der Sonnenallee können Sie häufig nur dann die Dinge des Lebens erwerben, wenn Sie zweisprachig deutsch-arabisch oder noch besser arabisch-deutsch beschlagen sind. Das ist natürlich eine ebenso spaßhafte wie traurige Übertreibung. Aber es ist schon so, dass die arabischen
Schriftzeichen an den Geschäften dominieren. Und wer seinen Hunger mit einer ganz normalen Currywurst oder einer Bulette stillen will, kann auch hier nicht gerade auf ein überbordendes Angebot zurückgreifen. Imbisse mit bei den Ur-Berlinern beliebten Produkten gibt es in weiten Teilen der Neuköllner Innenstadt so gut wie kaum noch. Auch das verändert den Charakter einer Straße und eines Wohngebiets und führt zu Überfremdungsgefühlen und Segregation. Wenn Menschen, die die Stadt mit aufgebaut haben, nicht mehr lesen können, was feilgeboten wird, und erst ins Schaufenster blicken müssen, um das herauszufinden, dann verlieren sie ihre Identität und auch die Hinwendung zu ihrem Wohnumfeld. Das »Hier-bin-ich-zu-Hause«-Gefühl schwindet.
Die beiden Stadtteile Nord und Süd entfremdeten sich immer mehr voneinander, ohne dass jemand einen Zaun gezogen hatte. Im Norden veränderten sich der öffentliche Raum und das Straßenbild. Neue unattraktive Branchen beeinflussten das Erscheinungsbild negativ. Das Warenspektrum orientierte sich immer stärker an der unmittelbaren, kaufkraftarmen Anwohnerschaft. Extra hinfahren musste man hierher nicht mehr. All diese Dinge zusammen machten den Niedergang der Geschäftsstraßen unausweichlich.
Der Neuköllner Norden profitierte aber bis zu diesem Umbruch traditionell von den Impulsen und der Stimulanz aus dem Süden. Die immer stärker werdende Abstinenz der Südneuköllner führte folglich auch optisch zu einer starken Dominanz der Einwanderer. Was soll ich denn da? Zu kaufen gibt es nichts für mich, und da sind doch nur Ausländer. So entwickelte sich auch innerhalb des Bezirks eine Rangordnung. Die Namen von Straßen und Plätzen, die zu meiner Jugendzeit geachtete und völlig unspektakuläre Aufenthaltsorte waren, wurden plötzlich nur noch beklagend oder geringschätzig in den Mund genommen. Menschen, die erzählten, dass sie in der Soundso-Straße geboren und aufgewachsen seien, schlossen den Satz mit: »… da kann man heute aber nicht mehr wohnen«, oder wurden mit den Worten bemitleidet: »Na, da sind Sie wohl gerade noch rechtzeitig weggekommen.«
Der Bau eines großen Einkaufszentrums im Süden machte dann der Geschäftswelt im Norden wohl endgültig den Garaus. Auch wenn der größte Teil der Kundschaft bereits vorher weggeblieben war, so hatte der verbliebene Rest jetzt ebenfalls eine Alternative, die er gerne annahm. Ja, man fuhr sogar aus dem Norden in den Süden, um im neuen Einkaufszentrum die Dinge zu erwerben, die es im Wohngebiet nicht mehr gab. Namen wie Quelle, Leffers, Leiser, Hertie und viele andere hatten sich hier längst verabschiedet.
Heute muss man eingestehen, dass sich zwei unterschiedliche Lebenswelten im Bezirk etabliert haben. Alles nicht in Reinkultur, aber das Gesamtergebnis lässt sich nicht beschönigen. Überall gibt es Einsprengsel, im Norden Wohnblöcke mit völlig unauffälliger bürgerlicher Bewohnerschaft oder im Süden Neonazi-Cliquen und punktuelle Einwanderermilieus der Bildungsferne.
Nachdem sich die Entwicklung im Neuköllner Norden so dramatisch zugespitzt hatte, konnte es nicht überraschen, dass immer mehr Teilgebiete in die Förderkulisse des Programms »Soziale Stadt« aufgenommen werden mussten (QM-Gebiete – Quartiersmanagement-Gebiete). 1999 waren es drei Quartiere, drei Jahre später vier, im Jahr 2005 bereits neun, und seit 2009 sind es zehn QM-Gebiete sowie ein zusätzliches Förderprogramm »Aktionsraum Plus«. Im Grunde genommen ist der gesamte Neuköllner Norden inzwischen ein einziges Fördergebiet. Dieser Erkenntnis ist eine jahrelange Auseinandersetzung zwischen Prof. Dr. Häussermann und mir auf der einen und dem Land Berlin auf der anderen Seite vorausgegangen. Im Ergebnis ein Erfolg für Neukölln, wenn auch mühsam erkämpft.
Das Programm »Soziale Stadt« hat bisher rund 1500 Projekte mit den Schwerpunkten Bildung, Integration und Partizipation finanziert. Das Fördervolumen beläuft sich auf insgesamt knapp 46 Millionen Euro. Neben den professionellen Stadtteilmanagern beteiligen sich 220 Bürgerinnen und Bürger in den Quartiersräten an den Strategien gegen den sozialen Verfall ihrer Wohngebiete. Das Förderprogramm »Soziale Stadt« ist insofern das einzige Instrument, das politik-
und verwaltungsfern vor Ort versucht, das noch vorhandene Engagement mit allen sozialen und kreativen Kräften zu sammeln und als innovative Speerspitze gegen die Interesselosigkeit der Masse zu nutzen. Allein schon aus diesem Grund halte ich den Rückzug der Bundesregierung aus der sozialen Aufgabenstellung des Programms für fatal. Es war eine überaus richtige Entscheidung des Berliner Senats, die Kürzungsraten des Bundes durch Landesmittel auszugleichen. Zumal neben den sozialen Interventionen durchaus auch »handfeste« Projekte auf den Weg gebracht wurden. So entstanden allein zehn neue Jugendeinrichtungen, und viele Spielplätze und Pausenhöfe konnten saniert werden.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #5 on: November 04, 2012, 07:28:23 am »
Natürlich hinterließen die Veränderungen auch in der Bevölkerungsstruktur deutliche Spuren. Kindertagesstätten und Schulen sind hierbei die einzig verlässlichen Seismographen. Hier kann man zählen, beobachten, reden, Erfahrungen sammeln, Konflikte erleben und lösen. Kinder und ihre Elternhäuser sind das Original. Aus diesem Grund sind die Berichte und Hinweise von Erziehern und Lehrern aus unseren Einrichtungen für mich authentisch. Wichtiger und wegweisender als viele wissenschaftliche Untersuchungen, Abhandlungen und Ergüsse von tatsächlichen oder selbsternannten Experten, Sozialromantikern und Elfenbeinturmpolitikern. Deshalb wird den Stimmen aus der Praxis in diesem Buch auch breiter Raum eingeräumt.
In unseren Grundschulen unterrichten wir rund 14 100 Schüler, von denen 9300 einen Migrationshintergrund haben; das sind 66 %. Im Norden – zur Erinnerung: 150 000 Einwohner – sind es 87 %; 6300 von 7200 Schülern. Klassen mit gar keinen oder nur einigen wenigen Schulkindern deutscher Herkunft sind hier keine Seltenheit. Die Frage, wer hier wen wohin integriert, stellt sich da schon lange nicht mehr. Die einzigen Repräsentanten der deutschen Gesellschaft sind häufig nur noch die Lehrerinnen und Lehrer oder in den Kindergärten die Erzieherinnen und Erzieher. Ein interkultureller Transfer zwischen Kindern deutscher und nicht-deutscher Herkunft ist eher die Ausnahme.
Der Anteil der Schüler nicht-deutscher Herkunftssprache sagt für sich genommen kaum etwas über das soziale Gefüge in den Schulen aus. Erst in Kombination mit der Freistellung von der Zuzahlung bei den Lernmitteln entsteht ein Bild. Nichts zu den Lernmitteln beisteuern müssen alle Erziehungsberechtigten, die öffentliche Leistungen wie Hartz IV, Sozialhilfe, Wohngeld oder Bafög beziehen. Der Anteil betrug im Schuljahr 2011/2012 in ganz Neukölln 55 % und im Norden 79 %. Hier weisen nicht wenige Schulen sogar Befreiungen von über 90 % aus.
Wenn Sie sich von diesen Fakten wieder erholt haben, bedarf der letzte Aspekt noch der Vertiefung. Die Befreiungen bedeuten, dass in einer Schule 80 %, 90 % oder fast alle Eltern keiner geregelten, offiziellen Arbeit nachgehen. Den nicht fassbaren Teil der Aufstocker, also der Erwerbstätigen, die wegen ihres niedrigen Einkommens ergänzende öffentliche Leistungen erhalten, lasse ich an dieser Stelle einmal bewusst außen vor. Hieraus folgt, dass die Kinder in diesen Familien ohne den Einfluss der natürlichsten und entscheidendsten Triebfedern unseres menschlichen Seins sozialisiert werden: einen Lebensentwurf fertigen, ein Ziel haben, Leistung erbringen, Pläne verwirklichen, über Erreichtes Genugtuung empfinden, Misserfolge und Rückschläge verkraften, den Nachkommen ein Vorbild sein, um irgendwann mit ein bisschen Stolz auf sein Leben zurückblicken zu können. Die Kinder erleben nie, dass Vater und Mutter regelmäßig früh aufstehen und dann abends strahlend nach Hause kommen, weil sie Erfolg hatten, oder betrübt sind, weil es einen Misserfolg bei der Arbeit gab.
Die Wechselfälle des Lebens gehen nicht in die Erlebniswelt dieser Kinder ein und bereiten sie nicht auf eigene Lebenserfahrungen vor. Wenn die Lehrerin sie anfeuert: »Ihr müsst tüchtig lernen, damit ihr einen guten Schulabschluss macht, einen tollen Beruf erlernen könnt und viel Geld verdient, damit ihr eine schöne Frau heiraten und einen schwarzen BMW fahren könnt«, dann sagen unsere Kinder: »Aber Frau Lehrerin, das Geld kommt doch vom Amt.« Das sagen sie nicht, weil sie die Lehrerin ärgern wollen, sondern weil sie es nicht anders kennen. Kinder sind immer nur unser Spiegel.
In einer Grundschule haben wir bei der Feststellung der Befreiung von der Zuzahlungspflicht einmal die elterlichen Bewilligungsbescheide des Jobcenters aufgerechnet. Wir kamen auf rund 500 000 Euro pro Monat. Die gesamte Lebenswelt der Kinder dieser Schule alimentiert die Gesellschaft jährlich mit einem Betrag von sechs Millionen Euro. Ohne das Netz der Gemeinschaft wäre eine ganze Schule mit ihren Kindern nicht lebensfähig. Warum in drei Teufels Namen soll dann diese Gesellschaft nicht auch das Recht, ja die Pflicht haben, Forderungen zu stellen, wie sich diese Welt zum Wohle der Kinder und zum Wohle der Gesellschaft weiterzuentwickeln hat?
Wie dynamisch die beschriebenen Entwicklungen sind, sieht man an der Steigerung der Befreiungen von 33,5 % im Jahr 2004 auf 55 % im Jahr 2012. Die Theorie, dass sich soziale Verwerfungen mit der Zeit »verwachsen«, wird auch an dieser Stelle widerlegt.
Zur Geschwindigkeit der sich vollziehenden Entwicklung kann auch der Hinweis gelten, dass im Jahr 2000 der Anteil der nicht-deutschen Schüler an allen Schulabgängern in Neukölln 25 % betrug. Im Jahr 2011 waren es bereits 57 %. Wenn wir also über Notwendigkeiten von Veränderungen in Bildungssystemen sprechen, so tun wir das nicht über die Bedürfnisse einer kleinen Minderheit. In vielen Städten stellen die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund bereits mehr als die Hälfte der Gesamtschülerschaft. Auch die Wirtschaft muss zur Kenntnis nehmen, dass neben der sinkenden Gesamtzahl durch rückläufige Geburtenziffern mit den Einwandererkindern eine zweite Komponente bei der Gewinnung von Nachwuchskräften hinzukommt.
Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Schülerzusammensetzung kann auch ein Blick auf den Verlauf der Schulkarrieren nicht ausbleiben. Ich konzentriere mich an dieser Stelle auf die Abiturquoten. Im Jahre 2000 haben 10 % der migrantischen Schüler in Neukölln die Schule mit dem Abitur abgeschlossen. 2011 waren es 22 %. Wer hieraus eine exorbitante Steigerung der Schulerfolge von Einwandererkindern schlussfolgert, springt zu kurz. Denn ein solcher Anschein relativiert sich schnell, wenn man die Zahlen mit der Abiturquote deutschstämmiger Schüler vergleicht. Sie ist im selben Zeitraum von 25 % auf 42 % angestiegen. Die Bildungskluft zwischen den Schülern deutscher und nicht-deutscher Herkunft aus dem Jahr 2000 hat sich also mitnichten verringert. Die migrantischen Schüler haben noch immer nicht im gleichen Umfang Teilhabe am Bildungserfolg wie ihre deutschen Mitstreiter. Im Gegenteil, die Schere ist sogar weiter auseinandergegangen. In Zahlen ausgedrückt: Beim letzten Jahrgang haben 42 % der deutschen Schüler mit der allgemeinen Hochschulreife abgeschlossen, bei den ndH-Schülern hingegen nur 22 %. Die Differenz hat sich von 15 % auf 20 % erhöht.
Dies ist ein gutes Exempel, wie in der politischen Darstellung Sachverhalte schöngeredet und problematische Entwicklungen verschwiegen werden. Die Erfolgsmeldung in unserem Beispiel, dass sich die Abiturabschlüsse in Neukölln in den letzten elf Jahren mehr als verdoppelt haben, ist faktisch vollkommen richtig. Dass dieser Erfolg eingebettet in eine allgemeine Zunahme höherwertiger Schulabschlüsse und bei den nicht migrantischen Schülern die Erfolgsquote deutlich stärker angestiegen ist, wird aber nicht kommuniziert. Ohne die Leistung des einzelnen Schülers schmälern zu wollen, bleibt für mich die Feststellung, dass wir auf dem Bildungssektor bei der Frage der Chancengerechtigkeit nicht wesentlich vorangekommen sind.
Natürlich möchte ich auch den Vergleich der Berliner Zahlen nicht schuldig bleiben. Während in Berlin durchschnittlich 48 % aller deutschstämmigen Schüler ihre Schullaufbahn mit dem Abitur beendeten, waren es bei den Schülern mit Migrationshintergrund lediglich 24 %. Also ein identisches Bild. Die Anzahl der ndH-Schüler nimmt stark zu, auch die Bildungserfolge zeigen eine leichte Tendenz nach oben auf, ohne allerdings auch nur im Entferntesten an den Standard der deutschstämmigen Schüler heranzukommen. Schönreden ist hier auch völlig fehl am Platz. Unser Bildungssystem schafft es über ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Einwanderung immer noch nicht, Schüler unabhängig von ihrer Herkunft zu integrieren.
Das Unwohlsein über die gefeierten Erfolgsmeldungen der Schulabschlüsse verstärkt sich
noch bei einer weiteren Differenzierung. Zumindest unter Insidern ist es kein Geheimnis, dass die einzelnen Ethnien sehr ungleich, gemessen an ihrem Schüleranteil, an den höheren Schulabschlüssen beteiligt sind. Nach einer Erhebung des Senats im Jahr 2006 betrug zum Beispiel der Anteil der türkischstämmigen Schüler an allen ndH-Schülern 42 %. An den Abituren aller ndH-Schüler waren sie jedoch nur zu 23 % beteiligt. Polnische Schüler mit einem Mengenanteil von 4,2 % waren es hingegen zu 10 % und vietnamesische Schüler bei einem Anteil von 4,1 % zu 6 %.
Die Negativskala zeigt im Vergleich der deutschen mit den ndH-Schülern zwar eine inzwischen etwas abgeflachte Kurve, die aber immer noch deutliche Unterschiede ausweist. In Neukölln verlassen 14 % der Schüler die Schule ohne Abschluss (berlinweit 9 %). Bei den Schülern mit Migrationshintergrund sind es 18 % (berlinweit 14 %). Ohne Schulabschluss oder mit dem Hauptschulabschluss verlassen 42 % der Schüler in Neukölln die Schule (in Berlin 29 %). Bei den Schülern nicht-deutscher Herkunft sind es 50 % (in Berlin 43 %). Dass der Hauptschulabschluss nicht selten ein Akt pädagogischer Gnade der Lehrerin oder des Lehrers ist, sei mit dem Mantel des Schweigens bedeckt.
Die Schwierigkeit unseres Bildungssystems, gerade die Schüler mit Migrationshintergrund zu erreichen und zu motivieren, lässt sich auch an den Neuköllner Ergebnissen der Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss 2012 ablesen. Von den teilnehmenden Realschülern waren 69 % nicht-deutscher Herkunft. Wir sehen hier bereits ein deutliches Übergewicht der Einwandererkinder in den Realschulen. Von diesen Prüflingen haben lediglich 64 % im Fach Deutsch bestanden und nur 17 % (!) in Mathematik (die Durchfallquote aller Mädchen betrug in Mathematik 91 %). Noch Fragen? Insgesamt haben zwei Drittel der Schüler den Mittleren Schulabschluss geschafft. In Bezirken mit weniger starken Migrantenanteilen liegt diese Quote bei über 80 %.
Zur Bestehensquote allgemein muss man allerdings noch wissen, dass in Berlin seit dem Prüfungsjahrgang 2011 durch ein mündliches Nachprüfen das Manko bei der schriftlichen Prüfung ausgeglichen werden kann. Man kann das Desaster also wegquatschen. Damit relativieren sich natürlich Prüfungsergebnisse. Ich entstamme noch einer Generation, bei der es mit einer Fünf in Deutsch oder Mathematik in der heutigen Sprache hieße »no way, once again, please«. Ich persönlich stehe dem Mittel von Leistungsabsenkungen zur Erhöhung der Bestehensquote außerordentlich distanziert gegenüber. Man trainiert einen Hochspringer auch nicht damit, dass man die Latte niedriger hängt. Die Leistung muss dem Standard angepasst werden und nicht umgekehrt. Der Aufprall der jungen Menschen wird in der realen Welt des Berufslebens immer furchtbarer, je mehr wir sie mit einer Scheinwelt ihrer Kompetenzen in Watte packen.
Der Anteil der Bevölkerung mit fehlenden allgemeinen oder beruflichen Abschlüssen, also ohne zumindest Hauptschulabschluss oder Anlernausbildung, betrug 2010 in Neukölln 30,3 %. Im Jahr 2005 waren es 32,5 %. Demnach ist in sechs Jahren nur eine marginale Verbesserung eingetreten. Diese Werte übersteigen diejenigen für den Bezirk Pankow um das Vierfache und die für den Bezirk Treptow-Köpenick um das Dreifache. Deutlich auffällig ist auch der Bezirk Mitte, der ebenfalls einen starken Anteil von Einwanderern an der Gesamtbevölkerung aufweist. Interessant ist in diesem Zusammenhang noch eine Auswertung des Anteils der Bevölkerung unter 60 Jahren, der in einem Haushalt ohne Erwerbstätige lebt. In Neukölln ist das jeder Vierte mit 25,8 % gegenüber 27,2 % im Jahr 2005. Auch in diesem Feld ist der Bezirk Mitte der einzige Bezirk, der mit 27,2 % im Jahr 2010 sogar noch schlechter abschnitt.
Die Arbeitslosenquote betrug im Frühjahr 2012 in Neukölln 22 %. Regionalisiertes statistisches Material über die Arbeitslosigkeit bei Einwanderern liegt mir nicht vor. Wir schätzen die entsprechende Quote allerdings auf mindestens 35 %. Dies ist wahrscheinlich noch eine sehr konservative Betrachtungsweise.
Nur jeder siebte Arbeitslose in Neukölln erhält das originäre Arbeitslosengeld I. Das Gros hat keinen Anspruch auf diese Versicherungsleistung, weil entweder die Anwartschaft nicht erfüllt wird oder die Arbeitslosigkeit schon länger besteht. Die Masse bezieht also steuerfinanziertes Hartz
IV. Das »Arbeitslosengeld II«, wie es korrekt heißt, hat die frühere Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe abgelöst.
Mit der Einführung von Hartz IV hat sich die Zahl der Menschen mit Transfereinkommen – im Jargon auch Stütze oder Sozialknatter genannt – erheblich ausgeweitet. Betreute das Neuköllner Sozialamt früher rund 50 000 Kunden, so sind es im Jobcenter konstant rund 80 000. Interessant ist, dass konjunkturelle Schwankungen nur einen geringen Einfluss auf den Kundenstamm des Jobcenters haben. Nach meinen Beobachtungen beträgt die Bandbreite der Zu- und Abgänge maximal 5 %. Jeweils im Juni von 2007 bis 2012 belief sich die Gesamtzahl zwischen 77 400 als unterstem Wert und 80 950 im oberen Bereich. Die Zahl der unter 25-Jährigen beträgt nach gleichem Schema 31 730 bis 33 200. Die Zahl der erwerbsfähigen Hilfeempfänger variiert von 56 200 bis 58 200. Dennoch handelt es sich nicht um statische Akten. Innerhalb eines Jahres integriert das Jobcenter 11 000 Kunden in den Arbeitsmarkt oder in Maßnahmen. Der sogenannte Drehtüreffekt muss also eine enorme Bedeutung haben. Nach Angaben des Neuköllner Jobcenters befinden sich fast 60 % aller in den Arbeitsmarkt Vermittelten schon nach sechs Monaten wieder im Leistungsbezug. Diese sehr kurzfristigen Beschäftigungsepisoden hängen mit der Niedrigqualifikation der Hilfeempfänger zusammen. 28 % verfügen über keinen Schulabschluss und 67 % über keine Berufsausbildung. Sie sind natürlich die ersten, die bei betrieblichen Maßnahmen zur Disposition stehen, aber auch mangelndes Durchhaltevermögen und Unstetigkeit spielen eine Rolle.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #6 on: November 04, 2012, 07:29:26 am »
Es ist davon auszugehen, dass insgesamt 92 000 aller Einwohnerinnen und Einwohner Neuköllns Transferleistungen beziehen. Das ist fast jeder Dritte. Betrachtet man speziell die Empfänger von Hartz IV, beeindruckt der Wert von 130 Bedarfsgemeinschaften auf 1000 Einwohner. Das ist Rang 1 in Deutschland. Zum Vergleich: Die Stadt Essen liegt mit 72 Bedarfsgemeinschaften auf Platz 4. Bei den unter 25-Jährigen beträgt der Anteil der Leistungsempfänger von Hartz IV in Neukölln 41 % (Berlin 28 %). In Nord-Neukölln schätzen wir den Anteil auf ca. 70 %. Im Klartext bedeutet das, dass der Hartz-IV-Bezug unter den jungen Leuten eine völlige Normalität darstellt. Auf die Frage, was sie denn mal werden wollen, antworten manche Kinder schon: »Ich werde Hartzer«, oder: »Warum Ausbildung, es gibt doch Hartz IV?« Da aber niemand vom Regelsatz protzige Autos mieten, in Hinterzimmern das Geld verzocken oder im Quartier sonst wie auf dicke Hose machen kann, muss es weitere Einkommensmöglichkeiten für die jungen Leute geben. Bezeichnenderweise erklären die Vermittler des Jobcenters, dass etwa 90 % der Kunden unter 25 Jahren ohne Qualifizierungs- und Lebenshilfemaßnahmen objektiv nicht in den Arbeitsmarkt vermittelbar sind.
