Erst die Westkirche veränderte die theologisch-politische Situation: als Papst Urban II. 1095 zum ersten Kreuzzug aufrief, versprach er den christlichen Kriegern den Erlaß der Sünden: Gefallene Kreuzeskrieger umgingen demnach das göttliche Gericht; sie wurden insofern den Märtyrern gleichgestellt, obschon ihnen dieser Name verwehrt blieb. Der Papst als Oberhaupt einer monarchisch organisierten Kirche tat genau das, was ein Konzil östlicher Bischöfe nicht vermochte: Er verfügte über das Heil. Die Papstkirche konnte nun ebensolche „Heiligen Kriege“ führen, wie der Islam es seit Jahrhunderten zu tun pflegte. Worin unterscheiden sich dann Kreuzzüge und Dschihad? Kreuzzüge konnte allein der Papst ausrufen; daher blieben sie sehr selten - verglichen mit den unzähligen, unaufhörlichen und ubiquitären Dschihads der islamischen Welt.
Und die Ziele von Kreuzzügen blieben genau begrenzt; im November 1095 nannte Urban II. in Clermont Grund und Ziel des Kreuzzuges: „Es ist unabweislich, unseren Brüdern im Orient eiligst Hilfe zu bringen. Die Türken und die Araber haben sie angegriffen und sind in das Gebiet von Romanien (Konstantinopel) vorgestoßen; und indem sie immer tiefer eindrangen in das Land dieser Christen, haben sie diese siebenmal in der Schlacht besiegt, haben eine große Anzahl von ihnen getötet und gefangengenommen. Wenn ihr ihnen jetzt keinen Widerstand entgegensetzt, so werden die treuen Diener Gottes im Orient ihrem Ansturm nicht länger gewachsen sein.“ Die ersten Kreuzzüge bezweckten, entweder bedrängten Christen zu Hilfe zu kommen oder die Heiligen Stätten in Palästina zu befreien oder von den Muslimen unterworfene Christen zu befreien. Dagegen hielten die muslimischen Rechtsgelehrten immer am Endziel fest, das „Haus des Krieges“ zu erobern und alle Ungläubigen zu unterwerfen.
Urban II. sah richtig. Wäre Konstantinopel schon 1100 gefallen, dann hätte die enorme militärische Kraft der türkischen Heere Mitteleuropa vierhundert Jahre früher heimgesucht. Dann wäre die vielfältige europäische Kultur wahrscheinlich nicht entstanden: keine freien städtischen Verfassungen, keine Verfassungsdebatten, keine Kathedralen, keine Renaissance, kein Aufschwung der Wissenschaften; denn im islamischen Raum entschwand das freie - griechische! - Denken eben in jener Epoche. Jacob Burckhardts Urteil - „Ein Glück, daß Europa sich im ganzen des Islams erwehrte“ - heißt eben auch, daß wir den Kreuzzügen ähnlich viel verdanken wie den griechischen Abwehrsiegen gegen die Perser.
Indes, wurden Kreuzzüge nicht häufig mißbraucht? Gewiß. Kreuzzüge „entgleisten“ und wurden „zweckentfremdet“, wie etwa jener, der 1204 zur Eroberung des christlichen Konstantinopel führte. Doch das passierte mit Dschihads weitaus häufiger. Wenn die Sklaven knapp wurden, führten Emire nicht nur Dschihads gegen nichtmuslimische Völker, welche zu versklaven geboten war, sondern immer häufiger auch gegen islamisierte Völker, unter dem Vorwand, es seien keine wahren Muslime. Das geschah vorwiegend in Afrika und gegen Schwarzafrikaner, so, als zuerst Songhay 1468, dann die Marokkaner 1552 Mali überfielen, so auch, als seit dem achtzehnten Jahrhundert religiöse Reformer im Sahel ihre Dschihads gegen die muslimisierten Haussa-Städte führten, woraus das Kalifat Sokoto entstand - mit der drittgrößten Sklavenmenge nach Brasilien und den amerikanischen Südstaaten. An den Folgen dieser immer weiter gehenden Dschihads mit ihren Genoziden und Massenversklavungen leidet Afrika bis heute.
