Whisky für die TalibanDas Ressentiment gegen den Westenvon
Richard Herzinger In einer Szene des Films Monty Python’s Life of Brian , der die Monumentalschinken über das Leben und Sterben Jesu parodiert, hält ein judäisches Widerstandskommando ein konspiratives Treffen ab. Der Anführer heizt die Stimmung gegen die römische Besatzungsmacht auf. »Diese Bastarde«, ruft er aus, »haben uns alles genommen, und nicht nur uns, sondern auch unseren Vätern und den Vätern unserer Väter. Und was haben sie uns jemals dafür gegeben?! « Einer der Aktivisten kommt über die rhetorisch gemeinte Frage ins Grübeln. »Den Aquädukt«, meint er zögernd. »Und die Kanalisation«, sagt ein anderer. Jetzt fällt jedem der Möchtegern-Kämpfer etwas ein: »Die Straßen «, »Medizin«, »Bildung«, »den Wein«, »öffentliche Bäder«, und so weiter.
»Na gut, na gut«, unterbricht der Anführer schließlich ungeduldig, »zugegeben, aber von all dem einmal abgesehen: Was haben die Römer jemals für uns getan?« Und das Kommando fährt unverdrossen mit den Vorbereitungen für seine militanten Aktionen fort. Übrigens besteht der Plan darin, die Frau des römischen Statthalters zu entführen und zu fordern, dass »der gesamte Apparat des imperialistischen römischen Staates« binnen zweier Tagen aufgelöst wird. Andernfalls soll der Geisel der Kopf abgeschnitten werden. Und, fügen die Aufrührer hinzu, danach würden sie deutlich machen, dass allein die Römer die Verantwortung für diese blutige Konsequenz trügen, da sie sich so uneinsichtig gezeigt hätten.
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Treffender als mit dieser Szene aus der Filmkomödie von 1979 läßt sich die Essenz des Ressentiments gegen denWesten kaum zusammenfassen. Um ihn mit Inbrunst verabscheuen zu können, muß man nicht nur von der Überlegenheit des Westens auf wirtschaftlichem, technologischem und kulturellem Gebiet überzeugt sein, man muß auch bereits die Annehmlichkeiten erfahren haben, die seine Errungenschaften mit sich bringen. Zugleich aber muß man fähig sein, diese Errungenschaften gänzlich unberücksichtigt zu lassen, wenn es darum geht, den Schuldigen für sämtliche Ungerechtigkeiten zu benennen, die bislang zu erdulden waren. Und so fällt am Ende die grauenvollste Gewalttat, die sich gegen die Quelle allen Unrechts richtet, auf diese selbst zurück.
Eine ähnliche Szene wie im Film könnte man sich im heutigen Irak vorstellen, in der Anhänger des extremistischen Schiitenführers al-Sadr beisammensitzen. »Was haben die Besatzer je für uns getan«, könnten sie fragen, »außer uns von einer der schlimmsten Tyranneien des 20. Jahrhunderts zu befreien? Was haben sie uns jemals gebracht außer freier Presse, Informations- und Koalitionsfreiheit, Aussicht auf freie Wahlen, besser ausgestattete Schulen und Kindergärten ohne ideologische Indoktrination, Religionsfreiheit auch für die vorher unterdrückte schiitische Bevölkerungsmehrheit, gesicherte Lebensmittelversorgung, freien Handel und einen sichtbar beginnendenWirtschaftsaufschwung? Kurz, was haben uns die verfluchten Besatzer gegeben außer den Voraussetzungen für die Entwicklung einer freien und prosperierenden Gesellschaft? Nichts! Tod den Besatzern!«
Auch wenn über Gewaltakte und chaotische Verhältnisse in hiesigen Medien ausführlicher berichtet wird als über die Vorzüge, die das heutige Leben im Irak gegenüber den Zeiten Saddam Husseins hat, hätten die Iraker in unserer imaginären Szene doch viele berechtigte Gründe, sich über die amerikanische Besatzungsmacht zu beklagen. Die politischen Fehler und Versäumnisse der amerikanischen Führung, die verbrecherischen Taten, die von US-Soldaten im Irak begangen wurden, sind allzu zahlreich. Gemessen an dem Anspruch der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, rechtsstaatliche und demokratische Strukturen im Irak zu verankern, sind solche Exzesse, mit den Folterungen im Gefängnis von Abu Ghraib als moralischem Tiefpunkt, besonders deprimierend.