Insgesamt setzen sich die Leistungsempfänger des Jobcenters sehr heterogen zusammen. Zum einen sind es Menschen mit Handicaps jedweder Art (von Behinderung bis hin zu fehlenden Kompetenzen bei Überschuldung) oder im Lebensalter ab 50 Jahren, die als angeblich nicht mehr voll leistungsfähig vom Arbeitsmarkt aussortiert worden sind. Wie ich finde, eine grauenvolle Fehleinschätzung, denn Lebenserfahrung und langjährige Berufsroutine sind zwei Werte, die man nicht unterschätzen sollte. Ich jedenfalls fühle mich, so betrachtet, altersdiskriminiert. Wer kennt sie nicht, die schneidigen jungen Leute, die einem im Alltag begegnen, manchmal von nichts eine Ahnung haben und völlig hilflos sind, wenn der Computer keine vorgefertigten Antworten auf eine Frage auswirft.
Eine zweite Gruppe sind die Alleinerziehenden. War der Verlust eines Lebenspartners früher ein Schicksalsschlag, so ist »alleinerziehend« inzwischen fast zu einer Lebensphilosophie oder zu einem Label geworden, das man mit einem gefühlten Ausrufezeichen in den Lebenslauf schreibt. In Berlin sind rund ein Drittel aller Mütter oder Väter alleinerziehend. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 20 %. Zu diesem Thema möchte ich mich nicht ausbreiten und mich nur auf die Tatsache beschränken, dass 45 % aller Alleinerziehenden vom Sozialsystem komplett oder ergänzend getragen werden. In Gesprächen bin ich immer wieder überrascht, mit welcher
Selbstverständlichkeit Menschen davon ausgehen, dass es die natürliche Aufgabe der Gemeinschaft sei, sie zu alimentieren, und ihre Lebens- wie Familienplanung darauf ausrichten. Insbesondere bei Alleinerziehenden ist diese Auffassung recht stark verbreitet. Der Umstand, durch Zeugung und Erziehung der Gemeinschaft ausreichend gedient zu haben, fungiert dabei als unerschütterliche Rechtfertigung, die jeden Zweifel als unmoralisch entrüstet zurückweist.
Eine weitere Gruppe sind die, die den Anforderungen des heutigen Arbeitsmarktes nicht mehr gewachsen sind. Die auch in Neukölln durchaus vorhandene Nachfrage nach Arbeitskräften passt häufig nicht mit dem Qualifikationsniveau der angebotenen Arbeitskräfte zusammen. In großer Zahl sind das angeworbene Arbeitnehmer, die betriebsintern angelernt wurden. Die Betriebe und die Bänder sind fort. Die zurückgebliebenen Arbeitskräfte finden nur selten wieder Anschluss bei anderen Unternehmen oder haben auch inzwischen die Leistungen des Sozialsystems mit Gewöhnungscharakter akzeptiert.
Einen nicht unbeträchtlichen Anteil der Kundschaft bilden ferner diejenigen, die aus sich selbst heraus nicht arbeitsmarktnah sind, wie es in der Sprache der Arbeitsagentur so schön heißt. Früher nannte man sie »Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen«. Da diese Bezeichnung zu diskriminierend erschien, benutzt man heute den Begriff der »komplexen Profillage«. Auf Deutsch meint das nichts anderes als Überschuldung, Suchtprobleme, asoziales Verhalten.
Die verbleibende Gruppe sind die Menschen, die das Sozialsystem bewusst als Eier legende Wollmilchsau betrachten oder, vornehmer formuliert, es als allgemeine Lebensgrundlage für sich angenommen haben. Die Sozialleistungen dienen der Absicherung der Grundlasten des Lebens wie Miete, Essen und Trinken, Energie und Krankheitskosten. Für den Spaßfaktor im Leben findet sich dann schon eine Gelegenheit des Zubrotes. Nun hat es das, was im Amtsdeutsch »Erschleichen von Sozialleistungen« heißt, immer gegeben, auch ohne Einwanderung. In Verbindung mit der Einwanderung aber übt ein System, das pekuniäre Leistungen austeilt, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, auf Menschen eine hohe Versuchung aus, wenn sie aus Kulturkreisen stammen, in denen man ein staatliches Solidarsystem und den gesellschaftlichen Schutz vor existenzieller Not überhaupt nicht kennt.
Der Fairness halber darf man die nicht unterschlagen, denen wir es verboten hatten, für sich selbst durch Arbeit zu sorgen: Asylbewerbern war es untersagt, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Dahinter stand der politische Wille, eine Sogwirkung nach dem Motto »Kommt alle her, hier kann man richtig Geld machen« zu vermeiden. Die jahrelange Dauer der Asylverfahren, Staatenlosigkeit und weggeworfene Pässe mit einhergehender Amnesie des Wegwerfers, all diese Dinge führten zu Dauerduldungen teils über Jahrzehnte. Wenn man Menschen über einen so langen Zeitraum an das Sozialsystem gewöhnt, darf man sich nicht beklagen, wenn sie eine perfektionierte Professionalität erreichen und die Rechtsmaterie sicherer beherrschen als mancher Sachbearbeiter im Jobcenter.
An dieser Stelle will ich die verallgemeinernde, umgangssprachliche Kategorisierung aller Hartz-IV-Empfänger als Unterschicht aufgreifen. Immer wieder werden alle Menschen im Transfersystem als Unterschicht kategorisiert. Allein schon durch die vorstehende Differenzierung wird deutlich, dass die Empfänger von Hartz IV keine homogene Gruppe sind. Die Unterschicht hingegen ist es schon. Von Unterschicht spricht man immer dort, wo soziale, kulturelle, ökonomische und Bildungskompetenzen nicht vorhanden sind. Warum aber soll ein arbeitsloser Akademiker keine Bildungskompetenzen, eine alleinerziehende Mutter keine sozialen und ein Einwanderer keine kulturellen Kompetenzen haben? Also wird eine pauschalierende Betrachtungsweise der Vielschichtigkeit der Lebensläufe von Transferleistungsempfängern in keiner Weise gerecht.
Im Übrigen stammt der Begriff »Unterschicht« aus den Anfängen der Soziologie. Die heute gelegentlich verwendeten Begriffe wie »Prekariat« oder gar »abgehängtes Prekariat« haben eigentlich nur den Sinn, ein als stigmatisierend gebrandmarktes Wort schönredend zu umgehen. Manchmal dienen sie im Diskurs auch nur der Verschleierung gesellschaftlicher Realitäten.
Ein Viertel der Berlinerinnen und Berliner hat ein Einkommen unterhalb oder in der Nähe der Armutsgefährdungsschwelle. Auch hier liegt Neukölln mit 38 % weit über dem Durchschnitt. Der Grenzwert liegt in Berlin für einen Erwachsenen bei 766 Euro Nettoeinkommen pro Monat. Für alle weiteren Haushaltsmitglieder über 13 Jahre wird die Hälfte dieses Betrages hinzugerechnet und für die Jüngeren 30 %. Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund gehen wir in Nord-Neukölln von etwa 60 % aus, die – wenn man ihre offiziellen Einkünfte zugrunde legt – dieses Kriterium erfüllen. Schnell liest sich über diesen Satz hinweg. Er spricht eine deutlichere Sprache, wenn man sich vor Augen hält, dass in Nord-Neukölln der Anteil der Kinder unter 15 Jahren, die im Hartz-IV-Bezug stehen, entgegen dem Berliner Trend kontinuierlich steigt und mit 67 % fast doppelt so hoch wie im Berliner Durchschnitt ist. In einzelnen Wohngebieten im Norden hat dieser Wert bereits 75 % erreicht. Das heißt, für drei von vier Kindern ist es völlig normal, dass die eigenen Lebensverhältnisse und die Geldleistungen des Staates in einer unmittelbaren Wechselbeziehung stehen. Dies muss Auswirkungen auf ihre spätere Einstellung zur Eigenverantwortlichkeit und zu ihren Lebensperspektiven haben.
Wie bereits erwähnt, muss die Sozialisation der Kinder in einer permanenten Empfängersituation staatlicher Alimentation eine Erwartungshaltung prägen, die jeglichen Willen zur eigenen Leistungsbereitschaft überlagert. Da das Sozialsystem natürlich nicht die gesamte Palette der Konsumwünsche abdeckt und auch nicht abdecken kann, entsteht im Vergleich zu anderen Menschen in komfortableren Lebensverhältnissen ein permanentes Gefühl der Benachteiligung. In wessen Lebenskompass der Wunsch, auf eigenen Füßen zu stehen und unabhängig zu sein, durch den gesellschaftlichen Schnuller ersetzt ist, dem wird vermutlich auch auf Dauer ein Selbstwertgefühl mit Zufriedenheit und Stolz vorenthalten bleiben.
Allerdings ist der Armutsbegriff mit großer Vorsicht zu betrachten. Auf meine Frage: »Wie vielen Ihrer Hartz-IV-Eltern, denken Sie, steht das Wasser bis Oberkante Unterlippe, wie viele sind also wirklich arm?«, habe ich mehrfach die Antwort von Schul- und Kindertagesstättenleitungen erhalten: »Etwa ein Drittel.« Ohne dass es dafür offizielle Erhebungen oder Statistiken geben kann, ist es trotzdem völlig unstreitig, dass es eigene Beziehungsgeflechte und auch einen eigenen Arbeitsmarkt in der informellen ethnischen Wirtschaft gibt. Die offiziellen Einkünfte können niemals die einzigen Erwerbsquellen vieler Familien sein. Dies müsste zu einer Vielzahl an freien Parkplätzen in Neukölln führen, die allerdings so noch nicht geortet wurden, und steht ferner im krassen Widerspruch zur Unterhaltungselektronik der Kinder oder den Kraftfahrzeugen, mit denen die Kinder zur Schule gebracht werden. Die Erfahrungswelt wird immer dann bereichert, wenn man persönlich in einen Fall involviert wird. Auch Erzieher und Lehrer können über beeindruckende Einblicke in den Lebensstandard nomineller Hartz-IV-Familien zum Thema Fahrzeugpark oder Gewerbebetriebe berichten. Immer wieder wird die Frage diskutiert, wie die Eltern es trotz Sozialtransfer zu mehreren Geschäften bringen können oder wie junge, arbeitslose Männer zu Autos der 100 000-Euro-Klasse kommen. Der Fall eines Imams in Köln im Frühjahr 2012 zeigte beeindruckend, dass ein starkes Netzwerk auch einem Hartz-IV-Bezieher ein Leben mit Häuschen, Garten und Mercedes ermöglichen kann.
Doch das Eis ist manchmal dünn. Wenn zum Beispiel das Krankengeld nicht so fließt, wie man es sich nach einem Schicksalsschlag vorstellt, weil nur die offiziellen Verdienste zur Grundlage genommen werden; wenn es Streitereien um versprochenen, aber nicht gezahlten Lohn gibt; oder wenn kleine Freundschaftsdienste nicht die erwartete pekuniäre Auslösung finden. Das System Entlohnung nach BAT (Bar auf Tatze) ist hier weit verbreitet. Es sind auch nicht der übliche Schmu und die Kleinbetrügerei, mit denen Menschen in prekären Lebenssituationen versuchen, ein paar Scheinchen an den Behörden vorbei zu generieren. Nein, es ist ein System.
Abgaben an den Staat werden als absolut entbehrlich eingestuft (menschlich nachvollziehbar), aber dann auch planmäßig professionell unterlaufen. Es fehlt in diesen Kreisen jedwede Einsicht in das Solidarsystem der Gemeinschaft oder in den Grundsatz »Gib dem Kaiser,
was des Kaisers ist«. Einen Krankenschein bekommt man doch auch vom Jobcenter. Warum soll man dann noch Krankenversicherungsbeiträge vom Nebenverdienst abführen? Ein offizieller Mini-Jobber und Hartz-IV-Bezieher muss sich auch nicht mit der Lohnsteuer und der Rentenversicherung herumplagen. Arbeitgeber profitieren ebenfalls von den Machenschaften der informellen (ethnischen) Wirtschaft. In diesen Systemen existieren ganze Netze von Namen, Scheinidentitäten und Scheinfunktionen. Das Dickicht ist undurchdringlich. Zum einen verfügt unser Jobcenter bei 80 000 Kunden mit vier (!) Außendienstmitarbeitern über eine nahezu lächerliche Armada und vermittelt so eine recht unterhaltende Drohkulisse. Zum anderen machen die familiären Beziehungsgeflechte Einblicke von außen fast unmöglich.
Es geht hier nicht um individuelles Fehlverhalten, Eierdiebe und Sozialschmarotzer. Die gibt es überall, und das ist auch keine Frage der Ethnie. Der Mensch an sich und Geld sind antagonistisch. Schummelei und Betrug, Abzocke bis zur organisierten Kriminalität findet man in jedem Volk und auf jeder gesellschaftlichen Ebene. Je weißer das Hemd und je staatstragender die Sprüche, desto größer die Anzahl der Nullen vor dem Komma als Ziel der Begierde. Wo der Hartz-IV-Empfänger sich mit der Schwarzvermietung seiner Wohnung 300 Euro monatlich in die Tasche steckt, sahnen die feinen Leut’ zum Beispiel drei Millionen Euro mit Schrottimmobilien ab.
Nein, darum geht es nicht, das ist Arbeit für die dafür zuständigen Behörden. Wir können gerne darüber streiten, ob diese effektiv arbeiten und ob es von der Gesellschaft überhaupt gewünscht wird, dass sie effektiv arbeiten. Hier geht es vielmehr um Parallelgesellschaften. Hier geht es um Einflussgebiete jenseits unserer Rechtsordnung. Hier geht es um Gemeinschaften, die sich durchaus an Werte und Normen halten – nur nicht an die unsrigen. Und die eine eigene Auffassung davon haben, mit wem man solidarisch zu sein hat. Das ist nicht die staatliche Gemeinschaft, sondern das ist die Familie. Einzig und allein ihre Belange zählen.
Parallelgesellschaften haben bei uns längst einen derartigen Ausbaugrad und eine Verbindlichkeit erreicht, dass ich sie für irreversibel halte. Hegemonialansprüche begleiten diese Entwicklung. Nach dem Motto »Das ist Unseres, hier haben wir das Sagen« werden der Sozialraum und die Lebensgewohnheiten in ihm dominiert. Ein wunderbares Beispiel dafür ist die Eröffnung einer arabischen Boutique in der Neuköllner Innenstadt. An die Hauswand wird in deutscher Sprache der Text einer Sure angebracht, der die Züchtigkeit und die Unterordnung der Frauen fordert. Erst nach starkem öffentlichem Protest, auch in den Medien, wird die Aufschrift wieder entfernt.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #7 on: November 04, 2012, 07:30:24 am »
Das gesamte kulturelle Leben und die üblichen Lebensabläufe sind plötzlich in Frage gestellt, wenn sich die Bevölkerung zu einem erheblichen Maß austauscht. Ein Beispiel aus dem Alltag ist der Sport. Der Sport ist der beste Motor der Integration, so heißt es immer. Na ja, wenn man es auf den Fußball reduziert und die weniger freundlichen Geschehnisse auf so manchem Fußballplatz am Sonntag außen vor lässt. Die Realität ist einfach so, dass bestimmte Sportarten von Muslimen nicht betrieben werden, und Mädchensport gibt es bei ihnen schon gar nicht. So kann es nicht verwundern, dass über die Jahre deutsche Vereine mit traditionellen Sportarten wie Turnen, Handball oder auch Volleyball von der Bildfläche verschwunden sind. Ein Stück Kultur, aber auch der Sportverein als Schmiede von Regelakzeptanz, Kameradschaftsgeist und Solidarität ist natürlich seiner Wirkung beraubt. Ich leite aus dieser Darstellung keine konkreten Schlussfolgerungen ab, aber ich möchte schon verdeutlichen, dass Einwandererviertel die herrschenden Rollen und Riten der einheimischen Bevölkerung nicht automatisch für sich übernehmen und insofern ein Kulturverlust eintritt.
Die deutschen Normen gelten nur so lange, wie sie nützen und/oder einträglich sind. Danach verlieren sie schnell an Bedeutung. An ihre Stellen treten rituelle Gebräuche und tradierte Verhaltensweisen, die eine enorm verbindliche Wirkung entfalten. Davon abweichende Lebensarten werden schnell als schlecht, schlampig oder ungläubig abqualifiziert. »Die leben wie die Deutschen« ist nicht als Kompliment gemeint. Bei den Betroffenen führt das zu Verunsicherung und
Anpassung. Die Deutschen wollen uns nicht und benachteiligen uns, weil wir Ausländer sind. Dann möchte ich auf keinen Fall, dass auch die eigenen Leute uns verstoßen.
Parallelgesellschaften erreichen mitunter die Bedeutung der Familie. Ihrem Wohl ist alles unterzuordnen. Jeder hat die Pflicht, alles zu tun, was sie schützt und stärkt, und alles zu unterlassen, was ihr oder ihrer Ehre schadet. So fragte ein muslimischer Schlüsseldienst beim Imam per E-Mail an, ob er der Polizei helfen darf, die Wohnung eines Glaubensbruders zu öffnen, oder ob ihn das sündig macht.
Die Botschaften, die wir zu diesem Thema aussenden, sind zu schwach bis nahezu absurd. Wenn die Bundeskanzlerin an die Einwanderer appelliert, die deutschen Gesetze zu respektieren, ist das fast schon eine Unterwerfungsgeste. Nicht anders empfinde ich die kürzlich erfolgte Reform des Eherechts: Seit 2009 ist das Verbot rein kirchlicher Ehen aufgehoben. »Damit werden der muslimischen Vielehe« – vier Ehefrauen sind erlaubt – »und der Zwangsverheiratung in Deutschland Tor und Tür geöffnet«, kritisierte die türkische Frauenrechtlerin und Rechtsanwältin Seyran Ateş völlig zu Recht. Solche »Ehen light« allein vor Allah, die selbst in der Türkei nicht zulässig sind, führen dazu, dass die Frauen völlig rechtlos sind und keinerlei Unterhalts- oder Erbansprüche geltend machen können. Gleichstellungspolitisch ein riesiger Schritt zurück zu Fred Feuerstein. Die Begründung hierfür müssen Sie sich auf der Zunge zergehen lassen: »Die Erfahrungen haben gezeigt, dass andere (als die katholische und evangelische Kirche) in Deutschland vertretene Religionsgemeinschaften trotz wiederholten Hinweises durch verschiedene deutsche Stellen nicht dazu bewegt werden konnten, ihre Eheschließungspraxis nach den §§ 67, 67a Personenstandsgesetz (= kirchliche Trauung erst nach standesamtlicher Eheschließung zulässig) auszurichten. Es sollte daher bei dem Wegfall der im Verhältnis zu den beiden großen Kirchen nicht erforderlichen und sonst offenbar wirkungslosen Vorschrift verbleiben.« Also auf Deutsch: Die Evangelen und Katholiken halten sich dran, andere wie die Muslime scheren sich eh einen Dreck um die Vorschrift, also kann sie auch gleich weg. Ich finde, größer kann ein Offenbarungseid nicht ausfallen. Wenn das Beispiel Schule macht, könnten wir so manchem Früchtchen das Leben in Deutschland leichter und bequemer machen: Vorschriften, die ohnehin keiner beachtet, schaffen wir einfach ab.
Wie schnell und devot sich unsere Gesellschaft zurückzieht, zeigt auch ein anderes bemerkenswertes Beispiel: In der Jugendarrestanstalt in Berlin erhalten die Insassen grundsätzlich kein Essen mehr, das Schweinefleisch enthält. Die Begründung für den Erlass: »70 % der dortigen Arrestanten haben einen Migrations-Hintergrund. Sie dürfen aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch essen. Extrawürste lohnen sich nicht.« Alles klar, ist doch logisch. Wer die meisten Straftäter stellt, diktiert auch den Speiseplan. Allerdings stelle ich mir vor, was bei umgekehrten Verhältnissen wäre. Würden dann bei den 30 % Muslimen auch Leberwurst und Wiener auf den Tisch kommen? Ich glaube kaum. Wäre auch nicht in Ordnung.
Da ist der Rotterdamer Oberbürgermeister Ahmed Aboutaleb klarer und bestimmter: »Ich diskutiere mit niemandem über die Gesetze dieses Landes. Wem sie nicht gefallen, der kann sich gerne ein Land suchen, wo er mit ihnen besser zurechtkommt.« Wir jedoch stellen die Unabdingbarkeit unseres Rechtsstaates und seiner Normen immer wieder selbst in Frage. Was ist es anderes als Kulturrelativismus, wenn der Kreuzberger Bezirksbürgermeister seine politische Linie wie folgt beschreibt: »Warum sollen Bürger mit bestimmtem Background nicht in einer Parallelgesellschaft leben, wenn wir in einer Gesellschaft mit nur Parallelgesellschaften leben? Im Sportverein herrschen eigene Regeln. Wenn ich in der Karnickelzucht engagiert bin, bin ich dort auch in einer Parallelgesellschaft (…). Man sollte also auch Arabern ihre Parallelgesellschaft gönnen.« Das Auseinanderdriften der Gesellschaft so zu verharmlosen ist einfach nur verantwortungslos.
Wie immer darf man natürlich nicht alle und alles über einen Kamm scheren. Auch muss man nach meinem Dafürhalten eine grundsätzliche Trennung vornehmen. Und zwar zwischen
denen, die im Rahmen der Anwerbeabkommen als Gastarbeiter nach Deutschland kamen – sie hatten den Spirit, mit ihrer Hände Arbeit Wohlstand für ihre Familie in der Heimat zu schaffen –, und denen, die in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts mit völlig anderen Beweggründen eingewandert sind. Sie kamen als Asylbewerber, Bürgerkriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge oder als Teil einer ganzen Armutswanderung. Ihre Triebfeder war, den heimatlichen Zuständen zu entkommen.
Ich will an zwei Beispielen festmachen, zu welchen unterschiedlichen Auswirkungen diese mentale Divergenz führte. Es handelt sich um zwei Familien, die mir in den letzten Jahren begegnet sind. Die eine Familie war eine klassische Gastarbeiterfamilie. Sie hatte nur ein Ziel: Geld verdienen, es zusammenhalten, um den Kindern den Start in ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie wohnte in der Sonnenallee. Am Tage arbeiteten die Eltern in der Fabrik. Daneben versahen sie die Hauswartsstelle, und vor der Arbeit wurden Zeitungen ausgetragen. Bei den Hauswartstätigkeiten, also zum Beispiel beim Treppenputzen, mussten die Kinder mit ran.
Heute wohnen die beiden Alten wieder in ihrem Häuschen in der Nähe von Istanbul. Sie haben die deutsche Kleingärtnermentalität mit in die Türkei zurückgenommen. Die Nachbarn bewundern die bunten Blumen, die immergrünen Gewächse, die völlig unüblich in ihrem Garten blühen, und – nicht zu vergessen – die liederlich herumstehenden Gartenzwerge. Die Tochter ist in der Berliner Verwaltung tätig. Ich glaube, sie bereitet sich gerade auf eine neue Aufgabe als Oberamtsrätin vor. Der Sohn hat seinen Weg in einem großen Metallbetrieb gefunden. Beide haben hier Familien gegründet. Mit Flatrates kann man wunderbar in Verbindung bleiben und dank Billigfliegern sich auch mehrfach im Jahr sehen. Bei ihrem letzten Besuch traf ich die Eltern. Ihre Worte habe ich nicht vergessen: »Herr Bürgermeister, das ist hier nicht mehr unsere Sonnenallee. Hier würden wir heute nicht mehr wohnen wollen.« Man sollte solche spontanen Emotionen nicht überbewerten. Aber ein Zeichen sind sie schon.