Indes, für welche politische Ordnung führten die Muslime ihre Heiligen Kriege mit dieser Vehemenz und diesem Erfolg? Für die Scharia. Eine politische Ordnung, die erstens Herren und Unterworfene streng absondert, zweitens die politische und soziale Ordnung der menschlichen Verfügung weitgehend entzieht. Bleiben wir beim ersten Aspekt: In der Scharia sind die Muslime die Herren, die Anhänger anderer Buchreligionen - Christen, Juden, Parsen, Buddhisten - Unterworfene, „Dhimmi“; dabei handelte es sich nicht um religiöse Minderheiten, sondern um gewaltige Mehrheiten, vor allem in Syrien, in Anatolien, oder um die Christen Nordafrikas.
Die Unterworfenen durften keine Waffen tragen, sie waren wehrunfähig, somit keine vollwertigen Männer. Christen und Juden mußten besondere Farben oder Kleidungsstücke tragen (diese Diskriminierung führte zum Judenstern), um als „Dhimmi“ kenntlich zu sein; sie durften nicht auf Pferden reiten, sondern nur auf Eseln, damit sie ständig an ihre Erniedrigung erinnert wurden; sie zahlten einen Tribut (Jizya), den sie persönlich entrichteten, wobei sie einen Schlag an den Kopf erhielten. Sie mußten sich von Muslimen schlagen lassen, ohne sich wehren zu dürfen; schlug ein „Dhimmi“ zurück, dann wurde ihm die Hand abgehackt, oder er wurde hingerichtet. Die Zeugenaussage eines „Dhimmi“ galt nicht gegen Muslime; diese brauchten für Vergehen an einem „Dhimmi“ nur halbe Strafe zu tragen; und wegen eines solchen Unterworfenen konnten sie nie hingerichtet werden. Umgekehrt waren grausamste Hinrichtungsarten überwiegend den „Dhimmi“ vorbehalten.
Sogar jene Diskriminierung der Juden, zu der vierhundert Jahre nach dem Islam die Westkirche auf dem IV. Laterankonzil von 1215 schritt und die uns so barbarisch anmutet, bezweckte und erreichte keine Erniedrigung dieses Ausmaßes. Eine besondere Drangsalierung brachte die türkische Herrschaft: seit 1360 wurde in unregelmäßigen Abständen bis zu einem Fünftel aller christlichen Kinder in die Sklaverei abgeführt. Sie wurden zwangsbekehrt.
Diese Sklavenmenge dürfte im Laufe von vier Jahrhunderten in die Millionen gegangen sein; davon wurden Hunderttausende ausgewählter Knaben zu fanatischen Muslimen und zu Elitekämpfern erzogen, zu den berüchtigten Janitscharen: eine Politik zur systematischen Vermehrung der muslimischen Bevölkerung und zur allmählichen Auslöschung der Christen. Sie hatte Erfolg. Die „Dhimmitude“ versetzte die Nichtmuslime in eine radikale Andersheit: Die Menschen in diesem Zustand als „Bürger zweiter Klasse“ zu bezeichnen ist Schönrednerei. Wie der Nationalsozialismus die Menschen in Herren- und Untermenschen auf rassischer Basis spaltete, so hat es die Scharia auf religiöser Basis getan. Als erste Weltreligion schuf der Islam eine Apartheid, in der die christlichen oder auch parsischen Mehrheiten kolonisiert und allmählich islamisiert wurden. Islamische Toleranz hieß: Duldung der Unterworfenen als Gedemütigte und Erniedrigte. All das ist durch Studien zur „Dhimmitude“ bekannt. Aber wer will von den millionenfachen Opfern hören?