Es geht hier auch nicht darum, die Gegner des Irakkriegs unter Generalverdacht zu stellen, antiwestlich zu sein. Man konnte gute Argumente gegen diesen Krieg anführen, die sich an westlichen Interessen und Werten orientierten. Und es wäre grundsätzlich absurd, »den Westen« als die beste aller möglichen Welten hinzustellen, an der es nichts zu kritisieren gäbe. Ohne radikale öffentliche Kritik wäre der Westen nicht »der Westen«, oder dies wäre dann nichts anderes als eine geographische Bezeichnung für dieWeltgegend, von der aus bestimmte weltpolitische Mächte agieren. dass er die Institution der öffentlichen Kritik als konstituierendes Element eines florierendenGemeinwesens begreift, ist ja gerade eine der Zivilisationsleistungen, die sich mit dem Begriff »Westen« untrennbar verbunden haben. Der Folterskandal von Abu Ghraib hat auf drastischeWeise gezeigt: Was eine westliche Gesellschaft politisch-kulturell auszeichnet ist nicht, dass sie bessere Menschen hervorbrächte als andere politische Kulturen. Auch ihre Machtapparate sind nicht von sich aus gegen den Absturz in Unmenschlichkeit gefeit. Die Besonderheit moderner westlicherGesellschaften besteht darin, dass sie sogar in der Extremsituation eines Krieges fähig bleiben, in ihrem Namen begangene Untaten aufzudecken, schonungsloser öffentlicher Kritik und rechtlichen Sanktionen zu unterziehen.
Selbstzweifel, Skrupel bei der Anwendung seiner Machtmittel und die Bereitschaft, sich Gesetzen und Regeln zu unterwerfen, gehören ebenso zur politischen Kultur des Westens wie das Prinzip der Gewaltenteilung und der institutionellen Trennung von Staat und Gesellschaft, von Staat und Religion. Das antiwestliche Ressentiment aber artikuliert eine ganz andere Botschaft als die Selbstkritik, die für den Bestand der westlichen politischen Kultur unverzichtbar ist. Es bestreitet grundsätzlich, dass der Westen Prinzipien und Werte verkörpert, die denen autoritärer Gesellschaftsformationen vorzuziehen seien. Es beinhaltet auch weit mehr als nur die Ablehnung einer bestimmten amerikanischen Regierungspolitik. Amerika ist mit dem »Westen « nicht identisch. Es kann somit sehr wohl eine »westliche« Kritik an der amerikanischen Politik und Gesellschaft geben.
Doch die Vereinigten Staaten sind nun einmal die stärkste Macht der westlichen Welt - mehr noch, ihre ökonomische und militärischeKraft ist es hauptsächlich, die die Sicherheit der westlichen Demokratien garantiert. In den Vorbehalten und Aggressionen gegen die USA bündeln und potenzieren sich daher die Aversionen, die sich gegen den Westen insgesamt richten. Dan Diner hat in seiner Studie Feindbild Amerika gezeigt, wie Europa Amerika seit zweihundert Jahren als Projektionsfläche benutzt, um Eigenschaften, die es an sich selbst nicht wahrhaben will, aus dem eigenen Bewußtsein abzuspalten. So gilt Amerika als Hort des Kapitalismus, der Raffgier, des Rassismus, der religiösen Bigotterie und der entfesselten Gewalt nach innen wie nach außen.
Doch Europa selbst hat den Kapitalismus hervorgebracht und eine Klassengesellschaft gekannt, deren Ungleichheit die der heutigen amerikanischen Gesellschaft bei weitem übertrifft, es hat jahrhundertelang Kolonialismus praktiziert und innere blutige Kriege geführt, die von religiösem, nationalem oder rassischem Hass und von Raubgier motiviert waren. Heute sind die Europäer stolz darauf, all diese schrecklichen Verirrungen der Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Aber sie wissen auch, dass sie ihren friedfertigen Neuanfang nach 1945 hauptsächlich dem Eingreifen der USA zu verdanken haben und dass sie ihre Freiheiten auch heute noch ohne amerikanischen Schutz kaum gegen äußere Feinde verteidigen könnten.