Die zweite Familie entstand im Jahre 1990, als eine junge Frau und ein junger Mann als Asylbewerber aus dem Libanon nach Berlin kamen. Sie gründeten hier eine Familie und haben inzwischen zehn Kinder, von denen einige die Schulausbildung bereits beendet haben. Niemand von dieser Familie hat, solange er in Deutschland lebt, auch nur einen einzigen Tag selbst zu seinem Lebensunterhalt etwas beigesteuert. Ich höre förmlich die empörten Rufe, dass das genau die Familien sind, die Unmut erzeugen. Allerdings haben wir zu diesem Werdegang unser gehöriges Maß beigetragen. Über viele Jahre war unsere Gesellschaft nicht in der Lage, den Asylantrag endgültig zu bescheiden. Eine lange Zeit der Duldung war die Folge, in der die Eltern nicht arbeiten durften. Und so hat sich die Familie über zwei Jahrzehnte daran gewöhnt, dass Deutschland ein Land ist, in dem man Geld erhält, ohne dass man dafür eine Gegenleistung erbringen muss.
Ein Staat und eine Gesellschaft müssen klare Konturen haben. Es kann zu den Lebensnormen nur eine Verbindlichkeit geben, nämlich die der geltenden Rechtsordnung. Die Chinesen sagen nicht umsonst: »Du kannst nicht Diener zweier Herren sein.« Unser Gesellschaftssystem ist völlig anders aufgebaut als das der Herkunftsländer vieler Einwanderer. Ein Mischmasch geht nicht. Deshalb funktionieren Parallelgesellschaften nur, solange sie ihre Abschottung aufrechterhalten können: nämlich solange »die Deutschen« ein Schreckgespenst bleiben und man innerhalb der Community den Druck aufrechterhalten kann, sich von den Deutschen, den Ungläubigen, fernzuhalten. Das gelingt nicht immer. Es ziehen Einwandererfamilien aus Neukölln fort, die mir offen sagen: »Herr Bürgermeister, wir halten es hier nicht mehr aus. Wir wollen in Ruhe und Frieden leben. Meine Frau und ich sind es leid, uns im Supermarkt oder auf dem Spielplatz beschimpfen zu lassen, dass wir aus dem und dem Grund schlechte Moslems, schlechte Türken, schlechte Araber oder sonst was sind. Wir wollen auch nicht immer wieder erklären müssen, warum unsere Tochter kein Kopftuch trägt.«
Die vorstehenden Passagen werden dem einen oder anderen nach dem Motto »Der hat ja eine Einwandererphobie« stark übertrieben vorkommen. Nun ja, zu dieser Auffassung kann man
gelangen. Insbesondere dann, wenn man fernab ist, keine Verantwortung spürt oder trägt. Wem es egal ist, wie sich die Gemeinschaft und damit der Lebensraum jedes Einzelnen entwickelt, der trifft damit den aktuellen Mainstream. Die Gesellschaft liebt Placebos und Sedierung: Alles wird gut.
Wer wie ich in den beschriebenen Verhältnissen tagtäglich umgehen muss, sieht sie fast schon wieder als Normalität. Dabei gehen selbst mir manchmal die Maßstäbe verloren. Als ich das Untersuchungsergebnis für die Einschulung vom letzten Herbst erhielt, habe ich kein bisschen gezuckt. Und dennoch ist es bei einigem Nachdenken unglaublich, dass wir insgesamt 39 % aller Einwandererkinder eingeschult haben mit gar keinen oder nur sehr fehlerhaften Deutschkenntnissen. Dass dies nach 48 % in 2009 und 49 % in 2010 schon ein erheblich niedrigerer Wert ist, wirkt dabei auf mich kein bisschen beruhigend (zumal zwischen 2009 und 2011 die Sprachauffälligkeiten bei den deutschstämmigen Abc-Schützen von 10 % auf 17 % gestiegen sind). Wir schulen Kinder der dritten oder vierten Einwanderergeneration ein, die der Landessprache nicht mächtig sind. Von denen fast 10 % sogar ohne jeden Bezug zur Sprache sind. Obwohl zumeist einer der Elternteile in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Wo haben sie bisher gelebt? Wie wird in der Familie gesprochen? Welcher Fernsehsender ist eingeschaltet?
Ich glaube, wir alle können diese Fragen beantworten: Man spricht die Sprache aus dem Dorf von Opa. Wir sind und bleiben Türken, Araber, Somalier oder was auch immer. Das ist eben der Unterschied zu Einwanderern in den USA. Diese wollen Amerikaner werden. Die Menschen aber, über die ich spreche, wollen keine Deutschen werden. Deswegen leben und bleiben sie in ihrer Welt, und deswegen bemühen sie sich nicht, aktiv das deutsche oder mitteleuropäische Wertesystem zu erfassen. Es ist auch leicht für sie, diesen Weg zu wählen. Man muss in Stadtlagen wie Neukölln nicht die deutsche Sprache beherrschen. Das Alltags- und Dienstleistungsangebot der eigenen Ethnie ist inzwischen perfektioniert und vollkommen. Benötigt man einen Behördenkontakt, regelt das ein Bekannter als Sprachmittler, oder man besteht auf einem Dolmetscher. Wird diesem Willen nicht nachgegeben, gerät die Behörde in die Kritik, weil sie nicht kultursensibel ist.
Ob es sich einfach um menschliche Bequemlichkeit oder eine aktive Verweigerungshaltung handelt, ist naturgemäß im Einzelfall schwer zu entscheiden. Bei meinen vielfältigen Gesprächen über einen langen Zeitraum mit unmittelbar vor Ort tätigen Menschen in Kindergärten, Schulen, Migrantenorganisationen oder auch direkt mit Einwanderern wird immer wieder ein Wert von 30 % der Einwanderer genannt, die – entweder bewusst oder aus Gleichgültigkeit – an der deutschen Gesellschaft vorbeileben. Ich kann nicht belegen, ob diese Einschätzungen zutreffen. Aus der Erfahrung heraus halte ich es für nicht unwahrscheinlich.
Die Auffassung, das ist eben so und basta, ist bequem. Dann lassen wir die ethnischen Kolonien oder »asymmetrischen Gesellschaften«, wie sie der verstorbene Stadtsoziologe Professor Dr. Hartmut Häussermann oder der Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad genannt haben, doch einfach in Ruhe. In Kanada, in den USA, in Australien, überall gibt es »ethnische Stadtviertel«. Was stört uns an Deutsch-Izmir in Berlin? Das ist in der Tat kein Spaß, sondern von erheblicher Relevanz. Bereits heute liegt der Anteil der Einwandererkinder bis 18 Jahren bei 67 %. In Nord-Neukölln sind es schon 80 %. Spätestens in zehn Jahren wird Neukölln, zumindest aber Nord-Neukölln eine Einwandererstadt sein.
Wir entscheiden heute mit unserer Politik, ob Neukölln dann nur noch auf dem Atlas in Mitteleuropa liegt oder auch in den Köpfen und in den Herzen der Menschen, die dort leben. Deswegen ist es eben nicht egal, ob die Eltern ihre Kinder erziehen, wie sie sie erziehen, und welche Werte sie ihnen vermitteln. Aus meiner Sicht steht mehr auf dem Spiel als in der witzigen Bemerkung einer bedeutenden Person, die sich beim Amtsantrittsgespräch bei mir einführte mit der Bemerkung: »Eines habe ich als allererstes gelernt: In Neukölln herrscht eine andere Straßenverkehrsordnung.«

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #8 on: November 04, 2012, 08:56:38 am »
Die Migration im Grundsatz
Dass ganze Völker sich auf Wanderschaft begeben, ist in der Menschheitsgeschichte nichts Ungewöhnliches. Auch nicht, dass sich Einzelne allein oder gemeinsam mit ihrer Familie auf den Weg nach einem anderen Ort machen. Die Gründe hierfür sind schnell aufgezählt. Vertreibung durch ein anderes, stärkeres Volk, Religionskonflikte, Verlust der Heimat infolge von Kriegen, Naturkatastrophen oder auch nur die Suche nach besseren Lebensbedingungen. Für die Geschichtsbücher sind die Folgen, die Barbarei und Kriege für das Kollektiv haben, sicher bedeutsamer als Einzelschicksale, aber gerade Letztere sind es, die uns in diesem Buch interessieren. Die Auswirkungen der Wanderung auf den Wandernden selbst, aber auch die Stimulanz des Neuen am Ankunftsort sind bei der Betrachtung der verändernden Wirkung der Zuwanderung interessante Aspekte.
Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat und ihr vertrautes Umfeld, ihre Freunde und Familien zu verlassen? In die Ferne zu gehen, ohne zu wissen, was auf sie zukommt? Also genau das zu tun, was uns Menschen für gewöhnlich Angst macht: den Schritt ins Ungewisse? In unserer heutigen Zeit gibt es eigentlich in der Summe nur noch zwei wirklich bedeutsame Triebfedern: das Streben nach mehr Wohlstand oder die Flucht vor Gewalt und Verfolgung. Oft mischen sich auch beide.
Doch unterscheiden sich die Wanderungsbewegungen heute von denen in früheren Epochen erheblich. Es geht nicht mehr um die Besiedlung von freiem Land, es geht nicht mehr um die Urbarmachung ganzer Erdteile, sondern es geht um die Suche nach dem individuellen Glück. Die Entscheidung, in ein anderes Land zu ziehen, ist heute auch nicht mehr unumkehrbar. Wer sich vor 150 Jahren nach Amerika aufmachte, der wusste, dass er die Ursprungsheimat für lange Zeit, manchmal für immer nicht mehr wiedersehen würde. Das ist heute anders. Bei regelmäßigen Reisen zurück an den Herkunftsort können die Traditionsakkus wieder aufgeladen werden. Das Auto oder das Sparticket für 49 Euro machen es möglich. Dort, wo es an Lust oder Geld zum Reisen fehlt, erfüllen die Satellitenschüssel und die Telefon-Flatrate denselben Zweck. Dies erschwert natürlich die Konzentration auf die neue Heimat und das neue Leben. Das Gefühl, dass man tatsächlich in einer anderen Welt angekommen ist und in ihr lebt, stellt sich nicht ein. Die alte Heimat bleibt omnipräsent. Sie steht quasi gleichberechtigt neben den neuen Eindrücken. Ja, sie stellt das Neue permanent auf die Waage und fordert eine Entscheidung über »Besser und schlechter als das Gewohnte« heraus. Die soziale Kontrolle funktioniert aktiv oder dezent im Hintergrund, auch über die Entfernung von Tausenden von Kilometern.
Ein zweiter Unterschied zwischen der Auswanderung etwa in die USA, nach Kanada oder Australien und der in die Staaten der EU besteht darin, dass die Menschen sich in ersterem Fall aufmachten, um Amerikaner, Kanadier oder Australier zu werden. Das war ihr Ziel. Sie wanderten aus in die Neue Welt, und sie strebten nach einer neuen Identität. Diesen Spirit haben heute Migranten aus dem Libanon, der Türkei, aus Somalia und so weiter schon seltener bis gar nicht. Nehmen wir als Beispiel die türkischstämmigen Migranten. Machen sie sich in Anatolien wirklich auf und verabschieden sich mit den Worten »Ich gehe und will Deutscher werden«? Wohl kaum. Der Abschiedsgruß lautet vermutlich eher: »Ich gehe Deutschland.« Auslöser für eine solche Entscheidung sind nicht selten glorifizierende Berichte über ein dem Paradies gleichendes Land, in dem Wohlstand und Geld ohne Mühsal auf jeden warten. Was wie eine semantische Stilübung aussieht, ist in Wirklichkeit eine kapitale inhaltliche Differenz.
In diesem Zusammenhang begegnen wir immer dem Begriff der Heimat. Was verbinden Menschen mit ihm? Die Erklärungen sind so vielfältig wie individuell. Die einen sagen, Heimat ist da, wo ich geboren bin. Welchen Pass ich in der Tasche habe, ist unwichtig. Andere sagen, Heimat ist da, wo mein Vater, mein Großvater oder meine Vorfahren herkommen. Auch wenn ich dieses Land noch nie gesehen habe. Wieder andere empfinden Heimatgefühle für ein Land, in dem die
Felder und die Städte so aussehen wie in ihren Träumen. Es gibt sicher viele weitere Erklärungen. Ich fand die Antwort einer türkischstämmigen Migrantin auf meine Frage, wo für sie Heimat ist, so verblüffend kurz wie nachvollziehbar. Sie sagte: »Heimat ist immer da, wo das Brot ist.« Also da, wo ihr Lebensraum ist, und da, wo sie eine Chance hat, ihr Leben selbstbestimmt so zu gestalten, wie sie es für sich als erstrebenswert empfindet. Meine persönliche Definition ist die, dass die Heimat dort ist, wohin man sich zurücksehnt, wohin es einen zieht, wenn man in der Ferne ist. Sehnsucht ist in diesem Zusammenhang ein schönes Wort.
Ich glaube, dass man den Begriff der Heimat von dem der Integration in eine andere Gesellschaft trennen muss. Um mich in andere als die gewohnten Lebensregeln einzufügen, also zu integrieren, muss ich nicht Heimatgefühle mit Tränen in den Augenwinkeln entwickeln. Man kann auch sagen: Ein türkischstämmiger Migrant muss seinen Integrationswillen nicht dadurch unter Beweis stellen, dass er Lederhosen anzieht, Bier nicht unter einem Mengenmaß von einem Liter in sich hineintut und zum Frühstück Weißwurst isst. Es reicht völlig aus, wenn er die tragenden Grundsätze unserer Verfassung als bestimmende Elemente auch seines Lebens und des Lebens seiner Familie akzeptiert. Wenn er sich bemüht, zumindest die Grundkenntnisse der Landessprache zu erlernen, um mit den anderen Bürgern der Gesellschaft kommunizieren zu können, seine Kinder in die Schule schickt und den Müll zur Mülltonne trägt, anstatt ihn vom Balkon zu werfen.
Wer sich in einen anderen Kulturkreis begibt, muss wissen, dass er dort auf andere Regeln des Zusammenlebens trifft. Er muss sich vorher entscheiden, ob er bereit ist, diese anderen Lebensweisen für sich und seine Familie zu übernehmen.
Der, der neu in einen Sportverein kommt, stellt die Frage: »Wie läuft das hier bei euch?« Und wer in einen Handballverein eintritt und dort Fußball spielen will, wird schnell merken, dass die geltenden Regeln sich ungünstig auf seine Erwartungshaltung auswirken. Er wird dann ein Haus weiter ziehen (müssen). Übertragen wir diese Banalität auf die Integration fremder Kulturkreise in bestehende, über Jahrhunderte hinweg erkämpfte und herausgebildete Kulturriten, so kommen wir zu der wahrlich nicht überraschenden Erkenntnis, dass der Zuwanderer sich den Normen der Zielgesellschaft anpassen muss. Ja, dass er mit der Forderung, dass er sich anzupassen hat, konfrontiert wird. Seine etwaige Erwartung, dass die neue Gesellschaftsordnung ihn aufgrund ihrer Toleranz trotz seiner abweichenden Verhaltensweisen akzeptieren wird oder gar zu akzeptieren hat, führt ihn dagegen in den klassischen Konflikt. Denn er befindet sich damit automatisch auf einem permanenten Prüfstand, ob er nicht auf Kollisionskurs mit dem gesellschaftlich akzeptierten und praktizierten Wertegerüst der Mehrheitsgesellschaft ist. Die Spaltung der Familie oder eine aufreibende Auseinandersetzung mit den Kindern kann die unerwünschte Folge sein. Wer sich nicht anpassen will oder kann, sollte nicht wandern.
Aus dem Vorstehenden folgt für mich der Lehrsatz Nummer eins: Integration und die Bereitschaft dazu sind an erster Stelle eine Bringschuld der Hinzukommenden. Dieser Grundsatz ist so selbstverständlich, dass es schon fast an eine Verspottung der Leser grenzte, hierzu noch lichtvolle Ausführungen zu machen. Und doch ist es erforderlich. Denn wer den Satz so formuliert, wie ich ihn formuliert habe, zieht bereits argwöhnischste Blicke auf sich: Ist es denn nicht so, dass derjenige, der sich aus seiner bisherigen Gesellschaftsordnung verabschiedet, dies deswegen tut, weil sie ihm nicht die Freiheit, den Lebensstandard, den Wohlstand und die Perspektiven geboten hat, von denen er träumt? Er macht sich auf den Weg, um eine Gesellschaft zu finden, die ihm all das bietet, was er für sich mit Lebensglück umschreibt. Das neue Land soll ihm all das geben, was er zu Hause vermisst. Wenn er es gefunden hat, was ist dann falsch daran, von ihm zu fordern, dass er all seine mitgebrachten Fähigkeiten einbringen möge, um in der neuen Gesellschaft einen Platz zu finden und sie damit zu stärken?
Die Gesellschaft, in der er angekommen ist, ist nicht von allein entstanden. Und sie existiert auch nicht Tag für Tag von allein. Sie ist, wie sie ist, weil über Generationen Menschen an ihr gebaut, Werte zusammengetragen und um einen gerechten Weg gerungen haben. Sie existiert, weil
auch im Alltag immer wieder um die Grundlagen einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft gestritten wird. Gesellschaft ist nichts Statisches. Sie ist nicht einfach da und entsteht nicht qua Naturgesetz. Nein, sie muss von den Bürgerinnen und Bürgern jeden Tag aufs Neue gelebt und, wenn es sein muss, auch verteidigt werden. Einem Einwanderer zu sagen: »Herzlich willkommen, schön, dass du ein Gewinn für unsere Gemeinschaft sein willst, dann zeig, was du kannst und mach mit! Ja, mach nicht nur mit, sondern zeige auch, dass du mit uns leben willst, wie man in Deutschland lebt« – was ist daran verwerflich?
Verfolgt man diesen Gedanken konsequent weiter, kommt man unausweichlich zu der Frage: Darf eine Gesellschaft von den Hinzukommenden erwarten, dass sie nicht nur zur kulturellen Bereicherung beitragen, sondern auch zur sozialen und wirtschaftlichen Stabilität? An dieser Stelle werden nicht wenige die Augenbrauen hochziehen. Das riecht ja nach Verwertungsprinzip: Der Mensch wird nicht in seinem ethisch-humanistischen Sein gesehen, sondern nach seiner Vermarktbarkeit kategorisiert. Pfui, da ist sie ja, die entlarvende Stelle. Aber welchen Sinn sollte Einwanderung denn sonst haben, außer dem, dass der Hinzukommende eine Bereicherung ist? Besteht der Sinn und Zweck der Einwanderung denn darin, den Mühseligen und Beladenen einen Silberstreifen am Horizont zu bieten? Und wenn ja, allen oder nur einigen, und wenn, welchen? Ist es nicht eher so, dass die Völker es selbst in der Hand haben, darüber zu entscheiden, in welcher Staatsform, mit welchen Freiheitsrechten und mit welchen materiellen Wohlstandsnormen sie ihr Land gestalten wollen?
Wir sind mit den Regeln, die wir haben, zufrieden. Wer zu uns kommt, muss sie bejahen und sich an der Mehrung des Wohlstands dieser Gesellschaft aktiv beteiligen – ist es nicht das Recht einer jeden Gesellschaft, das zu sagen? Wem eine demokratische, liberale und tolerante Gesellschaft, aufgebaut auf der Würde und Freiheit des Individuums, zu unmoralisch, gottlos und verdorben ist, der muss seine Suche nach der vollkommenen Reinheit und seinen spirituellen Erwartungen fortsetzen. Deutschland ist kein Gottesstaat, und wer solchen Gedanken nachhängt, kann nicht zu uns gehören.
Ein besonderes Kapitel ist sicher der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdoğan. Bereits zweimal hat er Kostproben seiner nationalistischen Innenpolitik in Deutschland abgeliefert. Er inszeniert Fahnenmeere, um die türkische Diaspora als solche zu stabilisieren. Er wirft Deutschland die Verletzung von Menschenrechten vor, weil wir von Neueinwanderern einen minimalen Grundstock an Sprachkenntnissen verlangen. Er behauptet, Assimilierung sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und lässt sich dafür bejubeln. Ich verstehe zwar, was er damit meint, halte die Aussage aber schon inhaltlich für Unsinn. Man kann einen Menschen nicht gegen seinen Willen assimilieren, also zur Aufgabe seiner kulturellen Identität und Gepflogenheiten zwingen. Assimilierung kann eine Folge von Integration sein. Sie ist ein Prozess, der stattfindet oder auch nicht. Den Menschen geschehen lassen, vielleicht sogar wollen oder auch nicht. Sie ist aber keine gezielt steuerbare Maßnahme.
Der Höhepunkt von Erdoğans Entgleisungen in Deutschland war sicherlich die Theaterpose, dass die türkischstämmigen Menschen unter der Garantie der großen türkischen Republik stehen, die sie mit allen seinen Möglichkeiten unterstützen und schützen werde. »Unterstützen – wobei? Schützen – vor wem?«, fragt man sich da doch automatisch. Wie sieht diese Unterstützung denn in der Praxis aus? Etwa so, dass man türkischen Staatsbürgern Geldbeträge für einen nicht geleisteten Militärdienst abpresst, wenn sie die Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit beantragen? Schützen vor Deutschland und den Deutschen? Wie darf man das denn missverstehen? »Mit all seinen Möglichkeiten« – meint das die Luftwaffe oder die Marine? Das ist zwar nur eine rhetorische Frage, aber schon eine Lehrstunde aus dem Kapitel »Wie treibe ich Menschen auseinander?«. Ich möchte gar nicht wissen, welche Reaktionen eine ähnliche Inszenierung der Kanzlerin oder auch eines hohen christlichen Würdenträgers in der Türkei hervorrufen würden. Dazu wird es aber auch nicht kommen. Denn wir verbinden Gastfreundschaft auf der einen Seite immer auf der anderen
Seite mit höflicher und respektvoller Zurückhaltung des Gastes.
Wie weit geht kulturelle Identität? Inwieweit muss eine Gesellschaft gemessen an ihren eigenen Freiheitsnormen abweichendes Verhalten nicht nur tolerieren und dulden, sondern auch bewusst fördern? Darf eine Gesellschaft in einer beobachtenden Rolle verharren, oder gehört es nicht zu ihren Aufgaben, den Prozess der Integration aktiv zu steuern und dort, wo er auf Kollisionskurs zur staatlichen Ordnung gerät, intervenierend einzugreifen? Ist Kulturrelativismus eine hinzunehmende Erscheinung, weil die Menschenrechte Teil westlicher Kultur sind und sie daher für Muslime nur nachrangige Wirkung entfalten? Aus meiner Sicht natürlich nicht. Und auch an dieser Stelle befinde ich mich in guter Gesellschaft mit Cem Özdemir, dem Vorsitzenden der GRÜNEN, der »keinen kulturellen Relativismus, der die Menschenrechte in Frage stellt«, dulden will.
Dort, wo die Dinge aus dem Ruder laufen, muss die Gesellschaft einschreiten. Die Probleme müssen benannt werden. »Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist«, so sagte es einst Ferdinand Lassalle. Wegducken und Schönreden haben noch nie Probleme gelöst. Die Political Correctness ist häufig lediglich ein willkommenes Alibi für das Nichtstun, für das Schweigen und die Ignoranz. Die sozialromantische Multikulti-Gesellschaft, in der sich aus jeder Kultur das Gute Bahn bricht und aus all den positiven Einflüssen die Symbiose einer neuen, menschlichen Kulturform entsteht, ist lieb gedacht, aber grenzenlos naiv. Sie hat etwas von der Vision, das Paradies durch Religion zu schaffen, und gibt dem ewigen Traum nach Vollkommenheit im Guten lebensreal bezogenen Raum.
All diese dem Alltag entrückten Vorstellungen lassen den Menschen an sich außer Acht. Meine Erfahrung ist: Niemand will beliebig sein. Jeder will wissen, wo er herkommt, wo seine Wurzeln sind und wo er hingehört. Oder klarer formuliert: Niemand will multikulturell sein. Das hat nichts damit zu tun, dass er seine Nachbarn oder seine Arbeitskollegen nicht schätzt. »Multikulturell« heißt im Grunde genommen nichts anderes als »austauschbar«. Das stellt das Individuum und seine unverletzliche Würde in Frage. Zweifelsohne eine Anlehnung an die »-ismus«-Lehren, die alle nur das Kollektiv und die Unterwerfung des Einzelnen unter einen Willen kennen.