Der Islam hat riesige Territorien religiös „gesäubert“: der zweite Kalif machte den Hidjaz, also Arabien außer dem Jemen, „christenrein“ und „judenrein“; die Alternative hieß Konversion oder Vertreibung. Das hat - von alttestamentlichen Fällen abgesehen - niemals zuvor eine Religion gemacht. Ebenso „reinigten“ die Almohaden und Almoraviden ihr Spanien nach dem Zusammenbruch des Kalifats 1031: Zehntausende Juden wie Christen mußten entweder konvertieren oder ins christliche Nordspanien oder in die Levante fliehen. Gewiß, englische und französische Könige und dann die Könige Spaniens selber taten später das gleiche; sie wandten dabei ein muslimisches Rezept an.
Und die Pogrome? Seit dem Kalifen Al-Mutawakkil (847 bis 861) schwappten immer wieder Verfolgungen über den Orient und Nordafrika, wobei Juden und Christen zwangsbekehrt, vertrieben oder massakriert wurden. Die ständige Zerstörung von Kirchen ging bis ins vorletzte Jahrhundert weiter. Allmählich zerlaufen auf dem verklärten Bild des muslimischen Spanien, welches der europäische Antiimperialismus im neunzehnten Jahrhundert geschaffen hat, die blumigen Farben. Sorgfältige Aufarbeitung der Dokumente bringen darunter ein anderes Bild zum Vorschein. Dort kam es 889 in Elvira und 891 in Sevilla zu umfassenden Pogromen gegen Christen. Im marokkanischen Fez wurden 1033 über 6000 Juden massakriert. 1058 wurde das christliche Antiochia unter Folter und Todesdrohungen muslimisch gemacht.
Das erste große Pogrom gegen Juden auf europäischem Boden fand 1066 im muslimischen Granada statt; dabei kamen 1500 jüdische Familien um. 1135 wurde das Judenviertel Córdobas niedergebrannt, die Zahl der Massakrierten nicht zu wissen mag heilsam sein. 1159 standen sämtliche Christen von Tunis vor der Wahl, zu konvertieren oder zu sterben. Um diese Zeit wurde das ehemals so vitale Christentum Nordafrikas vollends vernichtet. Die Pogrome im christlichen Herrschaftsgebiet sind kein Ruhmesblatt der europäischen Kultur; aber ihre Ausmaße bleiben zurück hinter jenen der islamischen Welt. Wir brauchen dringend eine vergleichende Geschichte religiöser Unterjochung.
Reden wir von Integration der Juden? Nirgendwo unter der Herrschaft des Islam, und auch nicht im spanischen Kalifat, waren Juden Bürger ihrer Stadt; sie blieben stets Unterworfene. In manchen deutschen Städten - Worms, Augsburg und anderen - des Hochmittelalters waren die Juden Stadtbürger besonderen Rechts, sie hatten das Recht, Waffen zu tragen, und waren bessergestellt als ärmere christliche Einwohner. Sie waren bis ins vierzehnte Jahrhundert, als sich ihre Situation verschlechterte, weit besser integriert, als die Juden im muslimischen Spanien es jemals sein konnten. Wer die politische Integration für die wichtigste hält, kann nicht umhin, Augsburg über Córdoba zu stellen. All das ist seit über fünfzehn Jahren wissenschaftlich bekannt. Aber wer will es hören?
Seine Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sie wiederholen zu müssen. Wer weiterhin das Märchen von der islamischen Toleranz verbreitet, behindert jene muslimischen Intellektuellen, die ernsthaft an jener Reform des Islam arbeiten, die im neunzehnten Jahrhundert so erfolgversprechend begann. Denn er beraubt sie der Chance, eine Vergangenheit zu überwinden, die ansonsten zur abscheulichen Gegenwart zu werden droht. Gelänge es den Reformern, den Islam radikal zu entpolitisieren, dann könnten die Muslime zu wirklichen Bürgern in ihren Staaten werden. Übrig bliebe jene hochgradig spirituelle Religion, die nicht nur Goethe fasziniert hat: Hegel nannte den Islam die „Religion der Erhabenheit“. Dazu könnte er werden.
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