Dieser innere Zwiespalt ist ein Nährboden für das Ressentiment. Denn während Europa seine zivilen Errungenschaften feiert, bleibt doch der Makel, dass es deren Grundlagen nicht aus eigener Kraft schaffen konnte. Diese Einsicht ruft ein nagendes Gefühl der Unzulänglichkeit und Ohnmacht hervor. Wenn Amerika seine überlegene Macht demonstriert, wird dieses Gefühl stets aufs neue aufgerührt. Die Europäer werden daran erinnert, dass sie ungeachtet ihres inneren Friedens nach wie vor in einer gefährlichen, gewalttätigenWelt leben, in der westliche Gesellschaften nur bestehen können, solange sie in der Lage sind, ihre Feinde durch überlegene Macht in Schach zu halten. Unversehens richtet sich der unterschwellige Zorn über diesen beunruhigenden Gedanken gegen die westliche Vormacht, die ihn unverhohlen ausspricht.
In den USA komprimieren sich zudem alle Gegensätze und Paradoxien, die eine westliche Gesellschaft ausmachen. Die amerikanische Gesellschaft ist sowohl egalitär als auch von gewaltigen Unterschieden des Einkommens und der Lebensverhältnisse geprägt, sowohl streng säkular als auch tief religiös. Hypermodernität und Reste vormoderner Lebensformen existieren unvermittelt nebeneinander; nirgendwo sonst im Westen gibt es ein so buntes ethnisches Gemisch und zugleich derart scharf von einander abgegrenzte »Parallelgesellschaften«. Und während Amerika mit geradezu zivilreligiöser Inbrunst dem Ziel einer friedfertigen Welt verpflichtet ist, schämt es sich doch nicht, sich stolz zu seiner militärische Stärke und Entschlossenheit als der unbedingten Voraussetzung für den Erhalt seiner Freiheit zu bekennen.
Wie in einem Vergrößerungsglas zeigt sich in diesem Land somit die ganze Unmöglichkeit, die »den Westen« ausmacht. Die westliche offene Gesellschaft enthält keine Verheißung einer idealen, harmonischen Ordnung. Der Westen ist nicht mehr und nicht weniger als das Versprechen, es sei möglich, selbst den schlimmsten Gefahren und Problemen, mit der eine Gesellschaft konfrontiert wird, unter Wahrung der Freiheit und der Würde des Einzelnen zu begegnen. Die westliche offene Gesellschaft ist kein Modell, das für alle gleichermaßen passt. Sie ist ein stets gefährdeter Prozess ohne Garantie auf Gelingen. Ihre Substanz besteht nicht in ewig gültigen Wahrheiten, in die Völker, Nationen und Kontinente nach Hegelschem Muster dialektisch hineinwachsen könnten, um dann bei sich selbst angekommen zu sein. Die offene Gesellschaft ist nichts als das Bekenntnis zu einer offenbleibenden Frage: Wie ist das gesellschaftliche Zusammenleben in größtmöglicher Selbstbestimmung aller Individuen unter Einhaltung eines zivilen Regelwerks weitestgehend gerecht und friedlich zu organisieren? An die Stelle der Übereinstimmung als Grundlage der Gemeinschaft tritt ein anderes Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenhalts: das gemeinsame Erlernen des Umgangs mit der permanenten Nicht-Übereinstimmung.
Der Westen verstößt so oft gegen seine eigenen Prinzipien, wie er sie beschwört. Und er korrigiert sich so oft, wie er sich in Irrwege verrennt. Und das Unfassbare: Diese prekäre Konstruktion versinkt nicht im Chaos. Sie funktioniert, weil sie ein Höchstmaß an Lernfähigkeit ermöglicht. Mehr noch, sie gewinnt selbst aus ihren Niederlagen Erneuerungskraft und gesteigerte Prosperität. Der Westen hat seine Kolonien aufgegeben, hat in seinen Gesellschaften die Klassenschranken und die Rassentrennung aufgehoben, hat die Kritik der sozialen, antirassistischen und ökologischen Bewegungen in sein Selbstbild aufgenommen - und all diese Zugeständnisse haben ihn nicht zerstört, sondern reicher, freier und für Menschen aus aller Welt attraktiver gemacht.