Die Realität sieht dort, wo wir eine multiethnische Gesellschaft aus 150 Nationen wie in Neukölln haben, ganz anders aus. Die Menschen gehen nicht mit weit ausgebreiteten Armen aufeinander zu. Im Gegenteil, die Ethnien grenzen sich – von Einzelfällen abgesehen – strikt gegeneinander ab. Mitunter ziehen unterschiedliche Lesarten einer Religion Trennungslinien nicht nur zwischen Menschen, sondern auch in den Wohngebieten.
An dieser Stelle fällt mir eine Begebenheit in einer Schule ein. Bei der Elternversammlung hatte der arabischstämmige Elternvertreter das Wort ergriffen. Er sprach davon, dass wir »im Moment noch sehr stark auf der Grundlage unserer heimatlichen Kulturen miteinander diskutieren, das wird sich aber in zwei Generationen immer mehr verwachsen und einebnen, und wir werden zu einem gemeinsamen kulturellen Leben finden«. Was sich daraufhin in dem Saal erhob, war ein Proteststurm, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Die türkischstämmigen Eltern schrien den Elternvertreter derart nieder, dass ich Sorge vor Handgreiflichkeiten hatte. Wir Türken werden unsere türkische Kultur und unser Türkischsein nie verlieren! Es mag sein, dass die Araber so mit ihrer Kultur umgehen, aber wir türkischen Eltern verbieten Ihnen ausdrücklich, weiter so in unserem Namen zu reden!
Das ist sicher ein Einzelfall. Aber er zeigt, wie weit Sozialromantik und die tatsächlichen Empfindungen der Menschen divergieren können.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #9 on: November 04, 2012, 08:57:38 am »
Natürlich hat die Beantwortung dieser Fragen auch etwas mit dem Selbstbewusstsein zu tun. Unmissverständliche Ansagen wie: »Hier sind die Niederlande, hier gelten niederländische Sitten, niederländische Gesetze und sonst nichts«, oder entsprechend: »hier ist Frankreich …«, »hier ist
Österreich …«, sind für sich genommen nicht zu kritisieren. In Deutschland allerdings ist solch ein Satz schon arg verdächtig, aus dem Wahlprogramm einer rechtsradikalen Partei entnommen zu sein. Wer so etwas ausspricht oder niederschreibt, ist mindestens ein deutschtümelnder Konservativer, wenn nicht gar ein Rassist und Neonazi. Die organisierte Links-Empörung ist gut vernetzt und erfolgreich in unsichtbaren Repressionen. Es geht flink und leise, und unbotmäßiges Verhalten wird durch Auftragsentzug bestraft. Unser geschichtliches Erbe, das kollektive Schuldbewusstsein und der andauernde, rituelle Entschuldigungsdrang sind für einen gesellschaftspolitischen Diskurs nicht förderlich. Auch begünstigen sie Schubladendenken und jedwede Totschlagargumentation. Es ist schön, in und von Deutschland zu leben. Aber es ist peinlich, ein Deutscher zu sein. Die Antwort der griechischen Medien auf die Hilfe aus Deutschland in Form einer Karikatur der deutschen Regierungschefin als neuer Hitler verdeutlicht diesen Gedanken. Dieses Mantra empfinden viele als ungerecht und missachtend. Man stelle sich vor, in Deutschland würden Medien so mit der Staats- und Regierungsspitze eines anderen Landes umgehen.
Mein Eindruck ist, dass wir den Irrweg der nur beobachtenden Gesellschaft schon viel zu weit gegangen sind. Allein der Überlebenswille und der Fortentwicklungsdrang beinhalten den Anspruch, die Kraft der Gestaltung nicht dem Zufall oder bewusst außerhalb der Gesellschaft stehenden Kräften zu überlassen. Eine Gesellschaft ist nicht die zufällige und gewillkürte Menschenmenge, die in einem Staatsgebiet nach gleichen Gesetzen lebt und nach dem Prinzip der Windrose beliebig auswechselbar ist. Eine Gesellschaft ist eine Gemeinschaft. Wir sprechen die gleiche Sprache, wir haben eine gemeinsame Historie, wir erfreuen uns der Leistungen und sind stolz auf die Errungenschaften unseres Volkes im Laufe der Menschheitsgeschichte, aber wir tragen auch gemeinsam Verantwortung für Schuld und Verbrechen. Wir verneigen uns vor der Vergangenheit und suchen gemeinsam Inspiration zur Gestaltung unserer Zukunft. Schon aus dieser Überlegung heraus gefährden Parallelgesellschaften unseren Staatsaufbau. Weil sie außerhalb dessen stehen, was Bürger unseres Staates verbindet. Sie machen ihr Ding. Und deswegen können sie nicht Teilhaber und Partner der Integration sein. Sie sind eben kein Kegelclub. Sie sind Auswüchse des Separatismus.
Die Normensetzung darf nicht auf der Straße erfolgen. Auch nicht in Hinterzimmern, auch nicht in Religionsschulen. Die Normensetzung in der Demokratie erfolgt ausschließlich und ausnahmslos durch die verfassungsgebenden Organe, die unter der Prämisse, alle Gewalt geht vom Volke aus, durch freie Wahlen dazu legitimiert werden. Unsere demokratisch verfasste Gesellschaft steht nicht zur Disposition. Für niemanden, mit welcher Begründung auch immer. Die Gesetze dieses Landes gelten für jeden. Egal, ob, was und woran er glaubt.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. So lautet nicht zufällig der erste Satz unserer Verfassung. Das heißt, die Würde jedes Menschen. Ob jung oder alt, Mann oder Frau, religiös oder nicht, Ethno-Deutscher oder Migrant, egal mit welcher sexuellen Orientierung – jeder Einzelne hat das Recht, in diesem Land als eigenständiges Individuum, als Träger von Rechten und Pflichten respektiert und geachtet zu werden. Niemand hat das Recht, einen anderen in seiner physischen oder psychischen Integrität zu beeinträchtigen. Die Würde und das Selbstbestimmungsrecht haben nicht hinter eine selbstdefinierte Familienehre zurückzutreten. Gewalt, auch familiäre Gewalt ist geächtet. Mädchen und Jungen gehen gemeinsam zur Schule. Wir respektieren die körperliche Integrität jedes Einzelnen. Und wir verheiraten niemanden gegen seinen Willen und ohne rechtlichen Schutz. Kulturelle Identität bedeutet nicht, dass wir uns ins 19. Jahrhundert zurückbeamen. Wir führen ja auch die Kinderarbeit und das Dreiklassenwahlrecht nicht wieder ein. Ein Serientäter ist keine kulturelle Bereicherung, sondern ein Störer des sozialen Friedens.
Beim Schreiben dieser vorstehenden Zeilen war ich sehr im Zweifel, ob alle Leser nachvollziehen können, welche Beweggründe es für sie gibt. Es sind Selbstverständlichkeiten, teilweise abgeschrieben aus dem Grundgesetz. Warum muss man sie dann wiederholen? Erklären uns doch alle Protagonisten des konfliktfreien Integrationsprozesses, das sei alles selbstverständlich:
Es gebe niemanden, der dieses Wertegerüst in Frage stelle. Mit Verlaub, liebe Leserin und lieber Leser: Das ist Quatsch und hat mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Gerade in den Vierteln der Bildungsferne sind Welten entstanden, in denen religiöser Fundamentalismus, archaische Familienriten und die alles legitimierende Gewalt bei sogenannten Ehrverletzungen eine Dominanz ausstrahlen, die fassungslos macht. Selbstjustiz, Scharia-Richter und -Vollstrecker sind keine Episoden aus dem Märchenbuch (siehe Joachim Wagner, Richter ohne Gesetz).
Eine engagierte und erlebbare Integrationspolitik muss das Wertegerüst der Gesellschaft nicht nur verteidigen, sondern die Werte auch einfordern. Kulturelle Identität ist kein Freibrief für tradierte oder archaische Lebenswelten oder Familienriten. Wieder nehme ich gerne Bezug auf Cem Özdemir. Er formulierte es einmal so: »Wer möchte, dass Kreuzberg im besten Sinne multikulturell bleibt, der muss eben nicht nur Schulen und Lehrer unterstützen sowie an die Verantwortung der Eltern appellieren. Der muss auch für Sicherheit sorgen und darf keine Parallelgesellschaft bzw. Parallelgerichtsbarkeit dulden, wo radikale Organisationen ›Abtrünnige‹ bestrafen, Schutzgelder erpresst werden, Arbeitgeber ihre Angestellten verprügeln und Drogenhändler unbehelligt ihren Geschäften nachgehen können.« Ich teile diese Sichtweise uneingeschränkt. Integrationspolitik muss auch fordernde und leitende Elemente beinhalten. Gerade Menschen aus Ländern mit gesellschaftlichen Systemen ohne feste Sozialstrukturen, ordnende Zentralinstanzen und Bindungen an humanitäre Werte brauchen eine neue Orientierung, manchmal auch Führung. Elementare Dinge sind nicht nur Bestandteil sozialpädagogischer Hinwendung, sondern müssen auch Bestandteil von Verbindlichkeiten und Sanktionen sein.
Die Gewissheit, dass alle Bürgerinnen und Bürger die Grundrechte eines jeden Menschen akzeptieren und im Zweifelsfall auch schützen, ist die Voraussetzung für gesellschaftliche Solidarität. Wenn sie fehlt, kann es weder ein Gefühl der Sicherheit geben noch die Überzeugung, Teil einer großen Familie zu sein, in der einer für den anderen einsteht.
Das Pflichtenheft des Miteinanders hat aber nicht nur Seiten für die Einwanderer. Eine Gesellschaft muss sich auch als integrationswillig und integrationsfähig definieren und präsentieren. Die Aufnahme neuer kultureller Einflüsse geht nicht immer reibungslos. Sie erfordert Toleranz und an vielen Stellen auch Hilfe wie eigene Rücknahme. Sich an Fremdes zu gewöhnen fällt Menschen mitunter schwer. Abwehr ist dann die Konsequenz. Abwehr führt zum Gefühl der Ausgrenzung beim anderen. Aus Abwehr und Ausgrenzung kann auch Feindschaft entstehen. An dieser Stelle ist die beobachtende Gesellschaft ebenso völlig fehl am Platze.
Da es eine solidarische Gesellschaft nicht ohne ein Gefühl der Gemeinsamkeit geben kann, ist es Aufgabe der gesellschaftlichen Kräfte, aktiv einzugreifen, um das Trennende abzubauen und das Verbindende zu stärken. Dazu reicht es aber nicht, persönliche Referenten schöne Formulierungen niederschreiben zu lassen und sie dann vor den Fernsehkameras moralisierend zu wiederholen. Nein, das erfordert entschlossenes Handeln. Ich wiederhole: Wir haben in Deutschland keinen Erkenntnismangel, sondern ein Handlungsdefizit! Gerade die Integrationspolitik ist bis heute ein gigantisches Spielfeld der Eitelkeiten, der Selbstgerechtigkeit und des Verbalradikalismus. Mir ist eigentlich kein Bereich der Politik geläufig, in dem so viel mit gekreuzten Fingern auf dem Rücken geredet wird wie hier. Ich komme später in anderen Kapiteln auf diesen Aspekt noch mehrmals zurück.
Jede Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit den Schwachen umgeht. Starke können sich einen schwachen Staat leisten. Schwache brauchen einen starken Staat, der sie schützt und der sie fördert. Deshalb müssen die staatlichen Institutionen Offenheit gegenüber Minderheiten zeigen. Sie müssen Diskriminierung ächten. Sie müssen ihnen helfen, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden, ihnen verständlich machen, welche Erwartungen an sie gehegt werden und welche Unterstützung sie erhalten können, um diesen Erwartungen gerecht zu werden. Integration ohne die ausgestreckte Hand der Gemeinschaft ist nur schwerlich möglich. Ich glaube sogar, es geht gar nicht.
Über allem aber muss die Überschrift stehen: Für jeden ist klar, was man tut und was man nicht tut. Denn genau aus der Missachtung dieses lapidaren Grundsatzes entspringen die Reibungen im Alltag. Unser Alt-Bundespräsident Johannes Rau hat es in seiner Berliner Rede im Jahr 2000 so formuliert:
»Das Zusammenleben ist auch schwierig, und es ist anstrengend. Wer das leugnet oder nicht wahrhaben will, ist mit allen Appellen zu mehr Toleranz, Freundlichkeit und Aufnahmebereitschaft unglaubwürdig.Es hilft nichts, vor Problemen die Augen zu verschließen oder allein schon ihre Beschreibung als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen.Es ist nicht schwer, in wohlsituierten Vierteln eine ausländerfreundliche Gesinnung zu zeigen. Schwerer ist es da, wo sich immer mehr verändert, wo man als Einheimischer die Schilder an und in den Geschäften nicht mehr lesen kann, wo in einem Haus Familien aus aller Welt zusammenwohnen, wo sich im Hausflur ganz unterschiedliche Essensgerüche mischen, wo laut fremde Musik gemacht wird, wo wir ganz andere Lebensstile und religiöse Bräuche erfahren.Schwer wird das Zusammenleben dort, wo sich manche alteingesessene Deutsche nicht mehr zu Hause fühlen, sondern wie Fremde im eigenen Land.Im klimatisierten Auto multikulturelle Radioprogramme zu genießen ist eine Sache. In der U-Bahn oder im Bus umgeben zu sein von Menschen, deren Sprache man nicht versteht, das ist eine ganz andere.Ich kann Eltern verstehen, die um die Bildungschancen ihrer Kinder fürchten, wenn der Ausländeranteil an der Schule sehr hoch ist. Ich kenne das aus eigener Erfahrung.Ich kann auch verstehen, wenn überdurchschnittlich hohe Kriminalität junger Ausländer und Aussiedler vielen Menschen Angst macht.(…)Ich engagiere mich von ganzem Herzen für einen Dialog der Kulturen und Religionen weltweit. Das ist eine wichtige Aufgabe. Ich habe sie allerdings nie als Ersatz dafür verstanden, dass wir uns ganz handfest um die praktischen Probleme des Alltags kümmern, die sich aus dem Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen im eigenen Land ergeben.« Johannes Rau stand nicht im Verdacht, ein Sympathisant des verdeckten Rassismus zu sein. Nicht umsonst trug er den Beinamen »Bruder Johannes«. Seine mahnenden Worte sind zwölf Jahre her. Haben wir daraus wirklich einen Arbeitsauftrag entwickelt und ihn entschlossen umgesetzt? Ich denke, nein. Gleichzeitig ist die Rede aber ein Beleg dafür, dass es schon im Jahre 2000 emotionale Bewegungen der Art in der Bevölkerung gab, dass der Bundespräsident sich veranlasst sah, das Thema aufzugreifen.
Das erinnert mich an ein weiteres Zeichen, das wir schon viel früher unbeachtet zur Seite getan haben. Der erste Ausländerbeauftragte der Bundesrepublik, Heinz Kühn, legte im Jahr 1979 ein Memorandum zur Ausländerintegration vor. Und er schrieb uns ins Stammbuch:
»Die schulische Situation der ausländischen Kinder und Jugendlichen ist durch einen unzureichenden Schulbesuch, eine extrem niedrige Erfolgsquote bereits im Hauptschulbereich und eine erhebliche Unterrepräsentation ausländischer Schüler an weiterführenden Schulen gekennzeichnet.(…)Beachtlich sind ferner auch die bei den ausländischen Eltern bestehenden Hemmnisse, die Bedeutung des Schulbesuchs für die Zukunftsentwicklung ihrer Kinder richtig einzuschätzen und ihnen schulbegleitend die notwendige Förderung zu vermitteln.« Dieser Text hätte auch in der Süddeutschen Zeitung oder der FAZ vom letzten Sonntag stehen können. Immer wieder stellt sich die Frage, warum diese Signale nicht beachtet und in politisches Handeln umgesetzt wurden. Nun ja: Deutschland ist kein Einwanderungsland. – Die Gastarbeiter gehen alle wieder nach Hause. – Multikulti regelt alles wie ein Naturgesetz. Solche wenn auch widersprüchliche Lebenslügen haben unsere Gesellschaft in den letzten 30 bis 40 Jahren geprägt. Es wird Zeit, dass wir uns von ihnen befreien.
Maulkorb und Scheuklappen – was tat die Politik?
Haben wir uns bisher mit der Theorie der Einwanderung und ihrer Auswirkung auf das tägliche Leben in einer Stadt beschäftigt, so geht es in diesem Kapitel um die Frage, wie die politische Kaste die Veränderungen um sich herum zur Kenntnis nahm und welche Handlungsaufträge sie für sich ableitete. Na ja, Dynamik sieht anders aus, aber wir hatten jederzeit alles im Griff. Sagte man, einige glaubten das sogar.
Die Prozesse der Segregation, also der fortschreitenden Entmischung ganzer Stadtviertel, haben wir bereits beleuchtet. Für das heutige Neukölln ist die Feststellung, dass diese Entwicklung im Wesentlichen als so gut wie abgeschlossen zu betrachten ist, keine Übertreibung. Der Bezirk hat sich im Großen und Ganzen sortiert. Die, die es sich leisten konnten und wollten – egal ob Ethno-Deutsche oder Einwanderer –, sind aus Nord-Neukölln weggezogen. Entweder haben sie im Süden ihr Häuschen gebaut, oder sie wohnen jetzt in einem anderen Bezirk mit höherem Sozialstatus. Heute vollziehen sich Wanderungsbewegungen auf diesem Sektor nur noch in Einzelfällen. Zum Beispiel bei Einwandererkindern, denen der Sprung auf der Bildungsleiter geglückt ist und die mit ihrem gestiegenen Selbstbewusstsein kokettieren. »Ich habe das Abitur nicht gemacht, um weiter im Ghetto zu leben.« Gerade Bildungsaufsteiger urteilen sehr streng über die, die es nicht geschafft haben, die aus ihrer Sicht nichts tun und nur abhängen. In Nord-Neukölln gibt es immerhin drei Gymnasien, die jährlich zwischen 150 und 200 Abiturienten hervorbringen. Das sind zwar weniger als das generelle statistische Soll der Einwandererkinder gemessen an ihrem Anteil an der jahrgangsgleichen Gesamtbevölkerung, führt bei vielen Erstsemestern der Neuköllnologie aber immer wieder zu Überraschungseffekten. Somit präsentieren die Nord-Neuköllner Schulen jedes Jahr eine beachtliche Menge junger Leute, die nicht nur insgesamt eine Bereicherung darstellen, sondern auch an ihren späteren neuen Lebensorten zum positiven Integrationserlebnis werden. Durch meine Besuche in den Schulen kenne ich nicht wenige von ihnen persönlich. Es gibt überhaupt keinen Grund, sie schräg von der Seite anzuschauen oder über ihre Herkunft die Nase zu rümpfen. Eventuell ist es sogar angezeigt, die Stirn zu kräuseln ob der Frage, warum die eigene Tochter oder der eigene Sohn nicht ebenso wohlgeraten ist.
Die vorstehenden Ausführungen finden sich so oder so ähnlich in jeder Integrationsbilanz, deren Fokus ausschließlich auf die Erfolge eingeengt wird. Manchmal noch begleitet mit dem Trompetenstoß: »Integration ist in Deutschland millionenfach gelungen!« Es gibt nur ein Problem: Ich weiß nicht, was uns dieser Satz sagen soll. Ich kenne niemanden, der bisher ernsthaft vorgetragen hat, dass es in Deutschland keine gelungenen Integrationskarrieren gibt. Natürlich gibt es sie, und zwar nicht zu knapp! Es sind die »unsichtbaren« Einwanderer, die wir als solche gar nicht mehr wahrnehmen. Es sind diejenigen, die ein so selbstverständlicher Teil unserer Sozialkontakte sind, dass man mit ihnen über Integrationsfragen gar nicht redet. Warum auch?
Gern kann ich mit einem Beispiel verdeutlichen, wen ich meine. Ein marokkanisches Ehepaar kommt nach Deutschland, um hier sein Glück zu machen. Anfangs erfüllen sich auch alle Träume. Doch dann erkrankt der Mann plötzlich an Lungenkrebs und stirbt. Die Frau steht im Alter von 27 Jahren mit einer Tochter, zwei Söhnen und einem Kind unter dem Herzen alleine da. Einem natürlichen Impuls folgend, geht sie mit ihren Kindern zurück nach Marokko. Doch die Kinder kommen dort nicht klar. Ihnen gefällt das Leben nicht, sie wollen zurück dahin, wo ihre Spielkameraden sind und wo es keine Prügelstrafe gibt. Die Mutter nimmt ihre Kinder und wandert ein zweites Mal nach Deutschland ein. In der Kita ihrer Kinder wird sie Reinigungskraft. Außer dem Kindergeld hat sie nie eine Sozialunterstützung erhalten. Die Tochter ist heute erfolgreiche Managerin für Musiker und Schauspieler, ein Sohn studiert Wirtschaftsingenieurwesen, einer ist Physiotherapeut und der dritte Industriekaufmann. Ich sehe bei meiner Arbeit viele Lebenswege, aber dieser nötigt mir Respekt ab.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #10 on: November 04, 2012, 08:59:14 am »
Das sollte eigentlich der Normalfall sein. Aber wenn das so wäre, bräuchte ich dieses Buch nicht zu schreiben. Ich berichte über die Dinge, die seltener in den Erfolgsbilanzen stehen. Dass sich durch die Einwanderung auch Stadtviertel zu Elendsquartieren und Kiezen der Bildungsferne entwickelt haben. Und dass sie es sind, die uns Sorgen machen und um deren Willen ich eine andere, handlungsorientierte Integrationspolitik einfordere. Es geht nicht um weltoffene Abiturienten, egal welcher Herkunft und welchen Glaubens. Sondern es geht um die deutlichen Zeichen, dass in den Problemvierteln der religiöse Fundamentalismus auf dem Vormarsch ist und dass sich zumindest dort die Clans der organisierten Kriminalität immer ungenierter ausbreiten – das sind die Alltagsthemen der Menschen. Es sind die Erlebnisse im öffentlichen Raum, die ihre Einstellung prägen. Und es sind die Erfahrungen, die Eltern veranlassen, ihre Kinder woanders zur Schule zu schicken.
Als der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit im Dezember 2006 bei einem Interview auf N24 einmal äußerte, dass er Verständnis für alle Eltern habe, die nicht möchten, dass ihre Kinder in Kreuzberg zur Schule gehen, erhob sich ein Aufschrei der üblichen Verdächtigen. Wowereit wurde anschließend so lange »als Sau durchs Dorf getrieben«, bis er die Äußerung zurücknahm.
Einen routinierten Salto rückwärts legte erwartungsgemäß der Kreuzberger Bürgermeister hin. Er hatte Wowereit sofort empört aufgefordert, sich zu entschuldigen, weil dieser die Kreuzberger Schulen negativ stigmatisiert habe. Als Wowereit dann eine Woche später entnervt und devot kleinlaut seine Entschuldigung darbot und demonstrativ eine nette, schicke Kreuzberger Schule besuchte, entblödete sich derselbe Bürgermeister nicht, ihn wiederum zu kritisieren, weil er nunmehr eine funktionierende Schule besucht habe. Er hätte ihm gerne eine Schule mit Problemen und keine Vorzeigeschule gezeigt. Man muss in Berlin nicht alles verstehen.
