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KarlMartell

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Wird man doch noch sagen können
« on: September 30, 2012, 07:44:50 pm »
Wird man doch noch sagen können

Heinz Buschkowskys Buch über Neukölln ist rassistisch – auch wenn er das gar nicht will.
Von Naika Foroutan
Foroutan, 40, ist Sozialwissenschaftlerin an der
Humboldt-Universität in Berlin.

Seltsam, wie zurückhaltend sich die Kritiker
zu Buschkowsky äußern. Verständnis allerorten.
Es ist, als ob die Rezensenten
nach Sarrazin nun ihre zweite Chance erhalten
hätten, um ihren Widerwillen loszuwerden
gegen eine fremde Welt, mit der sie nichts
verbindet. Sarrazins Buch war schnell ein No-
Go geworden, aber Buschkowsky kommt
lie bevoller daher, nicht so kalt und analytisch.
So singen sie die alte Melodie: Wird man doch noch sagen
können.
Es sind übrigens jene, die immer wieder nur von „Pannen“
sprechen, wenn es eigentlich darum gehen müsste, den rassistischen
Sumpf zu beschreiben, in dem unsere Sicherheitsapparate
versinken. Als es um die Aufklärung der NSU-Morde ging, war
es das amerikanische FBI, das in einem nur sechsseitigen Profiling
im Juni 2007 der Wahrheit schon ziemlich nahekam: Die
Täter handelten so, weil sie keine Türken mögen. Wenige Monate
zuvor hatten Analytiker des LKA Baden-Württemberg
100 Seiten gebraucht, um zu erkennen: „Vor dem Hintergrund,
dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem
hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich
seines Verhaltenssystems weit außerhalb
des hiesigen Normen- und
Wertesystems verortet ist.“
Deutsche töten nicht, steht da.
Weil Töten tabu ist im deutschen
Kulturraum.
Buschkowsky beschreibt diesen
deutschen Kulturraum als „Wertegefüge
unserer Gesellschaft – umschrieben mit Begriffen wie
Disziplin, Fleiß, Ordnung, Rücksichtnahme, Toleranz und Respekt
vor anderen“. Respekt vor anderen! Man kann nicht glauben, dass
das dort steht. Es ist, als ob wir nicht die gleiche Sprache sprächen,
nicht die gleichen Menschen sähen, nicht das gleiche Land.
In der Fallanalyse aus Baden-Württemberg steht auch, dass
die Tat auf einen prägenden Ehrenkodex zurückzuführen sei.
Ehrenkodex, das ist ein Begriff, den auch Buschkowsky benutzt:
„Wenn man jungen Männern von klein auf immer wieder beibringt,
dass sie selbstbewusst auftreten sollen, kampfesmutig
und stark zu sein haben und dass die wichtigste Körperregion
ihr Unterleib ist, dann muss man sich nicht darüber wundern,
wenn sie ein entsprechendes Paschaverhalten an den Tag legen.
Diese Gewalt legitimierende Machokultur begünstigt natürlich
das Absenken der Skrupel, Gewalt gegen andere Menschen
auszuüben.“ Natürlich. Aber welche Gewalt legitimierende
Kultur führt eigentlich dazu, dass es im Jahr 2011 in diesem
Land 12 444 erfasste Fälle von Kindesmissbrauch gab? Die Antwort
könnte sein: Dieses Land, in dem jeder zweite Krimi, den
man abends anschaltet, Kindesmord, -misshandlung oder -verwahrlosung
als Thema hat, ist kulturell traumatisiert seit dem
Holocaust und den Weltkriegen, in denen es massenweise
seine Kinder opferte. Und genau diese
Traumakultur führt dazu, dass täglich 34 Kinder,
auch in den besten Familien, sexuell missbraucht
werden. Aber niemand schreibt ein Buch mit
dem Titel „Missbrauch ist überall“. Das alles ist
nämlich absurd: Denn was hat die deutsche Kultur
mit Kindesmissbrauch zu tun? Gar nichts.
Aber der Rassismus im kulturellen Gewand funktioniert
genau so.
Es geschehen Dinge, die so verstörend sind,
dass man sie sich nicht so einfach erklären kann.
Wir alle nutzen Stereotype, um Komplexität zu reduzieren, unser
archaisches Krokodilshirn irgendwo in den Tiefen unseres
Kopfes feuert dann Botschaften, die uns sagen: So sind sie, die
Deutschen, sie haben ein gestörtes Verhältnis zu Kindern! Aber
dann brauchen wir die Aktivierung des Frontlappens im Gehirn,
der uns deutlich macht: „Das war jetzt rassistisch, sieh doch
mal, die Zahlen geben Auskunft über einige wenige pervertierte