Diese Fähigkeit wirkt auf seine Kritiker unheimlich und regt die verschwörungstheoretische Phantasie an: Hinter dieser Unverwüstlichkeit des Westens muß eine perfide Macht stehen. Das antiwestliche Ressentiment verwandelt die offene Struktur der westlichen Gesellschaften gedanklich in eine homogene Einheit mit einem lenkenden bösen Hirn im Zentrum zurück. Oder es interpretiert umgekehrt das Fehlen eines zentralen Kerns in dieser offenen Struktur als Beweis für den unvermeidlichen Weg des Westens in den Verfall und in einen (welt)zerstörerischen Untergang. Dabei kommt das Ressentiment gegen den Westen keineswegs von außerhalb: Es entsteht durch die inneren Spannungsverhältnisse im Westen selbst. Denn seine unübersichtliche Wirklichkeit produziert die übergroßen Erwartungen, die dann zwangsläufig enttäuscht werden.
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Seine hohen Ideale von Frieden, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wecken die Sehnsucht, diese Maximen zu unbefleckten Prinzipien gelebter gesellschaftlicher Wirklichkeit werden zu lassen. Doch westliche Gesellschaften können diese Sehnsucht nicht erfüllen. Mit den individuellen und sozialen Rechten und Freiheiten liefern sie, per Informationsfreiheit, auch die unverstellte Sicht auf Missstände und endlose Konflikte, auf Elend und Bosheit, auf all das Häßliche also, das in der Welt ist. Der Westen hält die Rechte des Menschen hoch und verschreibt sich der Mehrung menschlichen Glücks, zugleich aber liefert er seine Bürger schonungslos der Einsicht aus, dass der Mensch nicht gut ist. Wer diese Paradoxie nicht aushält, und das sind sehr viele - ununterbrochen hält sie niemand aus -, der gerät in Gefahr, vom Ressentiment gegen denWesten befallen zu werden. Ist diese offene Gesellschaft nicht eine große Lüge, eine Zumutung, die ihre Unfähigkeit, Ordnung in die Verhältnisse und in die Köpfe zu bringen, auf dem hilflosen Einzelnen ablädt und ihn mit unerträglichen Widersprüchen allein lässt?
Wer vom Ressentiment in Besitz genommen wurde, der drängt darauf, den Widerspruch nach der einen oder der anderen Seite aufzulösen. Militante (praktizierende und sympathisierende) Extremisten bewundern die in ihren Augen unermeßliche Macht, die das verachtete Gebilde trotz seiner Unfähigkeit, den Menschen unverbrüchliche Normen und Werte vorzugeben, angehäuft hat. Sie glauben, die Macht des Westens könne durch exzessive Gewaltausübung zum Einsturz gebracht werden. Ob Lenin und Stalin oder Hitler, ob Pol Pot, Saddam Hussein oder Osama bin Laden: Unter welcher ideologischen Fahne auch immer antiwestliche Revolutionäre antraten, um die Welt durch die Errichtung einer vollkommenen Ordnung zu heilen, alle waren davon überzeugt, der Westen sei im innersten dekadent und übe seine Dominanz nur aufgrund seiner skrupellos und tückisch angewendeten Gewaltmittel aus. Gelänge es, diesen Machtapparat entscheidend zu schwächen, müsste der Westen kraftlos in sich zusammenfallen. In ihrer Fixierung auf Macht und Gewalt verkennen sie, dass die Überlegenheit westlicher Gesellschaften nicht zuletzt in ihrer Fähigkeit liegt, Gewaltanwendung zu dosieren und sich bei der Verfügung über die furchtbarsten Waffenpotentiale zivilisatorische Zügel anzulegen.
Die Gewalt ist aber keineswegs das entscheidende Mittel, mit dem der Westen seinen überragenden Einfluß in der Welt ausübt. Er basiert vielmehr auf den Verlockungen, die von seiner wirtschaftlichen Kraft, seinen gesellschaftlichen Freiheiten und seinem schier unerschöpflichen Warenangebot ausgeht. Den antiwestlichen Ideologen bleibt also nichts anderes übrig, als auch diese Verführung durch westliche soft power in eine Spielart gewalttätiger Aggression umzudeuten. Wie wirksam sie ist, ist ihnen zumeist nur allzu bewusst. Sind sie doch selbst dieser Verführung erlegen und haben sich jene westlichen Konsumgenüsse gegönnt, die sie als Teufelswerk den ihnen unterworfenen Volkskörpern vorenthalten wollten.