Auch dem Schulleiter der Eberhard-Klein-Schule, Bernd Böttig, erging es zuvor nicht anders, als er 2005 in einem Interview mit dem Stern schonungslos die Verhältnisse an seiner Schule anprangerte: »Die meisten, die zu uns in die Hauptschule kommen, sind schon in der Grundschule gescheitert. Zwar ist die Integration in Berlin gescheitert, die Bevölkerung hier in Kreuzberg lebt sehr bewusst in ihrem selbstgeschaffenen Ghetto. Seit die letzten deutschen Schüler weg sind, haben wir hier weniger Probleme. Wir müssen uns nicht darum kümmern, die Deutschen zu integrieren.«
Das sind nur zwei kleine Beispiele dafür, dass es an Hinweisen auf die Lebensrealitäten in Berlin nicht mangelt. Ich könnte sie beliebig fortsetzen. Die kraftvollen Formulierungen von Politikerinnen und Politikern zur Einwanderung, zur Integration und auch zu Problemen einer Einwanderungsgesellschaft füllen in meinem Büro viele Schränke. Ich glaube sogar, die eine oder der andere wäre erschrocken, wenn nicht gar etwas verstört, wenn ich sie zitierte. Und trotzdem ist es in der praktischen Politik so, dass diese Themen nicht wirklich viele interessieren. Sie sind als »Schmuddelthemen« verpönt. Man kann sich damit auch keine Freunde machen. Sagt man die Wahrheit, gibt es sofort Stress, und im Ansehen wandert man in die rechte politische Ecke. Im schlimmsten Fall ist bei der nächsten Kandidatenkür das Mandat futsch.
Mir fällt in diesem Zusammenhang eine ehemalige migrationspolitische Sprecherin und Islambeauftragte der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages ein. Wir begegneten uns einige Male bei Podiumsdiskussionen. Solange sie das Mandat innehatte, kamen wir nicht recht zusammen. Ich glaube, sie fand meine Beiträge genauso schrecklich wie ich die ihrigen. Nachdem sie aber aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden war, avancierte ich zu ihrem heimlichen Fan. Plötzlich pflegte sie bei ihren öffentlichen Auftritten und den Medien gegenüber eine klare, unmissverständliche Sprache, nannte die Dinge beim Namen und hatte auch präzise Vorstellungen davon, was zu tun ist. Die Wandlung dieser Frau in ihrem öffentlichen Auftreten war für mich ein weiterer Beleg für meine These, dass in keinem Politikfeld so viel wider besseres Wissen geredet und gehandelt wird wie bei Integrationsfragen. Der in Berlin lebende türkischstämmige Schriftsteller Zafer Şenocak hat dieses Phänomen einmal sehr scharfzüngig beschrieben: »In den
nächsten Jahrzehnten werden wir es mit Tausenden beruflich unqualifizierten jungen Menschen auf unseren Straßen zu tun haben, die sozial chancenlos sind. Wer diese Missstände aber offen formuliert, bekommt ganz schnell seine Probleme mit der Gutmenschen-Mafia, die über Parteigrenzen hinweg bestens funktioniert.« Ob man sich diesen Formulierungen anschließen will, ist Geschmackssache. Der Sachverhalt an sich ist aus meiner Sicht nicht zu bestreiten.
Um die Unwilligkeit der Politik auch im Alltag und in Randbereichen zu dokumentieren, kann ich über folgendes Erlebnis berichten. Bei den Beratungen des Haushaltsplanes 2012/2013 trug ich im Berliner Landesparlament zur allgemeinen Lage des Bezirkes Neukölln vor, dass wir seit einiger Zeit starke Zuwanderungsströme aus den EU-Staaten Bulgarien und Rumänien zu verzeichnen haben. Da die zuziehenden Familien häufig kinderreich sind, würden unsere Schulen an die Grenzen ihrer Kapazitäten stoßen – es fehle sowohl an Räumlichkeiten als auch an kulturnahen, mehrsprachigen Lehrkräften und Sprachmittlern. Ich verwies auf zunehmende Unruhe in der ansässigen Bevölkerung. Auf diesen Hinweis fragte niemand, welche Unterstützung wir benötigen, wie viele Räume, wie viele Lehrer – weit gefehlt. Ich wurde von der Fraktion der Piraten aufgefordert, den latenten Rassismus zu unterlassen. So sind Realitäten.
Zur Armutswanderung innerhalb der EU werde ich noch zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen.
Es ist einfach so, dass keiner hören will, was sich in den sozialen Brennpunkten oder auch Problemgebieten oder Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf abspielt. In Berlin hat das sicher auch etwas mit meiner Person zu tun. Ich gehe der Belegschaft des Elfenbeinturms auf den Zünder. Aber das ist durchaus auch meine Absicht. Seit das System »Totschweigen« nicht mehr funktioniert, ist in der Landesliga Plan B »minimalistische Wahrnehmung« angesagt. So etwas führt schon zu fast kabarettistischen Verhaltensweisen. Als ich vor einigen Jahren von einem Besuch in Rotterdam einige überlegenswerte praktische Politikansätze mitbrachte und dies zu einer breiten Diskussion innerhalb der Parteien und Medien führte, entschied meine eigene SPD-Fraktion des Abgeordnetenhauses, »dass sie an Reiseberichten keinen Bedarf hat«. Dieser eigentlich unglaublichen Ignoranz und Arroganz folgte ein kleines, aber nachhaltiges politisches Erdbeben. Es verhalf mir zu einem Popularitätsschub, für den ich eigentlich heute noch honorarpflichtig wäre.
Ein fast kindisches Verhalten legte über viele Jahre der Integrationsbeauftragte des Landes Berlin an den Tag, indem er sich zu einem Bezirk mit 128 000 Einwanderern und ihren Abkömmlingen fast völlig abstinent verhielt. Es war schon recht kleinkariert, was mir Journalisten über seine Versuche berichteten, die Neuköllner Integrationspolitik madig zu machen oder ihre Erfolge an seine Fahne zu heften. Er traute sich einfach nicht zu uns, blickte neidvoll auf unsere praktische Arbeit, negierte sie in nahezu alberner Weise, was letztlich zu einer gegenseitigen, weiträumigen Umfahrung führte. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass er unter einer Neuköllnphobie litt. Inzwischen hat er sich dankenswerterweise anderen Aufgaben zugewandt. Vorher beglückte er Berlin aber noch mit seiner wohl grandiosesten Fehlleistung, dem »Gesetz zur Regelung von Partizipation und Integration«.
Dieses Gesetz aus dem Jahr 2010 hat einen schicken Namen. Es verheißt auch viel. Und dennoch werden die folgenden Zeilen über seine Inhalte zu einem humoristischen Teil dieses Buches.
Der Ehrgeiz des letzten rot-roten Senates war groß. Der des kleinen Koalitionspartners DIE LINKE war noch größer. Der Geschäftsbereich »Integration und Migration« oblag dem kleineren Koalitionspartner. Und so wollte dieser unbedingt mit dem ersten Gesetz eines Bundeslandes zu dieser Thematik in die deutsche Integrationsgeschichte eingehen. Es wurde eine formidable Bauchlandung. Eine Blamage ersten Ranges. Das einzige, was man diesem Gesetz zugute halten kann, ist, dass es niemandem schadet. Helfen tut es aber auch nicht. Zumindest nicht bei der Bewältigung der Integrationsprobleme. Es ist ein Placebo. Und damit hat man den Inhalt bereits abgehandelt.
Aber ich will Ihnen einen Blick in das Gesetz nicht vorenthalten. Außerdem gehört sich auch eine Begründung, wenn man das Werk anderer so niedermacht, wie ich es vorstehend getan habe.
Als erstes möchte ich eine Frage an Sie weitergeben: Was, würden Sie denken, sollte in einem Gesetz zur Regelung von Partizipation und Integration in Berlin wohl stehen? Welche Erwartungen würden Sie hegen? Ich für meine Person würde glauben, dass ein solches Gesetz sich mit dem Stand des Integrationsprozesses auseinandersetzt und dort, wo es noch Hemmnisse gibt, diese aufzeigt und Regelungen zur Abhilfe trifft. Also, wie gehen wir nun um mit den Sprachdefiziten bei den Kindern, wie gestalten wir die Elternarbeit, durch welche Maßnahmen versuchen wir die Bildungsferne in der Stadt zu beheben, wer sind unsere Partner dabei, wie professionalisieren wir unsere Bildungseinrichtungen für diese Aufgabe, welche Erwartungen haben wir an die Einwanderer und ihre Organisationen, und womit wollen wir die Kluft in der Stadt überbrücken und das weitere Auseinanderdriften verhindern?
Wenn diese oder ähnliche Fragen auch Sie bewegen und Sie Antworten in dem Gesetz dazu suchen, werden Sie eine herbe Enttäuschung erleben. Nichts davon werden Sie finden. Es sei denn, es reichen Ihnen die Botschaften von der Metaebene, dass sich »das Land Berlin zum Ziel setzt, Menschen mit Migrationshintergrund die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu geben und gleichzeitig jede Benachteiligung und Bevorzugung auszuschließen. Integration ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, dessen Gelingen von der Mitwirkung aller Bürgerinnen und Bürger abhängt. Erfolgreiche Integration setzt sowohl das Angebot an die Bevölkerung mit Migrationshintergrund zur Beteiligung als auch den Willen und das Engagement der Menschen mit Migrationshintergrund zur Integration voraus.« So heißt es in §1. Wenn Sie mit diesen Formulierungen, die einer mittelmäßigen Presseerklärung entnommen sein könnten, zufrieden sind, dann hat das Gesetz seinen Zweck erfüllt. Wenn Sie aber nach etwas mehr Substanz suchen, wird die Aufgabe schon anspruchsvoller.
Die erste Überraschung erlebt man bei der Erkenntnis, an wen sich das Gesetz überhaupt richtet und für wen es gilt. Nämlich für die Berliner Verwaltung und für private Institutionen, an denen das Land Berlin Mehrheitsbeteiligungen hält. Es ist also ein Gesetz, das man für sich selbst gemacht hat. Dann hätte ein Rundschreiben eigentlich auch gereicht.
Im Detail geht es nun darum, wie eine Beauftragte oder ein Beauftragter für Integration und Migration ernannt wird und wie lange die Amtszeit dauert. Man gründet einen Landesbeirat (den es längst gibt) und regelt umständlich, wer dazu gehört und wie er zustande kommt. Man kreiert Bezirksbeauftragte für Integration und Migration (die es ebenfalls längst gibt) – und dann ist das Gesetz schon zu Ende. Ach nein, es folgen ja noch einige Artikel zur Änderung bereits bestehender Gesetze. Die Hochschulen sollen durch mehr Öffentlichkeitsarbeit unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen zur Aufnahme eines Studiums animieren, und im Sportförderungsgesetz werden die Wörter »ausländische Mitbürger« durch die Wörter »von Menschen mit Migrationshintergrund« ersetzt. In diesem Stil geht es weiter. Aus »kirchlichen« Feiertagen werden »religiöse«. Und dann wird immer wieder geklärt, wer bei den Senioren, bei Bedürftigen, im Jugend- und Schulbereich ein Pöstchen besetzen darf.
Doch ich will nicht ungerecht sein. Zwei wesentliche Punkte habe ich Ihnen bisher unterschlagen. In den Bezirken werden Integrationsausschüsse eingerichtet. Was auf den ersten Blick noch halbwegs vernünftig aussieht, erweist sich auf den zweiten als Schildbürgerstreich: Existierten bisher auf der Bezirksebene Beiräte für Integration und Migration mit bis zu 27 Teilnehmern, so gibt es jetzt einen Ausschuss mit 15 Mitgliedern. Davon kommen allerdings nur sieben aus Organisationen außerhalb der Verwaltung. Auf gut deutsch, die Beteiligung der Einwanderer am Bezirksgeschehen wird reduziert und nicht ausgebaut. Insidern war von Anfang an klar: Das wird in der Praxis so nicht stattfinden. Ein Gremium, das erst einmal da ist, entwickelt immer einen beachtlichen Überlebenswillen. In diesem Fall sogar zu Recht. Das Ergebnis ist also: Wir haben jetzt zwei Gremien für dieselbe Thematik. Das ist echt innovativ.
Ach ja, und dann ist da noch die Sache mit den Toten. Der umfangreichste Teil des Gesetzes befasst sich mit den Fragen, ob Leichen aus religiösen Gründen in einem Leichentuch ohne Sarg bestattet werden dürfen, wie Särge beschaffen sein müssen, in denen die Leichen bis zum Grab transportiert werden, wie das mit der Wiederverwendung des Sarges ist, mit den Räumen für rituelle Waschungen und welche Schutzmaßnahmen bei der Leichenschau im Sinne der Hygiene und des Seuchenschutzes zu treffen sind. Man fasst es nicht. Nicht soziale Verwerfungen, Mängel des Schulsystems, Bildungsferne, Diskriminierung oder auch Kriminalität spielen in dem Gesetz eine Rolle, sondern der Umgang mit Toten in epischer Breite. Ich fragte bei der Diskussion um dieses Gesetz ein Senatsmitglied, warum das so gehandhabt worden ist. Die entwaffnende Antwort lautete: »Wir haben das reingeschrieben, damit überhaupt etwas drinsteht.« Dann passt es natürlich wieder und reiht sich ein in die bekannte Gaukler-Politik. Dabei gäbe es wirklich genug zu tun.
Sollten Sie nicht so ohne weiteres bereit sein, mir die vorstehende Geschichte abzunehmen, so klicken Sie sich doch einfach ins Gesetz.* Viel Amüsement.
In Neukölln-Nord wirken heute zehn Gebiete der »Sozialen Stadt« (ein elftes betrifft die Gropiusstadt im Süden). Insgesamt handelt es sich nach dem Urteil des 2011 verstorbenen Prof. Dr. Häussermann um einen »Sozialraum mit Ausgrenzungstendenz«. Davon gibt es insbesondere im Bezirk Mitte und in Friedrichhain-Kreuzberg noch weitere. Nach seinem »Monitoring Soziale Stadtentwicklung« ist davon auszugehen, dass mehr als 800 000 Menschen in Berlin in Gebieten mit einem sehr niedrigen Entwicklungsindex leben. Das vernichtendste Urteil von Prof. Dr. Häussermann war einmal der Satz: »Man muss in Berlin von einer gespaltenen Kindheit ausgehen. Immer mehr Kinder in Umgebungen mit immer größeren Problemen gegenüber Kindern in Umgebungen mit immer weniger Problemen.«
Die mahnenden Hinweise auf die bevölkerungspolitische und sozialintegrative Fehlentwicklung von Neukölln-Nord sind lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen oder gar belächelt worden. Dies war der Grund für mich, Prof. Dr. Häussermann insgesamt dreimal zu bitten, sich gutachterlich über die sozioökonomische Entwicklung des Stadtteils zu äußern. Alle drei Gutachten sind im Netz unter www.berlin.de/ba-neukoelln/derbezirk/neukoellner_gutachten.html einseh- und abrufbar. Ich verzichte an dieser Stelle auf weitschweifige Wiederholungen aus den Gutachten. Dies schon aus dem Grunde, weil ihre Datenlagen aus 2005 bis 2009 inzwischen als veraltet anzusehen sind. Die Veränderungen vollziehen sich so rasant, dass es nicht adäquat erscheint, konkrete Ableitungen aus bis zu sieben Jahre alten Daten vorzunehmen. Insofern möchte ich lediglich die zentralen Ergebnisse wiedergeben, zu denen Prof. Dr. Häussermann gekommen ist.
Die Unterschiede im sozialen Status innerhalb Neuköllns haben sich nicht erst in jüngster Zeit herausgebildet, sondern bestehen bereits mindestens seit 2001.
Innerhalb Neuköllns zeigen die Gebiete mit einem hohen sozialen Status eine günstige Entwicklungstendenz, während die Gebiete im nördlichen Neukölln mit sehr niedrigem Status eine negative Dynamik aufweisen. Damit zeichnet sich eine größer werdende Ungleichheit hinsichtlich der sozialen Problemdichte ab, und der Abstand vergrößert sich.
Infolge des Zuzugs von Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft entstehen Verdrängungsprozesse durch den Wegzug der Deutschen. Seit 2001 ist eine stärkere Abwanderung von Familien mit Kindern unter sechs Jahren in den Süden Neuköllns zu verzeichnen.
Die Altbaugebiete in Neukölln üben eine anhaltende Attraktivität auf Zuwanderer aus dem Ausland aus. Die Zuzüge aus dem Ausland steigen kontinuierlich. Das Wanderungssaldo mit Bulgarien ist durchgängig positiv, mit Polen und der Türkei seit Jahren rückläufig.
Für Neukölln ist festzustellen, dass dort, wo die Probleme bereits hoch verdichtet sind, diese weiter zunehmen, während sie in Gebieten mit einer niedrigen Problemdichte nicht zunehmen. Wenn heute die Hälfte der Neuköllner Bevölkerung sogar am Rand der sozialen Ausgrenzung steht, dann werden das in zehn bis 15 Jahren ohne einsetzende Intervention zwei Drittel bis drei Viertel sein. Der Zustand für die Eingriffsebene Prävention ist in Neukölln längst überschritten. Es besteht
dringend stärkerer Interventionsbedarf der Landespolitik.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #11 on: November 04, 2012, 09:00:15 am »
Die Dichte der sozialen Probleme in Neukölln-Nord ist etwa doppelt so hoch wie in der gesamten Stadt. Die positiven Trends kommen in Nord-Neukölln nahezu flächendeckend nicht oder nur abgeschwächt an. Damit koppelt sich Nord-Neukölln von der Gesamtentwicklung Berlins ab.
Das Armutsniveau verfestigt sich in Neukölln-Nord durch einen verstärkten Zuzug von Arbeitslosen.
(Anmerkung d. Verf.: Ein aktuelles Gutachten von TOPOS über die Zuzüge im Jahre 2011 hat den anhaltenden Trend bestätigt. Etwa 50 % aller Zuziehenden nach Neukölln verfügen lediglich über ein Einkommen unterhalb des Durchschnitts der Gesamtberliner Bevölkerung.)
Neukölln ist das Zentrum der Aufstocker, die mit ihrer Arbeit nicht genug verdienen und daher zusätzlich auf Hartz IV angewiesen sind. Es zeigt sich, dass die Beschäftigung im Niedriglohnbereich hier am stärksten vertreten ist.
Die Entwicklung der Kinderarmut ist erschreckend. Während sie im Berliner Durchschnitt sinkt, steigt sie in Neukölln an. Von 18,9 % im Jahr 2001 auf 54,6 % im Jahr 2009. In Nord-Neukölln belaufen sich die Spitzenwerte auf 74,6 % und 75,2 % in einzelnen Gebieten.
Spätestens seit Vorliegen der Gutachten war die Diskussion um die Validität der Neuköllner Aussagen beendet. Für Fachleute hingegen waren die Untersuchungsergebnisse von Prof. Dr. Häussermann keine Überraschung, bestätigten sie doch nur, was er bereits mehrfach bei seinen Forschungen über die sozio-ökonomische Entwicklung von ganz Berlin festgestellt hatte. Immer wieder hatte er sorgenvoll versucht, den Prozess des sozialen Auseinanderdriftens Berlins ins Bewusstsein zu rütteln. Ein Beispiel hierfür ist das Monitoring der sozialen Stadtentwicklung 2007. Seine damaligen Forschungsergebnisse veranlassten ihn zu folgenden Feststellungen:
»Wedding und Neukölln sowie Moabit haben Kreuzberg als Gebiet mit der höchsten Problemdichte abgelöst. Dies sind Entwicklungen, die seit längerem zu beobachten sind, und die durch die bisherigen Interventionsversuche nicht wesentlich verändert werden konnten …«»Vergleicht man die Anteile von nicht-erwerbsfähigen Empfängerinnen und Empfängern von Existenzsicherungsleistungen an den unter 15-Jährigen mit den Anteilen der Sozialhilfebezieherinnen und Sozialhilfebeziehern unter 18 Jahren zum Jahresendstand 2004, zeigt sich, dass die Anteile 2006 im Durchschnitt mehr als doppelt so hoch sind.«»Die hohe Präsenz von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien ist neben hohen Anteilen von Transferempfängerinnen und Transferempfängern oft der Anlass für den Entschluss von Eltern, vor der Einschulung ihrer Kinder das Wohngebiet zu verlassen.«»Es besteht nach wie vor eine starke Konzentration von ausländischen Kindern und Jugendlichen in den westlichen Innenstadtgebieten. In Neukölln und Wedding liegen die Werte am höchsten.«»Unter den Verkehrszellen mit einem sehr niedrigen oder einem niedrigen sozialen Status gibt es keine, die eine positive Entwicklungstendenz aufweist.«»Die Verkehrszellen mit Interventionsbedarf liegen überwiegend in den Bezirken Mitte, Neukölln und Marzahn-Hellersdorf.«»Dies veranschaulicht deutlich, dass sich Gebiete mit einem hohen sozialen Status und Gebiete mit einem niedrigen sozialen Status weiter auseinanderentwickeln.«»Während 39 von 64 Verkehrszellen mit einem bereits ›hohen‹ Status eine überwiegend positive Dynamik aufweisen, das heißt, dass die Dichte sozialer Probleme dort, obwohl sie bereits sehr niedrig ist, noch weiter abnimmt, ist am anderen Ende dieser Skala das Gegenteil der Fall: In keinem der 64 Gebiete mit einem ›niedrigen‹ bzw. ›sehr niedrigen‹ Status hat sich im Untersuchungszeitraum eine positive Entwicklungsdynamik gezeigt. Bei 37 der 64 Gebiete zeigen die Dynamik-Indikatoren in Richtung einer weiteren Abwärtsentwicklung. Damit deutet sich eine Polarisierung der Quartiersentwicklung an: In den Quartieren, in denen bereits jetzt wenig soziale Probleme zu beobachten sind, verringern sich diese weiter – und bei denjenigen, wo bereits eine hohe Problemdichte gegeben ist, verschärft sich die Situation noch weiter.Die Bemühungen des Quartiersmanagements haben also bisher nicht dazu geführt, dass in allen Quartieren mit einer hohen Problemkonzentration die Abwärtsspirale gestoppt oder gar umgekehrt werden konnte.«
Aus seinen Analysen zieht Prof. Dr. Häussermann Schlussfolgerungen, die er in einem Forderungskatalog so zusammenfasst:
»Die Stadtentwicklungspolitik muss auf diese Probleme mit einer strukturellen Neuordnung der Quartierspolitik antworten. (…) Die sich abzeichnende Polarisierung der Quartiersentwicklung verlangt nach gesamtstädtischen Strategien, die geeignet sind, die soziale Situation vieler Haushalte zu verbessern und eine Dekonzentration der sozialen Problemdichte einzuleiten (…). Eine integrierte Quartierspolitik mit den Schwerpunkten Familien-, Jugend- und Bildungspolitik muss dabei absoluten Vorrang haben. (…) Für ein Ende des Engagements in den Quartiersmanagementgebieten zeichnet sich derzeit keine Begründung ab.« Legt man die Ergebnisse und Schlussfolgerungen von Prof. Dr. Häussermann nebeneinander, so muss man ihnen eigentlich die Funktion eines Weckers zuschreiben. Das ist schon heftig, was dort der Stadtpolitik ins Stammbuch geschrieben wurde.
Die Erwartung, dass nach dem Vorliegen der Gutachten der Kurs in der Integrations- und Sozialpolitik in Berlin spürbar verändert werden würde, musste mit dem Gedanken »denkste« beerdigt werden. Es bleibt festzuhalten, dass es bereits im Jahr 2007 mehr als deutliche Warnhinweise auf sich verfestigende soziale Brennpunkte gegeben hat. Dies ist umso beachtlicher, als der Stadtsoziologe als eher abwägender und dezent zurückhaltender Formulierer bekannt war. Ihn unter die Kategorien Alarmist oder Scharfmacher zu subsumieren, würde seiner Persönlichkeit nicht gerecht werden. Allerdings habe ich ihn im Laufe der Jahre unserer Zusammenarbeit so erlebt, dass er immer enttäuschter auf die Tatenlosigkeit der Politik in Berlin reagierte. Zum Ende seines Wirkens empfand ich ihn fast als resignativ.