Menschen, sie spiegeln ein gestörtes, vielleicht auch traumatisiertes
Verhältnis zur Sexualität wider, sie entstehen, weil es
Menschen gibt, die Neigungen haben, die unterschiedlichste
Ursachen haben können, und in muslimischen Ländern würde
man wahrscheinlich ähnliche Zahlen erheben können.“ Um
sich aber so in Frage zu stellen, braucht es nicht nur ein vernünftiges
Maß an Bildung, sondern
auch die Bereitschaft, dass
das, was man da gerade denkt, rassistisch
ist oder zumindest so nicht
stimmen kann.
Genau daran scheitert es. Bis
tief hinein in die Mitte der Gesellschaft
haben sich solche Stereo -
type als rassistische Gewiss heiten festgesetzt, die einfach nicht
mehr hinterfragt werden brauchen. Stereotype sind sehr hartnäckig,
und sie können sehr logisch erscheinen, sehr vernünftig,
es ist schwierig, sie bei sich selbst zu erkennen.
Wir leben in einem Land, in dem wahrscheinlich ein
großer Teil der Bevölkerung glaubt, dass hier täglich
ein Ehrenmord geschieht, während das Bundeskriminalamt
von fünf bis sechs Fällen pro Jahr ausgeht.
Wir leben in einem Land, in dem 82 Prozent der Menschen
die „Ausbreitung“ des Islam mit „Sorge“ betrachten, während
gerade mal 5 Prozent der Bürger muslimisch sind und es bis
zum Jahr 2030 keine signifikante Steigerung geben wird.
Wir leben in einem Land, in dem der Salafismus gefährlicher
zu sein scheint als der Rechtsextremismus, weswegen es zwar
eine Plakataktion gegen islamistische Fanatiker geben soll, aber
keine vergleichbare Plakataktion gegen Rechtsextremisten –
dabei könnte man in Deutschland ganze Landstriche plakatieren.
Der Verfassungsschutz schätzt, dass es etwa 3800 Salafisten
gibt. 3800 Salafisten unter 4,2 Millionen Muslimen: Das sind
0,09 Prozent der hier lebenden Muslime – und im Gegensatz
zur rechtsradikalen Szene kann man nicht davon ausgehen,
dass die Sicherheitsapparate etwas beschönigen oder verheimlichen
würden.
Wir leben in einem Land, in dem viele glauben, muslimische
Männer würden hier ihre Frauen unters Kopftuch zwingen und
muslimische Frauen würden immer mehr Kopftuchmädchen
zur Welt bringen. Dabei tragen mehr als 70 Prozent dieser
Frauen gar kein Kopftuch, und je jünger sie sind, desto seltener
tun sie es, und wenn sie es tun, dann auch aus emanzipativen,
selbstbewussten und selbstmarkierenden Motiven, die dieser
Generation jene trotzige und stolze Sichtbarkeit gibt, die ihnen
zusteht, nach all den Mühen der Eltern und der Abfälligkeit in
diesem Land: Es reicht, unsere Eltern waren leise, und die habt
ihr verachtet, wir sind laut, und uns fürchtet ihr. Furcht ist besser
als Verachtung, das steht in diesen Gesichtern und ist nicht
mehr zu übersehen. Aber es ist mühsam herauszufinden, dass
das, was man zu wissen meint, nicht stimmt: dass nicht unter
jedem Kopftuch eine unterdrückte Muslima steckt oder eine
islamistische Deutschland-Hasserin.
Wir leben in einem Land, in dem manche herkunftsdeutsche
Mütter ihre Kinder aus Schulen nehmen, weil dort zu viele
Kinder mit Migrationshintergrund sind – und niemand fragt,
ob diese Kinder vielleicht trotzdem perfekt deutsch sprechen.
Auch das ist rassistisches Denken: Migrationshintergrund gleich
Versagerhintergrund gleich Kriminalität gleich Cola trinkende
Kinder gleich Islam gleich Gewalt gleich Abzocken.
Aber was wird sein, wenn irgendwann die Hälfte der eingeschulten
Kinder einen Migrationshintergrund hat und wenn
diese Kinder immer besser gebildet sein und immer häufiger
auf die Gymnasien geschickt werden und wenn diese herkunftsdeutschen
Mütter ihre Kinder immer noch nicht auf dieselbe
Schule schicken? Haben wir dann den Mut, diese Eltern als Integrationsverweigerer
zu bezeichnen? Werden wir dann endlich
Integration als Aufgabe aller sehen in diesem Land, in dem bereits
20 Prozent der Bürger einen Migrationshintergrund haben?
Wir leben in einem Land, in dem Buschkowsky schreibt:
„Integration und die Bereitschaft dazu sind an erster Stelle
eine Bringschuld der Hinzukommenden“. Und: „Wer zu uns
kommt, muss (die Regeln) bejahen und sich an der Mehrung