Während Pol Pot sein Volk in Arbeitslagern in ein vorindustrielles Agrarkollektiv umerziehen ließ, residierte er selbst in einer Villa und erfreute sich eines üppigen Luxus. Noch weit sagenhafter sind die Konsumbedürfnisse des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Il, dessen gigantisches Privatvermögen in dem Maße anwuchs, wie er sein nukleares Rüstungsprogramm vorantrieb und seine kommunistische Mustergesellschaft in Hungersnöte abstürzen ließ. In der Bleibe von Mullah Omar, dem Anführers der Taliban, fand man jede Menge Konsumartikel aus amerikanischer Herstellung. Die Taliban-Führer, die 2000 zu Geheimverhandlungen mit der amerikanischen Regierung nach Frankfurt am Main gekommen waren, hinterließen im Flughafenhotel eine Getränkerechnung von mehreren tausend Mark: Die Funktionäre, unter deren Schreckensregime der Genuss von Alkohol im buchstäblichen Sinne eine Todsünde war, hatten in einigen Tagen Unmengen Whisky vertilgt.
Die Beispiele zeigen, dass das Ressentiment gegen den Westen sich erst dann richtig entfaltet, wenn sich seine hasserfüllten Prediger selbst vom süßen Gift des Westens durchdrungen fühlen und der eigenen Lust an dessen Wirkung freien Lauf gelassen haben. Das Strafbedürfnis, das sie angesichts dieser Anerkenntnis ihrer Anfälligkeit für die Wonnen der Konsumgesellschaft empfinden, befriedigen sie allerdings nicht am eigenen Leib, sondern lieber an ihren Untertanen und Fußtruppen, die ihren Reinigungsphantasien schutzlos ausgeliefert sind. Und sie lassen vor allem den Westen spüren, dass sie bereit sind, ihm die Schmach, seinen Sirenengesängen gefolgt zu sein, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln heimzuzahlen.
Und obwohl ihre Überzeugung, der Westen sei in Wahrheit nichts als eine monströse menschenverschlingende Machtmaschinerie, nur den eigenen projektiven Allmachtsphantasien geschuldet ist, liegen sie mit ihrem Kalkül, die komplizierte Balance westlicher Gesellschaften durch den Einsatz entfesselter Gewalt zum Kippen zu bringen, nicht ganz falsch. Denn westlichen Gesellschaften fällt es ausgesprochen schwer, mit wahlloser Vernichtungswut umzugehen. Zum einen besteht die Gefahr, dass sie sich im Abwehrkampf gegen die Bedrohung den Methoden ihrer Herausforderer annähern und die rechtsstaatlichen und demokratischen Tugenden dabei bleibenden Schaden nehmen könnten. Zum anderen aber erschüttert die Vorstellung von einem Netzwerk, das jederzeit mit ungehemmter mörderischer Energie zuzuschlagen bereit ist, das Selbstbewußtsein des Westens in seinem Kern.
Nicht von ungefähr kulminierte der Angriff auf die Vereinigten Staaten am 11.September 2001 in der Zerstörung des World Trade Center: Der Einsturz der riesigen Türme, die wie kein anderes Wahrzeichen für die fortschrittsorientierte, säkulare Lebensart der westlichen Welt standen, rief archaische Muster apokalyptischer Endzeiterwartung wach. Die Ungeheuerlichkeit und die Anonymität der Tat ließ ihre Urheber wie Sendboten einer überirdischen rächenden Gewalt erscheinen. Schon kurz nach dem Anschlag begann in westlichen Feuilletons eine Debatte darüber, ob es denn nicht Ausdruck anmaßender Überheblichkeit sei, derart gigantische Hochhäuser zu bauen - als hätte die Strafe für diese Vermessenheit früher oder später folgen müssen.
http://www.zeit.de/2004/39/ressentiment/seite-1