Ich glaube, hier sollte ich einen kleinen Einblick in den Prozess der Annäherung von Prof. Dr. Hartmut Häussermann und mir geben. Wir lernten uns etwa 2003 bei Podiumsdiskussionen kennen. Wir waren stets die geplante Sollbruchstelle auf dem Podium. Denn Diskussionen leben nun einmal von unterschiedlichen Positionen. Ich war damals der polternde Lautsprecher aus Neukölln, der alles schwarz malte und mies machte. Der die schönen, gelungenen Projekte kritisierte und die harmonische intellektuelle Integrationswelt durch Kraftausdrücke störte. Mir gegenüber saß Prof. Dr. Häussermann, der meine Kampfbegriffe wie »Parallelgesellschaften«, »Sozialromantik« und »gescheiterter Multikulturalismus« aufnahm und höflich, aber doch lehrhaft zurückwies und wissenschaftlich auseinandernahm. Seine menschlich sehr angenehme Art führte aber dazu, dass wir uns persönlich nie gram waren und uns von Veranstaltung zu Veranstaltung sogar annäherten.
Als dann im Laufe der Zeit die sozialen Daten immer dramatischer wurden und Prof. Dr. Häussermanns Sprache sich für seine Verhältnisse stark radikalisierte, ohne dass die Politik darauf reagierte, kam es 2008/2009 sogar zum Schulterschluss. Insbesondere seine Arbeit mit den Daten aus Neukölln hat ihn stark sensibilisiert. Wir wurden bald nicht mehr zusammen eingeladen, weil immer unwahrscheinlicher wurde, dass wir unterschiedlicher Meinung waren. Der Wissenschaftler trat bis zuletzt in Veranstaltungen auf und nahm Neukölln als das reale Beispiel einer asymmetrisch mutierenden Stadt. Er wurde zu unserem Kronzeugen.
Die detaillierten rein Neuköllner Spezifika sind natürlich für manche Leser nur von nachrangigem Interesse. Es ging mir vor allem darum zu verdeutlichen, wie sich ein ganzer Stadtteil von über 300 000 Menschen in einer konkreten Problemlage mit 150 000 Menschen wissenschaftlich nachgewiesen auf einer rasanten Talfahrt befinden kann, während die Landespolitik völlig ungerührt weiter vor sich hinnickert. Dazu gehören schon ein ziemlich dickes Fell und eine stramme Portion Nonchalance.
Zusätzlich zum »Monitoring Soziale Stadtentwicklung« lässt die Landesregierung in unregelmäßigen Abständen einen Sozialstrukturatlas erstellen und veröffentlichen. Es kann nicht verwundern, dass bisher die Ergebnisse ziemlich deckungsgleich mit denen des Monitorings waren. Aber auch die Reaktionen waren identisch. Große Betroffenheit wurde in die Mikrophone und Kameras gehaucht und entschlossene Abhilfe angekündigt. Hierzu wurde die x-te Arbeitsgruppe
von Staatssekretären eingesetzt, die dann, nachdem sich die Medienaufmerksamkeit gelegt hatte, wie ihre Vorgänger sanft entschlummerte.
Im Sommer 2012 war es wieder einmal so weit. Auf eine parlamentarische Anfrage hin musste der Senat erneut offenlegen, dass in Berlin jeder dritte junge Mensch unter 18 Jahren in einem Hartz-IV-Haushalt lebt. In Neukölln und Mitte sind es 50 % und in einigen Bezirksteilen weitaus mehr. Auf die Frage nach der Strategie zur Bekämpfung der Kinderarmut gab es welche Antwort? Dreimal dürfen Sie raten. Na klar, es wird eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe eingesetzt. Verfolgen wir ihre Halbwertszeit.
Nicht verschweigen möchte ich auch, dass einige unserer heutigen Brennpunktlagen durch unmittelbares staatliches Handeln stimuliert wurden.
Im Jahre 2006 entschied der damalige rot-rote Senat, den Verkauf städtischer Wohnungen zu stoppen. Hintergrund war die Absicht, eine Mindestanzahl von 260 000 Wohnungen aus Gründen der Marktregulierung im städtischen Besitz zu behalten. Eine kluge und richtige Entscheidung. Vorher wurden aber noch schnell zwei große Wohngebiete verkauft. Die sogenannte Weiße Siedlung mit 1700 Wohnungen und der größte Teil der High-Deck-Siedlung mit 1900 Wohnungen. Beide liegen in Nord-Neukölln. Käufer waren zu jener Zeit natürlich Heuschrecken. Die weitere Entwicklung war wie aus dem Lehrbuch. Die Banken wollten durch Vollvermietung beruhigt werden, also musste der Leerstand weg. Die Folge waren Anzeigen mit der netten Offerte »Schöne Neubauwohnung, xx qm, drei Monate mietfrei, gerne auch Hartz-IV-Empfänger«.
Ich kann es mir ersparen zu beschreiben, mit welch affenartiger Geschwindigkeit sich der Absturz der Sozialstruktur in den beiden Gebieten vollzog. Als zum partiellen Mittun verurteiltem Bezirksbürgermeister kamen mir damals durchaus revolutionäre Gedanken. In den Verkauf der einen Siedlung war ich nicht einmal am Rande involviert. Sie gehörte einer städtischen Gesellschaft, zu der ich keine direkten Kontakte hatte. Bei der High-Deck-Siedlung war das anders. Sie gehörte einer Gesellschaft, in deren Aufsichtsrat ich damals saß und auch heute noch sitze. Wir erhielten die klare Direktive des Gesellschafters Land Berlin, dass die für die Sanierung der Siedlung benötigten 50 Millionen Euro nicht zur Verfügung stünden und daher die Wohnungen zu verkaufen seien. Mir war damals klar, wie die Folgen aussehen würden. Und so ist es dann ja auch gekommen. Ich fühlte mich in den entscheidenden Sitzungen ohnmächtig. Die Wohnbaugesellschaft konnte die Aufgabe alleine nicht stemmen, der Gesellschafter entschied sich für den Verkauf, und der Bürgermeister ahnte das Unheil. Ich bin jedenfalls der festen Überzeugung, dass die sozialen Folgekosten, die wir als Land Berlin inzwischen zu tragen hatten, die Einnahmen aus dem Verkauf der Siedlung bereits um ein Vielfaches überstiegen haben. Solches Denken in Zusammenhängen ist aber kaum verbreitet. Dabei sind doch alles öffentliche Mittel, also Geld der Steuerzahler.
Ansonsten begann 2002 in Berlin die Epoche des Sarrazynismus. Weiche Faktoren, soziale Aspekte, Stadtrendite, soziale Verantwortung der städtischen Wohnungsbaugesellschaften für den Kiez – solche unanständigen Wörter durften noch nicht einmal mehr gedacht werden. Es zählten nur Gewinnmargen und Abführungsquoten an das Land. Erst 2007 wurde durch die damalige Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer der wohnungspolitische Kurs in Berlin geändert. Die städtischen Wohnbaugesellschaften erhielten wieder den Auftrag, ihre Geschäftspolitik auch an der Bevölkerungs- und Sozialstruktur auszurichten und sie nach Möglichkeit positiv zu beeinflussen. Da aber, wo das Kind bereits in den Brunnen gefallen war, blieb nur der Reparaturbetrieb »Soziale Stadt«.
* Abrufbar unter: www.berlin.de/lb/intmig/partizipationsgesetz_berlin.html
Andere Kulturen und dann noch die Sache mit der Religion
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der inzwischen schon fast als selbstverständlich hingenommenen Dominanz des Islam. Keine Religion beansprucht für sich einen so breiten öffentlichen Raum in der gesellschaftspolitischen Diskussion wie der Islam. Nicht selten erfolgt im Diskurs eine völlig irreführende Gleichsetzung von Migrant und Moslem. Richtig ist, dass von den rund 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland höchstens ein Viertel Muslime sind. Das Spektrum der Religionen in Deutschland ist breiter geworden. Und der Islam ist nur eine der Religionen, die neu hinzugekommen sind.
Von den 128 000 Menschen mit Migrationshintergrund in Neukölln sind – wie bereits erwähnt – etwa 57 000 Muslime. Der Islam ist also in Neukölln angekommen, und er wird auch bleiben. Gerade über die Frage, in welchem Verhältnis er zur deutschen Gesellschaft steht, gab es aus Anlass der Rede des damaligen Bundespräsidenten Wulff eine leidenschaftliche Diskussion. So richtig verstanden habe ich die Adrenalinschübe bei einigen Zeitgenossen damals nicht. Ich will zum besseren Verständnis die entscheidenden Passagen aus der Rede zitieren:
»Wir haben erkannt, dass Einwanderung stattgefunden hat, auch wenn wir uns lange nicht als Einwanderungsland definiert und nach unseren Interessen Zuwanderung gesteuert haben. Und wir haben auch erkannt, dass multikulturelle Illusionen die Herausforderungen und Probleme regelmäßig unterschätzt haben: Verharren in Staatshilfe, Kriminalitätsraten, Macho-Gehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung. (…)Und ja, wir brauchen auch viel mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von Regeln und Pflichten – etwa bei Schulschwänzern. Zur Wahrheit gehört aber auch dazu: Das gilt für alle, die in diesem Land leben. (…)Zuallererst brauchen wir eine klare Haltung. Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. (…)Zu Hause zu sein in diesem Land – das heißt dann, unsere Verfassung und die in ihr festgeschriebenen Werte zu achten und zu schützen: zuallererst die Würde eines jeden einzelnen Menschen, aber auch die Meinungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sich an unsere gemeinsamen Regeln zu halten und unsere Art zu leben zu akzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine Werte verachtet, muss mit entschlossener Gegenwehr aller in unserem Land rechnen – das gilt für fundamentalistische ebenso wie für rechte oder linke Extremisten.Wir erwarten völlig zu Recht, dass jeder sich nach seinen Fähigkeiten einbringt in unser Gemeinwesen. Wir verschließen nicht die Augen vor denjenigen, die Gemeinsinn missbrauchen. (…)Wir achten jeden, der etwas beiträgt zu unserem Land und seiner Kultur.« Wer will gegen diese Formulierungen ideologisch argumentieren? Auch die umstrittene Passage, ob der Islam nun zu Deutschland gehört oder nicht, ist bei emotionslosem Hinsehen sprachlich geschickt formuliert. Die christlich-jüdische Geschichte wird klar getrennt von dem »inzwischen« hinzugetretenen Islam. Die Existenz von etwa 3,5 bis 4 Millionen Muslimen in Deutschland kann wohl niemand in Abrede stellen. Also ist der Islam da. Beabsichtigt war natürlich eine völlig andere politische Wirkung. Nämlich die, die eingetreten ist. Es ging nicht um einzelne Buchstaben, sondern darum, ob der Islam Teil des Wertekanons und der Werteschöpfung in Deutschland ist oder war. Wenn heute Funktionäre der Muslime im Brustton der Überzeugung behaupten, der Islam habe zur Entwicklung Deutschlands bis hin zu unserer heutigen demokratischen Gesellschaft Wesentliches beigetragen, dann darf sich niemand über Widerspruch wundern. Es hat einige geschmerzt, trotzdem war die Relativierung durch Bundespräsident Gauck richtig und notwendig, um die ins Nichts führende Debatte zu beenden.

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #12 on: November 04, 2012, 09:01:43 am »
Nun sind 5 % der Bevölkerung (ohne die Aleviten fast nur 4 %) ohne Frage eine klare
Minderheit. In diesem Fall aber eine sehr aktive, manchmal auch recht aggressive. Mir gehen die Fragen, wie ich zum Islam stehe, was ich von ihm halte und ob ich finde, dass er kompatibel mit unserer Gesellschaftsordnung ist, inzwischen auf die Nerven. Ich habe gar keine Lust, mich andauernd über Religion zu unterhalten oder mir eine solche Unterhaltung aufzwingen zu lassen. Ich diskutiere auch nicht jeden zweiten oder dritten Tag über den Katholizismus, das Judentum, den Buddhismus oder Hinduismus. Religion ist bei uns Privatsache. Wer mit welchem Gott wie seinen Frieden findet, ist für mich ohne Belang. Jedenfalls so lange, wie er nicht den Anspruch erhebt, dass ich seinen Gott auch toll zu finden habe. Religionsfreiheit bedeutet nicht, dass die Religion über den Normen der Gesellschaft steht, sie die Definition der Freiheit ist oder sie gar die Normen oktroyiert, sondern heißt, dass jeder die Religion, die für ihn das Heil bedeutet, ohne Angst vor staatlicher Repression oder Einmischung ausüben kann. Religionsfreiheit heißt auch, frei von Religion leben zu können.
Aus meiner Sicht entwickeln sich die Diskussionen und Konfliktsituationen immer dann, wenn mit der Religion weltliche Bezüge hergestellt und daraus zwanghafte normative Verhaltensweisen abgeleitet werden sollen. Ich meine die hinlänglich bekannten Auseinandersetzungen in der Schule, im Kindergarten, am Arbeitsplatz oder im öffentlichen Raum. Da gelangt eine Religion, die den Anspruch erhebt, spirituelle und weltliche Instanz zugleich zu sein, schnell an ihre Grenzen. Ehrlich gesagt, berühren mich die islamischen Glaubensriten genauso nur am Rande wie die der recht starken Hindugemeinde in Neukölln oder die der katholischen Kirche. Das hat nichts mit mangelndem Respekt zu tun, sondern ist lediglich Ausdruck einer persönlichen Distanz. Ich mag weder Halbmonde noch Kreuze in Schulen und Rathäusern.
In Neukölln bieten sich etwa 20 Moscheen den Muslimen zur Religionsverrichtung an. Mal sind es mehr, mal sind es weniger. Über die Eröffnung oder Schließung einer Moschee erfahren wir meist erst aus der Nachbarschaft. Immer dann, wenn sich eine leerstehende Fabriketage plötzlich zu bestimmten Zeiten meist mit Männern füllt, freitagnachmittags die Parkplätze in den umliegenden Straßen knapp werden oder auch Männer mit Kopfbedeckungen, langen Bärten sowie orientalischer Bekleidung ein- und ausgehen. Im Regelfall vollziehen sich derartige Dinge unspektakulär. Entscheidend für die Lang- oder Kurzlebigkeit ist, ob es dem Vereinsvorstand oder Imam gelingt, genügend Gläubige an sich zu binden, um das für das Überleben erforderliche Spendenaufkommen zu sichern. Anders als bei den christlichen Kirchen gibt es kein übergeordnetes Finanzierungssystem. Nur sehr wenige Moscheen legen offen, ob sie aus dem Ausland, etwa Saudi-Arabien, finanzielle Unterstützung erhalten. Außer zur Şehitlik-Moschee, die zur (staatlichen) Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) gehört, haben wir kaum regelmäßige Kontakte zu den Moscheevereinen. Sie sind auch nicht gewünscht. Wir fragen zuviel!
Die Struktur unserer Moscheen ist so heterogen wie die islamische Lehre. Die Hauptströmungen Sunniten, Schiiten und Aleviten machen durchaus das Gros aus, wobei wir aber keine genaue Datenlage darüber haben, wie stark die Anhängerschaften der einzelnen Moscheen oder insbesondere der Glaubensrichtungen des Salafismus und des Wahhabismus, also der extremsten islamischen Strömungen, tatsächlich sind. Es muss doch stutzig machen, wenn die Berliner Chefin des Verfassungsschutzes erklärt, nach ihren Erkenntnissen gebe es in der Stadt etwa 300 bis 500 Salafisten. Diese Glaubensrichtung betreibt zwei Moscheen, eine davon in Neukölln. Und schon diese eine hat einen Gebetssaal für 1500 Gläubige, und beim Freitagsgebet stehen mitunter noch ein paar Hundert auf der Straße.
Wir haben auch nur verschwommenes und rudimentäres Wissen darüber, was sich in den einzelnen Moscheen praktisch vollzieht. Wird in allen Moscheen tatsächlich nur der Glaube praktiziert, oder verfolgt man islamistische Ziele, also die des politischen Islam? Werden junge Leute angeworben, um ihnen Halt zu geben und ihre Persönlichkeit zu festigen, oder eher, um sie mit der Bestimmung zum Mujahid – also zum Gotteskrieger – vereinnahmend bekannt werden zu lassen? Was passiert tagtäglich mit Kindern ab vier Jahren in den Koranschulen? Das sind Fragen,
die man sich stellen kann, die die deutsche Gesellschaft aus meiner Sicht auch stellen muss, aber es nicht tut. Vielleicht, weil wir wissen, dass wir sowieso keine vernünftige Antwort kriegen.
Einen Überblick haben wir darüber, welcher grundsätzlichen Glaubensschule sich die einzelnen Moscheevereine zugehörig fühlen. Ob sie Anlaufstellen der Hisbollah oder Hamas sind, ob sie der Moslembruderschaft oder Millî Görüş nahestehen und wer mit wem vernetzt ist. In Neukölln werden regelmäßig elf Moscheevereine durch den Verfassungsschutz beobachtet. Es stößt uns schon auf, wenn sich ein Verein aus etwa 40 nicht gerade begüterten Menschen gründet, aber kurze Zeit darauf ein Gemeindezentrum für 10 bis 15 Millionen Euro bauen möchte. Auch da sind kritische Nachfragen unerwünscht und führen sofort zu Beschützerverhalten einschlägiger politischer Kreise oder Organisationen. Christliche Gemeinden und Hochschulen sind hiervon ebenfalls nicht ausgenommen, wie das jüngste Beispiel eines in Neukölln gegründeten neuen Bürgerbündnisses gezeigt hat. Die stereotype Antwort auf den Hinweis, dass einige der Mitglieder unter der Beobachtung der Verfassungsschützer stehen, lautete: »Ja, das wissen wir, aber man muss die Liberalen in diesen Organisationen stärken.« Oder die renommierte Stiftung, die bei einem Projekt mit Moscheen zusammenarbeitet, die als Anlaufpunkte der Hisbollah, Hamas und Salafisten gelten. Hier wurden unsere Bedenken quittiert mit der Bemerkung: »Wertvorstellungen unserer Partner messen wir keine Bedeutung zu.« Da es für uns Grundvoraussetzung jeglicher Zusammenarbeit ist, dass sich Partner der demokratischen Werteordnung verpflichtet fühlen, haben wir natürlich um Verständnis gebeten, dass wir das Projekt den Neuköllner Schulen nicht empfehlen können.
Aber es ist manchmal schon nahezu absurd, welche Organisationen sich bereitwillig als Unterschlupf und seriöser Deckmantel missbrauchen lassen. Die Folge davon ist eine völlig schiefe Diskussionsebene. Man befindet sich urplötzlich im Konflikt mit jemandem, mit dem man eigentlich gar nicht im Unfrieden ist. Und es entsteht vor allem eine fast unangreifbare Position für einen zweifelhaften Verein. Es mag mitunter bei den Einzelnen Naivität und/oder Gutmenschentum die Ursache sein, bei den Frontleuten ist es Kalkül. Wer mehrere Hundert johlende Menschen aus zum Teil obskuren Gruppierungen mit Sympathie für Hamas, Hisbollah, Salafiten und Millî Görüş für das Idealbild der Zukunft Neuköllns hält, hat ein anderes Weltbild als ich. Mich stoßen derartige Rituale ab. Wer die toleranzzersetzende Wirkung des Fundamentalismus nicht erkennt oder erkennen will, der wird schon allein dadurch zum Helfershelfer.
Insbesondere auf junge Leute üben orthodoxe Religionsauslegungen eine starke Anziehungskraft aus. Sie helfen vielen Gescheiterten, die sich benachteiligt, diskriminiert und ausgegrenzt fühlen, ihre Perspektivlosigkeit zu kompensieren. An ihrer Situation muss jemand schuld sein. Da sie selbst es aus ihrer Sicht nicht sein können, liegt der Fall klar: die deutsche Gesellschaft. Oder im Straßenjargon: die Scheißdeutschen. Für diese Frustrierten stiften die Religion und insbesondere der kompromisslose und fundamentalistische Glaube eine neue Identität. Das stärkt das Bewusstsein und das Selbstwertgefühl. Ich bin anders, ich bin besser, ich lebe ein höheres, gottgefälligeres Leben als die Ungläubigen. Natürlich werden diese Gefühle von dogmatischen Religionslehrern oder Imamen geweckt und gestärkt.
Über Anwerbetechniken, Unterrichtskreise in Privatwohnungen und den Betrieb von Koranschulen ist nicht viel bekannt, wir sind auf Vermutungen und juristisch nicht belastbare Informationen angewiesen. Wir schätzen, dass es etwa 1000 Koranschulplätze mit unterschiedlicher Lehrausrichtung in Neukölln gibt. Es ist nicht auszuschließen, dass in und durch die Koranschulen die Anhängerschaft orthodoxer Religionsauslegungen, die im Widerspruch zu unserer Gesellschaftsordnung stehen, weiteren Zulauf erhält. Darüber hinaus erteilt die Islamische Föderation als Tochterunternehmen von Millî Görüş in Neukölln in fünf staatlichen Schulen Religionsunterricht. Die alevitische Gemeinde, ein Beispiel für liberales Glaubensleben, ist an zwei Schulen in Neukölln tätig.
Ich begrüße das Engagement der Aleviten in Neukölln außerordentlich. Seit vielen Jahren
habe ich mit Bedauern registriert, dass sich die alevitische Gemeinde in Neukölln nur zurückhaltend repräsentiert. An dieser Stelle räume ich einmal Neidgefühl gegenüber dem Stadtteil Kreuzberg ein, und zwar insofern, als eine die Aleviten dort ein sogenanntes Cem-Haus (eine Begegnungsstätte) unterhalten und in Neukölln nicht. Das soll sich ändern. Seit etwa einem Jahr haben sich die Kontakte gefestigt, und die Aleviten sind dabei, eine entsprechende Liegenschaft für ein Cem-Haus in Neukölln zu finden.
Es ist sicher überzogen zu erwarten, dass jeder Mann und jede Frau die Feinheiten unterschiedlicher Glaubensrichtungen in sein Wissen aufgenommen hat. Deshalb an dieser Stelle einige wenige Basics, die sich spielend bei Wikipedia erweitern lassen.
Der Islam wird geprägt von zwei bestimmenden Glaubensrichtungen. Der sunnitischen und der schiitischen. Die sunnitische Lesart versammelt etwa 85 % aller Moslems unter ihrem Dach, die schiitische demnach etwa 15 %. Um die Frage, wer den wahren Islam vertritt, gibt es seit ewigen Zeiten schwere und auch blutige Auseinandersetzungen. Heute noch ist der Kampf um die Deutungshoheit im Islam Auslöser und Hintergrund vieler Attentate. Er musste sogar als Begründung für den 8-jährigen Krieg zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Irak herhalten, obwohl es dabei wohl mehr um geostrategische Ziele ging.
Zwischen diesen Hauptströmungen gibt es weitere, zahlenmäßig nicht so bedeutsame Absplitterungen. Meist eher konservativer Art. Eine Sonderstellung nimmt das Alevitentum ein. Der Ursprung dieser Glaubensrichtung ist umstritten. Es gibt Lehren, die belegen wollen, dass das Alevitentum bereits vor der Schöpfung des Islam entstanden ist, während andere es für eine Weiterentwicklung auf der Basis des Schiitentums halten. In Deutschland handelt es sich vorrangig um das anatolische Alevitentum – eine synkretistische Religion aus schiitischen, alttürkischen und mystischen Elementen.