des Wohlstands dieser Gesellschaft aktiv beteiligen – ist es
nicht das Recht einer jeden Gesellschaft, das zu sagen?“
Das alles schreibt er, obwohl er der Bürgermeister
von Neukölln ist und es besser wissen müsste. Denn
gerade in seinem Stadtteil ist der Anteil der Flüchtlinge,
also derer, die keine Arbeitserlaubnis haben,
sehr hoch. Sie können den Wohlstand dieser Gesellschaft
nicht mehren. Und er müsste auch wissen, dass
sie dieser Gesellschaft niemals so sehr schaden könnten
wie all die Leute aus der Finanzwelt, die übrigens
auch aus dem hiesigen Kulturkreis kommen und dem
Land den größten volkswirtschaftlichen Schaden seit
dem Zweiten Weltkrieg zugefügt haben.
„In meinem Rathaus gibt es keine Kopftücher“, sagt
Buschkowsky über seine Nichteinstellungspraxis und
argumentiert mit der Neutralität des Staates. Er realisiert
nicht, dass sein Verhalten diskriminierend ist.
Auch nicht, dass seine Sprache rassistisch ist, wenn er
von Importbräuten schreibt oder Sätze wie folgende
formuliert: „Mit den Afrikanern ist noch mehr Brutalität,
Drogen- und Alkoholmissbrauch eingezogen. Türkische
und arabische Männer sitzen in den Cafés. Afrikanische
Männer sitzen zu Hause, sehen fern, spielen,
telefonieren und trinken. Afrikaner lassen sich noch
schwerer in die Karten schauen als die anderen
Ethnien.“ Buschkowsky geht davon aus, dass so einer
wie er gar nicht rassistisch schreiben könne, nur
schnodderig, weil er ja immer wieder betont, wie sehr
er seinen bunten Bezirk mag, seine „Lieblings-Chinesin“,
bei der er Ente isst, seine Hindu-Community, wo
er manchmal mit Blumengirlanden behangen als Buddha die
Feste bereichert. Auch seine „Stadtteilmütter“ schätze er sehr,
und gewählt wird er von vielen dieser Menschen, die ihn als
strengen Vater sehen – hart, aber gerecht. Man kommt ihm
auch nicht bei, weil er so viele Beispiele hat, die mit Sicherheit
alle wahr – aber eben nicht alles sind.
Genau hier versagt das Buch und versagen die Kritiker,
die in dem Buch die vielen Details hervorheben, in denen
Buschkowsky deutlich macht, dass es auch Erfolgsgeschichten
gibt in Neukölln – nämlich dort, wo ER auf den
Plan tritt. Albert-Schweitzer-Schule? Rütli? Hat ER gerettet.
Es leben aber immer noch genau die gleichen Leute in Neukölln,
die sogenannten Kopftuchmütter, die er seitenweise abfällig
behandelt, und die Machoväter, die er lächerlich macht,
und auch die Kinder sind die gleichen. Aber inzwischen bekommen
die Schulen mehr Geld und mehr Lehrer, die Mitwirkung
von Seiten der Migranten ist größer geworden, und genau
deswegen gibt es mehr gute Abschlüsse. Doch diese Einsicht,
dass es eben nicht die Kultur ist, sondern die Struktur, diese
banale Einsicht dringt nicht überall durch. Wie auch, wenn wir
seit mehr als zwei Jahren über kulturelle Defizite von Muslimen
debattieren?
Jene, die etwas gegen Benachteiligung, Diskriminierung und
soziale Abkapselung tun wollen – reine Gutmenschen. Gutmenschen:
ein großes Schimpfwort dieser Tage. Als ob Schlechtmenschen
die Guten wären. Buschkowsky sollte aber eines nicht außer
Acht lassen – auch die Wutmenschen in seinem Bezirk werden
mehr: Jene, denen es reicht, dass all ihre Arbeit in diesem
Bezirk entweder von Big B als die seine vereinnahmt oder einfach
als „political correctness“ diffamiert wird. Jene, die sich fragen,
wie denn ein Bürgermeister so über seinen Bezirk herziehen
kann, als wäre er all die Jahre nicht selbst dafür zuständig gewesen.
Jene, die wissen, dass Neukölln zu einem der angesagtesten
Viertel dieser Stadt geworden ist, was nichts mit den unmigrantischen
Teilen Neuköllns wie Britz oder Rudow zu tun hat.
Und auch jene werden mehr, die nicht mehr seine Chinesin
sein wollen und seine Stadtteilmutter, sondern seine Partner
im Kampf gegen Kriminalität, Drogenmissbrauch oder Verwahrlosung.
Und eigentlich will er das auch sagen, der Buschkowsky
– aber ihm fehlt einfach die Sprache dazu.

D E R S P I E G E L  4 0 / 2 0 1 2,  S. 138/39

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