Fest steht jedoch, dass die alevitische Glaubens- und Lebensethik eine völlig andere als die des klassischen Islam ist. Die Aleviten beziehen sich in ihrer Spiritualität zwar auf den Koran, lehnen seinen rechtsprägenden, bis in das tägliche Leben alles beherrschenden und allumfassend bestimmenden Anspruch jedoch ab. Orthodoxie ist ihnen völlig wesensfremd und findet keinen Eingang in die alevitische Lehre. Im Zentrum des Glaubens steht der Mensch als Individuum. Es gibt keinen Unterschied in der Wertigkeit der Geschlechter, Gewalt nach außen und innerhalb der Familie wird abgelehnt. Bildung gilt als erstrebenswert, und jeder Alevit ist verpflichtet, sie zu erwerben.
Das Alevitentum trägt starke humanistische Züge. Es gibt keine Kirchen und Moscheen im üblichen Sinne und keine unabdingbaren Gebets- und Verhaltensrituale. Aus der Sicht orthodoxer Moslems handelt es sich bei Aleviten auch nicht um Moslems und Gläubige des Islam, und deshalb müssten sie aus dem Hause des Islam vertrieben werden. Vor den AKP-Zeiten in der Türkei hieß es in der sonstigen islamischen Welt auch immer, dass die Türkei vom Laizismus der Kemalisten wie wohl auch vom Liberalismus der Aleviten befreit werden müsse.
Die Aleviten haben in den vergangenen Jahrhunderten in ihrem Stammland der Türkei Verfolgung und Unterdrückung erleiden müssen. Ihr historischer Kern liegt in Anatolien. Dort wurden sie enteignet, ermordet oder vertrieben. Heute gilt Izmir als das religiöse und intellektuelle Zentrum der Aleviten in der Türkei. Ihr Anteil an der türkischen Bevölkerung wird auf 20 % geschätzt. Immer wieder wird berichtet, dass bis heute bekennende Aleviten diskriminiert und unter fadenscheinigen Gründen ihrer Ämter (sofern sie welche innehaben, und sei es auch nur die Leitung einer Schule) enthoben werden. Aus diesem Grunde ist es zumindest in der Türkei ausgesprochen unüblich, dass Aleviten ihren Glauben öffentlich zu Markte tragen.
Dieses wenn auch rudimentäre Wissen über Strömungen innerhalb des Islam ist für die Beurteilung der Muslime in Deutschland nicht ohne Belang. Die alevitische Gemeinde bezeichnet sich mit rund 600 000 bis 700 000 Angehörigen in Deutschland als die zweitgrößte muslimische Vereinigung nach den Sunniten. Alle anderen Glaubensrichtungen rangieren deutlich unter ihnen.
Deshalb ist es aus meiner Sicht fahrlässig und wenig hilfreich, in Schriften oder Debatten von »den Muslimen« zu schreiben bzw. zu reden. Die Aleviten sind in ganz vielen Fällen unsere verlässlichsten und engagiertesten Partner im Integrationsprozess. Sie stets unter dem Sammelbegriff »die Muslime« zu subsumieren und damit gleichermaßen mitverantwortlich für Fehlentwicklungen zu machen, die aus den fundamentalistischen Glaubensrichtungen begründbar sind, führt jedoch immer wieder zur Verbitterung und Enttäuschung bei den Aleviten über diese Nichtwürdigung ihrer Leistung. Zumal man sie damit auch noch auf eine Stufe mit ihren Peinigern in der Türkei stellt. Thilo Sarrazin macht in seinem Buch diesen kapitalen Fehler ebenfalls.
Es ist schon eine starke Vereinfachung, wenn ich versuche, Menschen, die sich noch nie mit dieser Thematik beschäftigt haben, den Unterschied mit den Worten: »Das sind in etwa die Protestanten des Islam« zu erläutern. Offener, liberaler, lebensbejahend, tolerant und demokratiefähig. Gerade die letzte Eigenschaft ist die, die dem orthodoxen Islam bisher abgesprochen werden muss. Der Glaube an die Untrennbarkeit von Religion, Staat und Gesellschaft und die Reduzierung der Bedeutung des Einzelnen, der nur als ein Teil der Umma, der Gemeinschaft aller Muslime, eine Existenzberechtigung genießt, sind mit dem Grundprinzip eines demokratisch verfassten Staates, seiner Gewaltenteilung und der Unangreifbarkeit der Würde des Individuums nicht vereinbar. Mindestens an dieser Stelle hat der Islam seine Aufklärung und seine Reformation noch vor sich. Hinter dem immer wieder gebrauchten Begriff des »Euro-Islam« verbergen sich genau diese Erwartungen. Nach meinem Dafürhalten wird diese Entwicklung jedoch noch ein bisschen auf sich warten lassen. Die Rückkehr der Türkei zu eher konservativen Glaubenssichten und die Ablösung von Diktaturen durch zum Beispiel die konservative Moslembruderschaft in Ägypten deuten für mich nicht darauf hin, dass in dieser Region der Welt ein demokratischer Schnellzug Fahrt aufnimmt.
Die Betrachtung der weltweiten Entwicklung des Islam ist sicher wichtig, für die Bewältigung unseres Alltags und die Steuerung des Integrationsprozesses aber nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Hier müssen wir uns eher damit auseinandersetzen, wie weit wir den Ausbau von Brückenköpfen fundamentalistischer, ja teilweise fanatischer Glaubensrichtungen unter dem Schutzschirm der kulturellen Identität zulassen wollen und dürfen. Denn dass der Fundamentalismus zweifelsohne nicht nur in Neukölln, sondern berlinweit an Land gewinnt, hat sich nicht zuletzt 2012 bei der Neuwahl des Berliner Landesbeirats für Integrations- und Migrationsfragen gezeigt. Dabei haben sich einige strenggläubige konservative Migrantenorganisationen und Moscheevereine durchgesetzt. Die bislang im Beirat vertretenen nichtreligiösen liberalen Kräfte wurden bis auf eine Ausnahme abserviert. Hinter vorgehaltener Hand wird sogar von Manipulation und Mauschelei geredet.
Der Versuch gesellschaftlicher Landnahme durch Vitalisierung der Dogmen insbesondere im schulischen Alltag erfordert von unseren Schulleitungen enorme Aufmerksamkeit und eine nicht erlahmende Konfliktbereitschaft. Die Streitpunkte sind immer wieder der Biologie- und der Turnunterricht, das Schwimmen, Klassenfahrten, das Tragen von Kopftüchern bei vorpubertären Mädchen (unabhängig davon, wie man zum Kopftuch überhaupt steht). Es geht so weit, dass Erziehungs- und Lehrkräfte keine mit Schweinefleischprodukten belegten Pausenbrote in der Schule oder der Kita essen sollen. Denn wenn sie das tun und sich nicht die Hände waschen, sind sie unrein und beschmutzen beim Anfassen die Kinder. Dass sich kaum noch eine Cafeteria traut, neben schweinefleischfreien auch schweinefleischhaltige Produkte anzubieten, kann da nicht mehr verwundern. Eine Cafeteria, in der Schweinefleischprodukte verarbeitet oder angeboten werden, ist eben nicht halal, sondern haram. Im Extremfall überwachen »Religionswächter« (ältere, körperlich überzeugende Schüler) an der Tür, wer was kauft und isst. Natürlich mit den entsprechenden »beratenden« Hinweisen.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #13 on: November 04, 2012, 09:02:37 am »
Nicht jede Schulleitung findet die Kraft, sich solchen Entwicklungen entgegenzustellen. Das gilt für die Leitung von Kindertagesstätten ebenso. Man muss kein Prophet sein, um zu der Aussage
zu gelangen, dass dieser Kulturkampf auf Dauer nicht zu gewinnen ist. Die Kraft durchzusetzen, dass an einer Grundschule keine Kopftücher getragen werden und nach dem Sport geduscht wird, wohnt nicht jeder Leitung unbegrenzt inne. Es hat sich Resignation in unseren Einrichtungen ausgebreitet. Das hat seine Ursache natürlich auch in dem Umstand, dass wir unsere Lehrkräfte und unsere Erzieher in diesen sehr schwierigen Situationen des Alltags meist völlig allein lassen. Kommt es zu einem Konflikt, so endet er meist mit der Ansage an die Mitarbeiter, dass man mit ein bisschen mehr Kultursensibilität die ganze Aufregung hätte verhindern können. Eine Rektorin sagte mir resigniert: »Ich habe aufgehört, mir trotz 90 % Eltern im Hartz-IV-Bezug über den jeden Morgen vorfahrenden Wagenpark Gedanken zu machen.« Auch kommt es immer wieder vor, dass das Handtuch geworfen und eine Stelle in einem anderen Bezirk gesucht wird.
An dieser Stelle möchte ich über zwei andere bemerkenswerte Gegebenheiten berichten, die gar nicht besonders außergewöhnlich sind.
Bei einer Elternversammlung kam ein türkischstämmiger Vater auf mich zu und berichtete mir, dass er aus Neukölln fortzieht. Ich kannte ihn aus seiner beruflichen Tätigkeit. Auch seine Frau ging einer Erwerbstätigkeit nach. Seine Begründung lautete, dass seine Frau und er ihren Schlaf bräuchten und ihre Leistungsfähigkeit darunter leidet, wenn im Haus jede Nacht die Partys bis in den frühen Morgen gehen.
Bei einem anderen Elternabend unterhalte ich mich mit einem arabischstämmigen Ehepaar, das eine kleine Tochter an der Hand hat. Als ich das Mädchen anspreche, reagiert es nicht. Die Eltern erklären, das Kind könne mich nicht verstehen, weil es kein Deutsch beherrscht. Ich erfrage das Alter und gebe den Rat, dass ein 3-jähriges Kind in den Kindergarten gehört, um Deutsch zu lernen. Die Eltern stimmen mir im Prinzip zu, beklagen aber, dass in ihrer Wohngegend kein Platz frei sei. Ich biete an, einen Platz zu vermitteln, allerdings müssten die Eltern mit dem Autobus, der vor ihrer Haustür hält, etwa vier Stationen zum Kindergarten fahren. Die Eltern lehnen das Angebot höflich mit der Begründung ab, dass der Weg zu weit sei.
Solche Erfahrungen mache ich immer wieder. Ich habe ein nicht erlahmendes Helfersyndrom und empfinde durchaus Freude daran, hin und wieder Schicksal zu spielen. Ich glaube, das ist nicht ungewöhnlich bei Menschen, die in einer vergleichbaren Situation sind und Gelegenheit haben, hier und dort lenkend und problemlösend einzugreifen. Auch unterliege ich immer wieder der Versuchung, lauthals beklagte Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen in der Praxis zu hinterfragen. Ich gehe den Hinweisen von Großeltern und Eltern nach, dass ihre Enkel keinen Ausbildungsplatz bekommen oder dass ihre Tochter oder ihr Sohn am Arbeitsplatz ausgebeutet werden, keinen Urlaub erhalten oder Überstunden ohne Entlohnung leisten müssen. Ich biete meine Hilfe zur Bewältigung von Problemen bei der Einbürgerung an oder bin bereit, ungerechte Einzelfälle prüfen zu lassen.
Ich muss an dieser Stelle aber das Geständnis ablegen, dass es mir bei allen Versuchen, jungen Leuten zu einem Ausbildungsplatz zu verhelfen, beim Schulwechsel auf eine höhere Schule ein gutes Wort einzulegen oder bei einem vorhandenen Arbeitgeber zu intervenieren, nicht ein einziges Mal gelungen ist, meine Bemühungen zum Erfolg zu führen. Immer wieder erwiesen sich angebliche Leistungsbereitschaft oder Interessenbekundungen als hohle Phrasen. Wenn es ernst wurde, taten sich jeweils unüberwindliche Hürden auf, die es unmöglich machten, das Angebot anzunehmen, oder es tauchten plötzlich Gründe auf, weshalb es im Moment gerade äußerst ungelegen kam. Die Hinweise von Oma oder Papa solle ich mal nicht so ernst nehmen, die hätten etwas missverstanden. Den Vorstellungstermin bei einem Unternehmen konnte der junge Mann nicht wahrnehmen, weil er frisch verliebt mit seiner Freundin nach Mallorca fliegen musste. Der vorgetragene Wunsch, einen bestimmten Beruf zu erlernen, relativierte sich durch die Mitteilung des Jobcenters, dass der Betreffende genau jene Ausbildung schon zweimal geschmissen habe. Verabredete Termine wurden, ohne abzusagen, nicht eingehalten, oder ein Strafverfahren erwies sich für unsere gemeinsamen Aktivitäten als hinderlich. Inzwischen bin ich doch schon recht stark
desillusioniert ob der Halbwertszeiten der beklagten Ungerechtigkeiten.
Gerade für junge Menschen scheinen die Verlockungen von Hartz IV eine solch beherrschende Macht zu entwickeln, dass sie zu einer vernünftigen Güterabwägung und zum Denken über den Tag hinaus nicht mehr fähig sind. Wenn man Erfahrungen der vorstehenden Art über Jahre sammelt, kann man einen unendlichen Frust kriegen und jedweden Glauben an das Gute verlieren. Natürlich sind nicht alle jungen Leute so, und mit hoher Gewissheit bilden die Charaktere, die ich beschrieben habe, eine Minderheit. Aber es gibt sie, und es ist – anders als der Regierende Bürgermeister in seinem Büchlein schreibt – keine verschwindend geringe Zahl von Einzelfällen. Nicht selten also beruht das Gefühl des Nicht-geliebt-Werdens, des Ausgestoßenseins schlicht und ergreifend auf persönlicher Unzulänglichkeit. Das mag für das Gewissen einer Gesellschaft beruhigend sein, hilft in der Sache aber nicht weiter. Nichts ist so teuer wie ein nicht in die Gesellschaft integrierter Mensch. Der Reparaturbetrieb kommt die Gemeinschaft von der Alimentation über Schadensregulierung, Opferbetreuung, Justizkosten oder, oder, oder teuer zu stehen. Ein Mensch, der zur Wertschöpfung des Bruttoinlandsproduktes beiträgt und Steuern zahlt, ist für die Gemeinschaft erheblich lukrativer als jemand, der das nicht tut. Egal, wo die Schuld hierfür zu suchen und zu finden ist. Zu dieser rein volkswirtschaftlichen Sicht kommen im Bereich der Einwanderungscommunitys eben noch Belastungsfaktoren wie Randständigkeit, Separatismus und Parallelgesellschaften hinzu.
Es ist eine eigene Welt entstanden. Und sie wird von Tag zu Tag in sich perfekter und geschlossener. Menschen bestimmter Glaubensrichtungen ziehen nach Neukölln, um ihrer Moschee und ihrer Glaubenscommunity nahe zu sein. Sie bilden Netzwerke, die nicht zu unterschätzen sind und die nur einem Zweck dienen: unter sich zu bleiben, die eigenen kulturellen und religiösen Normen zu bewahren, die Kinder vor sündigen Einflüssen zu beschützen und der deutschen Lebensart, den deutschen Lebensregeln und den deutschen Gesetzen auszuweichen. Parallelgesellschaften zeichnen sich nun einmal dadurch aus, dass sie sich abschotten und alle Kraft auf die Binnenintegration und Selbstfindung in der Minderheitenposition verwenden.
Fast alle diese bei der Integration hinderlichen Begleiterscheinungen stehen im engen Zusammenhang mit Bildungsferne. Oft auch noch vermengt mit starker Frömmigkeit, Scheinreligiosität, tradierten Familienriten, überkommenem Hierarchieverhalten, Gewaltakzeptanz und Gehorsamspflichten. All diese Bremsklötze werden aus der spirituellen Metaebene des Glaubens hergeleitet, und damit wird es so gut wie unmöglich, sie in Frage zu stellen. Von mir im Einzelfall erbetene Erklärungen, aus welcher Sure oder welchem Hadith dieses oder jenes Verhalten abzuleiten ist, laufen häufig ins Leere.
Vielfach bestimmen ungeschriebene und überlieferte Verhaltensnormen den Lebensalltag und die Lebensperspektive junger Menschen, im positiven wie im negativen Sinne.
Es beginnt bereits bei den Erziehungsidealen muslimischer Eltern. Jungen werden dazu erzogen, tapfer, mutig und kampfbereit zu sein. Eben Beschützer und Verteidiger der Familienehre. Deswegen laufen schon im Kindesalter Jungen mit Waffen in der Tasche durch die Gegend, immer bereit, »die Ehre meiner Mutter zu verteidigen«. Mädchen werden dazu erzogen, keusch, rein und gehorsam zu sein. Meine Tochter soll eine gute Frau und Mutter werden. Wozu braucht sie da die Schule? So oder so ähnlich lautet eine durchaus gängige Antwort auf die Frage des Sozialarbeiters, warum die Tochter vorige Woche nicht in der Schule war.
Wenn ich mich insbesondere mit jungen Muslimen unterhalte, so möchte ich sie häufig an den Schultern rütteln und sie aufwecken. Ihnen zurufen: »Schau dich um, diese Gesellschaft hält auch für dich einen Platz bereit, nimm ihn ein und ergreife die Chancen, die das Leben dir in diesem Land bietet!« Es sind die Riten der Großväter und der Separatismus ihres sozialen Umfeldes, die sie in einem Zwiespalt aufwachsen lassen, der sie fast zerreißen muss. Die sie umgebende liberale und freie Gesellschaft passt nicht zu den vordemokratischen Strukturen zu Hause. Das gilt ganz besonders für die jungen Frauen. In Kindertagesstätten und Schulen zu selbständig denkenden und
emanzipierten Wesen erzogen, werden sie häufig mit martialischen Mitteln gezwungen, sich in eine Tradition zu fügen, die nicht mehr die ihre ist. Der immer wieder zitierte »Ehren«-Mord an Hatun Sürücü oder der Film Die Fremde sowie die Romane Arabboy und Arabqueen von Güner Y. Balci beschreiben diese uns wohl immer fremd bleibenden Lebenswelten in unserem Land.
Selbstverständlich sind bei so vielen Kulturen, die zu uns gekommen sind, auch weitere Religionen in unseren Alltag eingezogen.
Die Inhaberin meines Lieblings-Chinesen ist Buddhistin. Wenn mich das Hungergefühl ausgerechnet zur Gebetszeit zu ihr führt, ist eine Warteschleife angesagt. Bis sie ihre Zwiesprache beendet hat und die Räucherstäbchen ausgemacht sind, ist nichts mit Ente kross oder scharfen Nudeln. Ich weiß nicht, ob es Sie überrascht, aber es stört mich nicht im Mindesten. Als ich vor einiger Zeit die Anfrage erhielt, ob es möglich sei, in Neukölln einen buddhistischen Gebetsschrein zu errichten, habe ich spontan zugestimmt. Leider ist er noch nicht realisiert. Ich bedaure das ein wenig, denn die Zusammenarbeit und das Miteinander gestalteten sich außerordentlich angenehm und fruchtbringend für den Bezirk. Die Gemeinschaft der Buddhisten führt ein sehr stilles, zurückgezogenes Leben unter uns. In Neukölln war ihr Wirken für die Allgemeinheit dezent und nachhaltig.
Von der Weltöffentlichkeit außerhalb Neuköllns völlig unbeachtet blieb meine Ernennung zum Maharadscha im September 2007. Anlässlich der Unterzeichnung des Pachtvertrages für das Grundstück zum Bau des Tempels für Sri Ganesha wurde mir diese Ehre zuteil. Es war ein wunderbares Ritual in dem sonst eher etwas spröden Rathaus. Der Einzug der Gemeinde mit Musik, Blumen und Früchten in traditionellen Gewändern – das hatte schon etwas. Multikulti kann durchaus schön sein. Leider hatte ich nicht mit der Mentalität der Hindus gerechnet. Als ich ihnen im Jahr 2004 das Angebot unterbreitete, einen Tempel in Neukölln zu bauen und ihnen hierfür ein Grundstück des Bezirks zu verpachten, war ich von der kindlichen Hoffnung ausgegangen, die Einweihung noch während meiner Amtszeit als Bürgermeister zu erleben. Nun, acht Jahre später, weiß ich viel mehr über die rituellen Schritte beim Bau eines Tempels. Ich kenne die Bedeutung der Sternen- und Sonnenkonstellation für die Weihung des Bodens, für die Grundsteinlegung oder auch andere spirituelle Handlungen. Wenn nicht durch ein kurzfristiges Wunder noch ein Tempel in Schnellbauweise in der Neuköllner Hasenheide entstehen sollte, werde ich wohl damit leben müssen, dass ich Sri Ganesha meine Ehrerbietung bei der Eröffnungsfeier nicht mit Amtswürden werde darbringen können.
Doch befinden sich inzwischen zwei hinduistische Tempel bei uns im Entstehen. Neben demjenigen für die indischen Tamilen, über den ich gerade berichtet habe, ein weiterer für die Gemeinde aus Sri Lanka. Beide sind eine willkommene Bereicherung in unserem Neukölln. Sie sind in keinster Weise belastet mit Aufgeregtheiten oder unschönen Emotionen. Mit dem tamilischen Kulturzentrum verbindet uns seit vielen Jahren eine freundschaftliche Beziehung. Die tamilischen Kinder sind häufig die Referenzschüler in ihren Schulen. Für mich steht das Pongalfest (Erntedank) auf Augenhöhe mit zum Beispiel dem Zuckerfest. Wie harmonisch das Zusammenleben mit diesen für uns doch eher exotisch anmutenden Glaubensrichtungen sein kann, zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der eine evangelische Pfarrerin bei der Grundsteinlegung für einen der Hindutempel teilnahm und ihre Glück- und Segenswünsche überreichte.
Die Gemeinsamkeiten mit den Tamilen, ob bei Festen, traditionellen Daten oder in den Schulen, sind geprägt von schlichter Natürlichkeit. Nur die Namen sind für eine europäische Zunge eine echte Herausforderung. Außer der Ausbildung ihrer Kinder geht nichts preußisch zu. Bei der Wahrung der Zukunftschancen ihrer Kinder verstehen sie keinen Spaß. Aber ansonsten ist die tamilische Lebenssicht eher eine mediterrane. Dies ist ein Beweis dafür, dass auch völlig unterschiedliche Kulturen und Religionen friedlich und harmonisch miteinander leben können, ohne dass es andauernd Stress gibt. Es kommt wohl doch auf den Grundkonsens an, dass nicht die eigene Würde und der Respekt vor ihr ständig im Mittelpunkt stehen und eingefordert werden, sondern dass
man sie zuallererst dem anderen entgegenbringt.
Islamophobie und Überfremdungsangst
Man braucht nicht lange um den heißen Brei herumzureden: Der übergroßen Zahl der Menschen in Deutschland geht wie mir die nicht enden wollende Debatte über den Islam auf die Nerven, oder sie ist den Menschen schlicht und ergreifend völlig egal. Eigentlich ist das gar keine so schlechte Grundlage für eine friedliche Koexistenz. Wenn da nicht das Fernsehen und die anderen Medien wären. Jeden Tag bringen sie die Bilder kriegerischer Auseinandersetzungen, von Attentaten oder von irgendwelchem paranoiden Beleidigtsein in unsere Wohnzimmer. Die ständige Berieselung mit einem Thema, zumal wenn es mit Greueln, Not und Leid verbunden ist, verändert die Sichtweise von Menschen. Sie bekommen Angst. Der Islam ist derzeit ohne jeden Zweifel die Religion mit den fanatischsten Anhängern und Abzweigungen. Eine Religion, die anderen Menschen jeden Tag in Form von Gewalttaten begegnet, darf sich nicht wundern, wenn sie nicht spontan mit Frieden und Liebe gleichgesetzt wird.
Solange sich die Berichte auf Regionen der Welt beziehen, die weit entfernt sind, so weit, dass die Menschen das Gefühl haben, sie seien nicht persönlich davon betroffen, solange bleibt es bei einem hilflosen Schulterzucken. Empfinden die Menschen aber die Bedrohung für sich selbst, dann weckt es ihre Emotionalität. Die Steinigung von Menschen in Pakistan, weil sie unverheiratet miteinander Kaffee getrunken haben oder auch die Ehe brachen, führt in unseren Breitengraden zu Kopfschütteln über das wohl doch noch existente Mittelalter. Die Attentate des 11. September 2001 waren zwar auch weit weg, aber aufgrund der Nähe Deutschlands zu den USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs löste 9/11 doch schon eine sehr viel stärkere Anteilnahme aus. Die Frage, ob der Iran tatsächlich an der Atombombe bastelt, um das Existenzrecht Israels final zu beantworten, oder ob Israel dem durch einen Präventivschlag zuvorkommen sollte, wird dann schon eher zum Gesprächsstoff in den Wohnzimmern. So wie die Fernsehbilder mit den Särgen der Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan oder die Nachrichten über Terroristengruppen und Anschlagsversuche bei uns im Land.
All diese Dinge begleiten uns seit Jahren. Anschläge auf Botschaften, die Ermordung von Theo van Gogh, das Bombenattentat auf die Passagiermaschine über Lockerbie oder inszenierte Massendemonstrationen und Krawalle in Afrika, weil in Dänemark Karikaturen in einer Zeitung abgedruckt wurden. (Ich wusste bis dahin gar nicht, welche Verbreitung dänische Medien auf der Welt haben – bis in die Orte, in denen man weder sie noch überhaupt etwas lesen kann.) Und über allem schweben dann noch die permanenten Botschaften eines Terrornetzwerkes al-Qaida, das die nicht-muslimische Welt mit Tod und Krieg bedroht.
Die genannten Beispiele spiegeln nur einen kleinen Ausschnitt wider. Ich will mich mit keiner der einzelnen Begebenheiten inhaltlich weiter befassen, sondern eigentlich nur die Frage aufwerfen, ob die fast täglichen Gewaltmeldungen nicht zwangsläufig bereits zur inneren Abwehr bei anderen Menschen führen müssen. Der Islam wirkt in der heutigen Zeit alles andere als vertrauenstiftend. Natürlich weiß ich, dass eine Religion missbraucht werden kann und nicht für alle Dinge verantwortlich zu machen ist, die in ihrem Namen geschehen. Aber die Reinwaschformel »der und der Attentäter war ein Verbrecher oder Geisteskranker, er kann gar kein Moslem gewesen sein, weil der Islam eine Religion des Friedens ist«, ist ein bisschen flach. Sie steht auch im Widerspruch zum Anwerben durch Repräsentanten oder in Moscheen sowie zur Ausbildung von Menschen als Mujahid und der Verheißung des ewigen Lebens im Paradies nach dem Tod als Märtyrer. Um angstbelastete Dinge macht man für gewöhnlich einen weiten Bogen. Deswegen wehren sich Bürger, wenn in ihrer Nähe eine Moschee gebaut werden soll. Ich bin ganz sicher, dass in den meisten Fällen die Menschen keine Angst vor der Moschee und dem Islam haben, sondern vor den Islamisten, die dann dort vielleicht ein- und ausgehen. Entscheidend ist nicht das Gotteshaus, sondern das, was in seinem Inneren im Namen der Religion geschieht oder wofür es missbraucht wird.

KarlMartell

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Re: Neukoelln ist ueberall
« Reply #14 on: November 04, 2012, 09:05:00 am »
Der katholische Pfarrer Franz Meurer, »alternativer Ehrenbürger« der Stadt Köln, hat einmal zu mir gesagt: »Wenn du willst, dass ein guter Mensch Böses tut, so führe ihn zur Religion.« Auf meine erstaunte Nachfrage, wie ich diese Botschaft aus dem Mund eines katholischen Priesters zu verstehen habe, erklärte er mir, dass Religion ein schwerer Stoff sei. In falsche Hände gelegt, führe er nicht zu Frieden und Erlösung, sondern zu Fanatismus und Verirrung des Geistes.
Die Menschen suchen Abstand zu solchen Dingen. Sie fragen sich, warum man plötzlich von ihnen verlangt, den Islam zu verstehen, ihn zu akzeptieren und zu tolerieren. Sie sagen: Wir leben in Deutschland, was habe ich hier mit dem Islam zu tun? Warum muss ich mich mit ihm auseinandersetzen? Ich will das nicht, und er soll mir nicht zu nahe kommen. Nur so erklärt sich auch der Proteststurm auf die zitierte, semantisch eigentlich recht sorgfältig ausformulierte und dennoch emotional fehlleitende Bemerkung des ehemaligen Bundespräsidenten.
Die Menschen wehren sich gegen eine Vereinnahmung, die sie nicht wollen und die sie aus einem inneren Unbehagen heraus zurückweisen. Muslime müssen lernen, damit umzugehen und zu akzeptieren, dass andere Menschen ihren Glauben ablehnen und mit ihm nichts zu tun haben wollen. So ist die Ablehnung der Minarette in der Schweiz zu verstehen, die die stärkste Zustimmung in den Gebieten erhielt, in denen die wenigsten Muslime leben. Auch in Brandenburg gibt es ein sehr starkes Ablehnungsverhalten gegenüber Einwanderern, obwohl deren Anteil an der Gesamtbevölkerung dort nur bei 6 % liegt. Also, je ferner die vermeintliche Bedrohung ist, desto nachhaltiger ist der Wunsch, sie von sich fernzuhalten. Ich bin recht sicher, dass eine Umfrage in Neukölln unter Nichtmuslimen nun nicht unbedingt berauschende, begeisterte Zustimmungsraten zum Islam hervorbringen würde, aber durchaus eine abgewogene und von einer Portion Gelassenheit geprägte Resonanz hätte. Ich lese das auch aus den Wahlergebnissen bei uns ab. Dort, wo der Anteil der Einwanderer an der Gesamtbevölkerung sehr niedrig ist, sind die Stimmergebnisse für rechtsextremistische Parteien am höchsten. In Neukölln hatten die Rechtsextremen 1989 bei den Wahlen 16 000 Stimmen. 22 Jahre später entfielen trotz massiver Zunahme soziologischer und sozialer Problemlagen auf den rechten Rand noch 3500 Stimmen.
Ich will mit diesen Hinweisen weder etwas gutheißen noch pfeifend durch den Wald gehen, indem ich alle Schuld einer oft und gern zitierten hinterweltlicheren Landbevölkerung in die Schuhe schiebe. Weil sie es nicht besser verstehe, rückständig sei und Städter sowieso schlauer. Diese Erklärung geht flott von den Lippen, ist aus meiner Sicht aber zu einfach. Wie sagte schon Albert Einstein: »Für jedes noch so komplexe Problem gibt es eine ganz einfache Lösung. Und die ist meistens falsch.« Ich glaube, wenn es in Deutschland eine Volksabstimmung über Minarette gäbe, würde das Ergebnis ähnlich ausfallen wie in der Schweiz. Es ist gut, dass sie bei uns nicht möglich ist, denn würde uns eine solche Situation im Integrationsprozess weiterbringen? Das Verbot von Gotteshäusern war noch nie friedensstiftend. Es sitzt für immer wie ein Stachel im Fleisch der Gläubigen und fordert Vergeltung. Es gibt einfach Themen, die eignen sich nicht fürs Plebiszit. Wie zum Beispiel eine Abstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe für Kindermörder nach einer gerade geschehenen brutalen Tat.
Wofür sich solche Fragen aber auch nicht eignen, ist zur Beschimpfung der Bürger, zum Wegtauchen und zum wirklichkeitsverweigernden Schönreden der Probleme. Doch genau in diese Richtung bewegt sich unsere Gesellschaft seit einiger Zeit. Wer öffentlich sagt, dass er mit dem Islam nichts am Hut hat, ist islamophob. Wenn er Pech hat und auf einen besonders engagierten Kämpfer der internationalen Solidarität stößt, avanciert er vielleicht sogar zum Rassisten oder Neonazi. Das Mundtotmachen in der Öffentlichkeit mag gelingen, es initiiert jedoch keinen Prozess des Verstehens oder der Annäherung. Wer die Ängste der Bevölkerung nicht mehr aufnimmt, wer das Gespür verloren hat, Sorgen und Gefühle zu verstehen, und wer Politik betreibt nach dem Motto »Es kann nicht sein, was nicht sein darf«, der wird irgendwann eine Überraschung erleben.
Nur anreißen will ich in diesem Zusammenhang, dass der Umgang mit Thilo Sarrazin und seinem Buch Deutschland schafft sich ab von mir als eine kaum zu überbietende, semiprofessionelle
politische Fehlleistung bewertet wird. Die Kanzlerin, der Staatspräsident und sonst mit einem untadeligen Ruf versehene Journalisten hyperventilierten alle mit Schaum vor dem Mund. Meine Partei, die der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, hielt es sogar für angezeigt, ihn rausschmeißen zu wollen. Ich hätte da den Ratschlag gegeben, sich an die Regel des alten preußischen Generalstabs zu erinnern: Vor jeder wichtigen Entscheidung eine Nacht schlafen. Damit hätte sich die SPD diese jämmerliche Blamage des Einknickens im Ausschlussverfahren erspart. Statt sich mit ihm inhaltlich auseinanderzusetzen, hat man ihn zur Persona non grata erklärt und geglaubt, damit der Diskussion und dem Thema zu entgehen. Jeder einzelne Buchkauf war somit eine recht unerfreuliche Antwort auf diese Drückebergerei.
Damit wir uns nicht falsch verstehen. Ich will Thilo Sarrazin keinen Heiligenschein umhängen. Ich finde einen Großteil seiner Ableitungen falsch und daneben. Ich finde auch seine undifferenzierte Einseitigkeit und seine Perspektivlosigkeit kritisierenswert. Seine Wortwahl ist mitunter recht verletzend. Aber deshalb kann sich die etablierte Politik nicht einfach der Themen verweigern, die der Bevölkerung erkennbar wichtig sind. Damit treibt sie die Menschen in die Arme der Radikalen. Gerade Volksparteien müssen offen sein auch für einen schmerzhaften Diskurs. Ideologisierter Hinterzimmer-Seminarismus entfernt die Politik von den Menschen. Oder einfacher ausgedrückt: Volksparteien müssen aufpassen, dass ihnen nicht das Volk abhanden kommt.
Ein freies Land ist die Summe freier Bürger, und die Grundlage der Freiheit des Einzelnen ist die Freiheit seines Geistes. Das ist eigentlich ein Sprechblasensatz von der Metaebene. Und doch scheint er im praktischen Leben so schwer zu verwirklichen zu sein. Wenn man einen unbequemen Autor nicht über einen öffentlichen Wochenmarkt gehen lässt, wenn man einem Lokalinhaber für den Fall, dass er den Autor bedient, mit Gewalt gegen sein Lokal droht, und wenn die alevitische Gemeinde so eingeschüchtert wird, dass sie sich nicht mehr traut, ein Gespräch mit ihm zu führen, und wenn das dann auch noch durch Abgeordnete der GRÜNEN als Augenmaß und ein Akt der politischen Reife bezeichnet wird, dann ist es höchste Zeit, darüber nachzudenken, für wen der Freiheitsbegriff in diesem Land überhaupt noch gilt und wer das Zertifikat »freiheitsbefugt« ausstellt. Diese Frage stellt sich die renommierte Wissenschaftlerin und Autorin Necla Kelek seit ihrem Redeverbot in der Friedrich-Ebert-Stiftung genauso wie die Fernsehjournalistin Güner Balci.
Im SPD-Umfeld sind kritische Positionen zur Integrationspolitik oder zum Islam ebenfalls nicht wohlgelitten. Aber auch im Innern ist es gesünder, stromlinienförmig zu sein und nicht anzuecken. Ich habe meine Erfahrungen gemacht. Und auch der Politikwissenschaftler und Islamexperte Dr. Johannes Kandel kann ein Lied davon singen, wie man in der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung mit ihm verfuhr. Die Kritik an ihm zeigte sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nie offen. Er wurde verdächtigt, »antiislamische« Thesen zu vertreten. Man nahm ihm übel, dass er Hamas und Hisbollah als »terroristische Organisationen« bezeichnete. Auch war es nicht opportun, die Soziologin und populäre Autorin sowie Sophie-Scholl-Preisträgerin Necla Kelek gegen Angriffe aus Kreisen von »Migrationsforschern« in Schutz zu nehmen. Unverzeihlich scheint auch eine Einladung des streitbaren Henryk M. Broder (zusammen mit Hamed Abdel-Samad) in die Friedrich-Ebert-Stiftung gewesen zu sein, der offenbar für manche Sozialdemokraten ebenfalls eine Persona non grata ist. Kandels Positionen, die er auch in seinem Buch Islamismus in Deutschland formulierte, fanden gleichwohl in weiten Teilen der Sozialdemokratie positiven Widerhall.
»Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden«, lautet wohl eins der berühmtesten Zitate in diesem Zusammenhang (R. Luxemburg). Irgendwie erinnert mich dieser Satz an das ständige Einfordern von Respekt für die eigene Person immer von denjenigen, die jedoch mitnichten bereit sind, anderen Respekt zu zollen.
Als ich zur Hochzeit der Sarrazin-Debatte bei der angesehenen Comenius-Gesellschaft in Darmstadt einen Vortrag vor 250 ehrwürdigen Geisteswissenschaftlern hielt, war dieses Thema unausweichlich. Der übereinstimmende Ratschlag, der mir mit auf den Weg gegeben wurde, war der, »es geht nicht darum, ob Thesen richtig sind, sondern es geht darum, ob man sie äußern darf«.
Von der Reaktion der Wähler als Folge von Lebenslügen in der Integration haben einige andere europäische Länder bereits eine Prise genommen. Von Finnland bis Ungarn, über Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Frankreich und Österreich zieht sich der Gürtel der zweistelligen Wahlergebnisse der Rechtspopulisten. Heißt das denn, dass der Faschismus mit Riesenschritten in Europa hoffähig wird? Aus meiner Sicht keineswegs. Es handelt sich um eine Reaktion der Menschen auf Entwicklungen in ihrem Land, die sie als nicht positiv empfinden. Im Zusammenhang mit dem Thema »Zuwanderung« bezeichnet man dies wohl zu Recht als Überfremdungsangst. Fremdes macht Menschen immer Angst. Ungewohnte Bräuche, unverständliche Kulturen, anderes Aussehen, abweichendes Verhalten, all das wird mit Argwohn beobachtet. Überall. Manchmal ist das direkt unterhaltend. In der Schweiz betrachtet man die Deutschen mit Skepsis. Überfremdungsängste sind latent immer und überall da vorhanden, wo Bewegung in der Bevölkerungsstruktur herrscht. Auch wenn ein statistisch relevanter Anteil von Berlinern nach Baden oder Württemberg ziehen würde, würde dies dort mit Sicherheit zu Argwohn führen. Insofern halte ich es für völlig falsch, diesem Phänomen mit Nichtbeachtung zu begegnen. Im Gegenteil, Politik muss Überfremdungsängste offensiv bekämpfen. Dies gelingt nicht durch die derzeit verabreichten Placebos. Der eine lautet: Das ist alles nur gefühlt, deine Ängste sind völlig unberechtigt. Und der zweite kommt mit der Moralkeule: Du musst dich bemühen, ein besserer Mensch zu werden, du denkst rassistisch. Falls die beiden nicht gewirkt haben, kommt das Totschlagargument: Es ist alles eine kulturelle Bereicherung.
Diesen Politikrezepten ist eines gemein: Sie verleugnen die Realitäten. Sie verschweigen Erlebnisse, die die Haltung der Menschen prägen. Also das, was sich gestern in Bahn oder Bus ereignet hat, der Bericht der Tochter oder des Sohnes aus der Schule oder vom Schulweg, die Anpöbelei aus dem Autofenster, die ständige und permanente Bedrohung durch Gewalt im Alltag, Kriminalität und Verwahrlosung im Wohngebiet. All diese Dinge, die wir kleinreden oder deren Existenz wir leugnen, führen zu der Feststellung: Das muss ich nicht haben.
Woher kommt jene fast perfekte Verdrängung? Eine Ursache ist sicher, dass die, die über solche Ängste reden oder in den Entscheidungsebenen sitzen, noch nie in einem sozialen Brennpunkt gewohnt haben. Vielleicht haben sie dort einmal eine Wahlkampfveranstaltung besucht oder sind mit dem Bus durchgefahren. Den Alltag der vom Balkon fliegenden Mülltüten, der durchzechten Nächte und des schwindenden Wohlfühlfaktors, den kennen sie nicht. Sie würden ihn auch keine vier Wochen durchhalten. Meine Frau sagt immer, wenn jeder Politiker verpflichtet wäre, jeden Monat einmal mit der U-Bahn quer durch Berlin zu fahren, dann würde die Politik in der Stadt anders aussehen.
Fragt man einen Polizisten nach den Risikofaktoren der Kriminalität in Einwandererstadtteilen, so erhalten Sie stets die Antwort: Jung, männlich, Migrant. Was auf den ersten Blick als Vorurteil und pauschale Kriminalisierung bestimmter Bewohnergruppen aussieht, ist durchaus statistisch belegbar. Doch dazu später.
Es geht mir an dieser Stelle mehr um die alltägliche Ohnmacht in einer Welt, in der man durch den Supermarkt zieht, Waren nimmt, an der Kasse ohne zu bezahlen vorbeimarschiert und der Kassiererin klarmacht, was ihr droht, wenn sie die Polizei holt. Dort, wo man zu fünft nebeneinander über den Bürgersteig geht und alle anderen ausweichen müssen. Dort, wo an der roten Ampel möglichst alle stur geradeaus schauen, um nicht von den Streetfightern aus dem Wagen nebenan angepöbelt und gefragt zu werden: »Hast du Problem? Könn’ wir gleich lösen!« Da, wo kleineren Kindern von größeren Jugendlichen ein Wegezoll oder eine Benutzungsgebühr für das Klettergerüst abverlangt wird. Wo junge Frauen gefragt werden, ob sie einen Befruchtungsvorgang wünschen. Wo man dem Busfahrer die Cola über den Kopf schüttet, wenn er nach dem Fahrschein fragt. Wo man den Zeitungskiosk überfällt und anderen ihre Sachen wegnimmt. Das alles macht einfach nur schlechte Laune. Schon beim Lesen. Übrigens nicht nur in diesem Buch, sondern täglich in der Zeitung. Auch den Menschen, die noch nie selbst Opfer einer solchen Situation waren,
suggeriert die tägliche Berichterstattung, dass es in ihrer Wohngegend jetzt so üblich ist.
Es ist die entscheidende Stelle, an der sich der Weg gabelt. Ob die Menschen Vertrauen in die verändernde Kraft der Politik setzen oder ob sie sich abwenden und ihrer Erfahrungswelt durch Wegzug entfliehen. Solange wir eine Politik des Alles-Verstehens und des Alles-Verzeihens betreiben und den Menschen signalisieren, dass wir gar nicht daran denken, die Verhältnisse zu ändern, weil diese Verwahrlosung der Sitten zur kulturellen Identität und zur Weltoffenheit gehören, solange werden wir für eine wirklich erfolgreiche Integrationspolitik nur verhalten Mitstreiter finden.
Wie indiskutabel und primitiv das Verhalten im Umgang miteinander sein kann, dokumentiert das Schreiben einer Pfarrerin an ihre Gemeindemitglieder in einem sozialen Brennpunkt. Ich bin ihr ausdrücklich dankbar, dass sie mir gestattet hat, ihren Brief hier abzudrucken. Es ist ein starker Beleg dafür, welchen Belastungen Menschen ausgesetzt sind und welche Stärke sie entwickeln müssen, um nicht alles hinzuschmeißen.
Herbst 2008»Liebe Nachbarn,ich will Euch von einem wahrhaft interkulturellen Sonntag erzählen:Er begann mit einem Familiengottesdienst zum Beginn des Schuljahres. Motto: ›Du bist wie eine Schatzkiste – entdecke, was in dir ist.‹ Mit diesem Zuspruch bin ich zum Ganesha-Fest der Hindus in der Hasenheide gereist. Hier war mit allen Sinnen zu erleben, welche Schätze die Kulturen, die in Neukölln lebendig sind, enthalten: bunte Gaben, orientalische Düfte, ungewohnte Klänge, schmackhafte Speisen, schön gekleidete Menschen und respektvoller Umgang!Welch ein Gegensatz, als ich nach einem Geburtstagsbesuch wieder nach Hause kam: Eine Gruppe vermutlich arabischer Jugendlicher treibt sich auf dem Gang an der Parkpalette am Gemeindehaus herum. Einer pinkelt gerade über die Brüstung ans Haus. Darauf angesprochen, ob er sich nicht schäme, streckt mir ein anderer das nackte Hinterteil entgegen. Ein dritter zeigt mir den ›Stinkefinger‹, nennt mich eine ›Schlampe‹.Ich frage Euch, Jungs: Habt Ihr keine Würde? Wer hat Euch erzogen? Hat Euch nicht auch eine Frau zur Welt gebracht? Was würdet Ihr tun, wenn es jemand wagen würde, sie so zu behandeln? Was ist passiert, dass Ihr so widerlich geworden seid? Oder vielleicht besser: Was ist nicht passiert? Ihr müsst wissen, dass Euch so niemand haben will – niemand. Seid Ihr so dumm, dass Ihr das nicht begreift? Warum zerstört Ihr Euer eigenes Leben? Seid Ihr Muslime? Dann möchte ich Euren Imam bitten, seinen Einfluss geltend zu machen, um Euch die Schätze Eurer Religion aufzuschließen und Euch aus der Falle der totalen Kulturlosigkeit zu locken.Es gibt ein Benehmen, das auch in Nord-Neukölln unter keinen Umständen zu dulden ist. Verständnis ist hier fehl am Platz. Ich bitte Euch, Nachbarn: Können wir gemeinsam etwas gegen den Verlust an gegenseitigem Respekt ausrichten, ganz gleich, von wem er ausgeht? Ich lebe noch nicht lange genug hier, um nicht immer wieder geschockt zu sein von Erlebnissen wie dem heutigen. Ich gestehe, dass ich oft vorbeigehe, Augen, Ohren, Nase und Türen einfach zumache und nichts sage. Aber das kann doch keine Lösung sein … Zu wissen, dass die heutige Begebenheit nur ein kleines Beispiel für ein viel größeres Problem ist, macht die Sache nicht leichter.Es ist keine Frage der Herkunft – ich kenne viele Araber, die kultiviert, respektvoll und liebenswert sind, und Menschen anderer Nationalität – auch Deutsche –, die sich ebenso wenig zu benehmen wissen wie die Jungs von der Parkpalette. Was immer die Ursachen dafür sind – Erziehung, Geschlecht, Alter, sozialer Status –, wir sollten gemeinsam Wege suchen, unsere Ansprüche an ein kultiviertes Zusammenleben durchzusetzen.« Nein, es ist nicht die Feindlichkeit gegenüber Fremden, die die Menschen in verharrender Distanz hält. Es ist oft nicht einmal eine konkrete Angstsituation. Es ist eigentlich mehr das Klima und die Atmosphäre, mit denen erkennbar einheimischen Menschen begegnet wird. Meist sind es die älteren, die unter diesem Revierverhalten leiden müssen, oder ganz junge, denen man zeigt, wer das Sagen hat. Dieses ständige demonstrative Nichtbeachten von Umgangsformen wie Höflichkeit oder Rücksichtnahme, der einfachsten Regeln, wie man sich in der Öffentlichkeit gegenüber anderen benimmt. Das ist es, was die Leute fragen lässt: Wo bin ich denn hier eigentlich? Ist das noch meine Stadt, meine Heimat? Gerade die Alten berichten mir immer wieder über
Demütigungen, die sie erfahren. Wie sie verlacht, angebrüllt, ja sogar geschubst und bespuckt werden. Deswegen kommen viele irgendwann zu dem Schluss: Ich mag diese Menschen nicht. Sie wollen mit mir nicht leben, dann will ich es mit ihnen auch nicht.