Station13 - eine freie Stimme der freien Welt

Speaker's Corner => Kein Islam bitte => Topic started by: KarlMartell on March 19, 2013, 04:11:41 pm


Title: Walter Wilhelm (1928–2002)
Post by: KarlMartell on March 19, 2013, 04:11:41 pm
Walter Wilhelm (1928–2002)
Eine Erinnerung
Ein beunruhigendes Gefühl, ausgelöst durch die knappe Mitteilung
auf dem Anrufbeantworter: Walter Wilhelm ist gestorben.
Das Gefühl, dass es mir zukomme, über diesen Toten einen Text zu
schreiben. Weil anders wahrscheinlich niemand über ihn schreiben
würde. Was freilich gleichgültig ist, wegen der Kraftlosigkeit von
Geschriebenem, das sich einer Person zu bemächtigen sucht, und
angesichts der Flüchtigkeit von Texten im Gedächtnis. Wozu also
schreiben – zumal Walter Wilhelm ein emphatischer Gegner akademischer
Nachrufe war, grimmiger Verächter sentimental verklärter
Lügengeschichten und ins Grab geschleuderter professoraler
Hochrufe, die dem einsamen Leben nicht gegönnt waren? Aber
manche Worte lassen sich nicht auf Dauer bändigen, bohren sich
hartnäckig in die Geschäfte des Tages, winken und starren abends
mit vorwurfsvollen Augen auf eine beginnende Bequemlichkeit.
Man muss ihnen nachgeben und hoffen, dass sie einen nicht
unversehens im Stich lassen.
Mitte der 70er Jahre war ich manchmal beiWalter Wilhelm zu
Gast. Wir hatten uns bald nach meinem Dienstantritt als Professor
an der Universität Frankfurt imJahre 1968 kennen gelernt.Helmut
Coing, der meine Berufung an die juristische Fakultät betrieben
hatte, hat uns miteinander bekannt gemacht. Wilhelm war damals
so etwas wie sein Oberassistent am erst wenige Jahre zuvor in der
Mainmetropole gegründeten Max-Planck-Institut für europäische
Rechtsgeschichte. Eine imposante, hochgewachsene Erscheinung,
sportlich elegant, mäßig gebräunt, mit leicht spöttischem blauen
Blick und ziemlich blonden Haaren. Wir waren einander sympathisch,
duzten uns bald und bezeichneten uns schließlich wechselseitig
als Freunde.
Ich war in vielerlei Hinsicht gefesselt von Walter Wilhelm und
voller Begeisterung für meinen neuen Freund. Denn er war nicht
nur ein ungewöhnlich kluger, umfassend gebildeter, fachlich überragender
und treffsicher witziger Gesprächspartner. Er sprach
fließend ein elegantes Französisch, aber Italienisch und Englisch
standen nicht weit zurück. Nicht zuletzt war er ein beneidenswert
gut aussehenderMann, soweit überhaupt ein anderer Mann in der
Lage ist, hierüber zu befinden. Immerhin gab es das einigermaßen
belastbare Indiz, dass sein Auftreten in der Öffentlichkeit oder in
Gesellschaft die vorhandenen Männer in den Augen der anwesenden
Frauen unübersehbar und schlagartig marginalisierte. Ein
Umstand, der ihm allerdings nicht besonders aufzufallen schien
und der ihm offensichtlich nichts bedeutete.
Nach dem Scheitern seiner kurzen Ehe spielten Frauen in
seinem Leben keine wahrnehmbare Rolle mehr. »Mein Herz ist
kalt«, hörte ich ihn sagen, als in kleiner Runde Seligkeit und
Bitterkeit beim Duell mit Eros in Rede standen. Er hatte sich bei
einer alten Dame, bei der er abends nicht selten aß, eingemietet – in
ein ruhig gelegenes, kleines Apartment in der Nähe des Frankfurter
Grüneburgparks, wo er bis zu seinem Tod allein wohnte.
Wenn er mich bewirtete, servierte er stets Käse und Rotwein.
Beides aus Frankreich, vom frankophilen Gastgeber mit größter
Sorgfalt ausgesucht. Der Käse, in hauchfein angefeuchtete Tücher
eingehüllt, aus denen er zärtlich entnommen und auf helles Eichenholz
gesetzt wurde, der Rotwein, schon Stunden vor dem Treffen
dekantiert und in geschliffenesKristall umgefüllt. Der schwere Tisch
wurde sparsam gedeckt, um dem Holz Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen. Kein Tischtuch, rustikale Platzdeckchen, die unendlich
akkurat und peinlich genau parallel zu den Linien der Tischkanten
gelegt wurden. Wasser, schwarzes Brot, ein wenig Butter, schwere
Messer, keine Gabeln. Keinerlei Nachlässigkeit, nichts Äußerliches,
aber auch keine Steifheit, sondern lässige Eleganz beim Gastmahl
wie bei der Kleidung. Jeder Abend ein stilgerechter Feiertag.
Heute bin ich der vermutlich falschen, aber dennoch festen
Überzeugung, dass wir immer nur zwei Themen – in der jedes Mal
gleichen Reihenfolge – erörterten, die Rechtsgeschichte und Helmut
Coing. Bei der Rechtsgeschichte war ich gleichberechtigter
Partner, beim Thema Coing befand ich mich ausschließlich in der
Rolle des Zuhörers.
Als Partner erörterten wir in vielen Ansätzen die Lebensfrage
der Rechtsgeschichte – ihr Recht und ihren Zweck in der akademischen
Lehre. Wir waren uns einig, dass die von den Fachvertretern
des römischen Rechts hartnäckig gesungene Melodie vom
unvergänglichen propädeutischen Wert ihrer Lehre für das Verständnis
des geltenden Privatrechts nicht erst durch massives
studentisches Desinteresse als vormoderner Choral erwiesen werden
müsse, sondern dass die Rechtsentwicklung selbst die längst
fällige Befreiung aus den provinziellen Fesseln der Pandektistik
bewirkt habe. Wir waren überzeugt, dass nur noch eine von der
Zivilistik abgekoppelte Rechtsgeschichte als gemeinsame Grundlage
für alle Rechtsfächer eine Chance in einem modernisierten
juristischen Curriculum haben könne und dass ein entsprechender
Erfolg nur vorstellbar sei, wenn es gelänge, die real existierende
Rechtsgeschichtslehre mit einer systematischen Reflexion auf die
theoretischen und sozialen Prämissen der Rechtsform zu verbinden.
Und dass es in der Forschung nicht mehr um die Rekonstruktion
alter Dogmatik, sondern nur noch um die Beschreibung der
Bedingungen für Dogmatik gehen könne.
Verwirklicht haben wir davon nichts – auch später nicht, als
dies nicht lediglich hypothetisch möglich gewesen wäre. Genau
besehen haben sich bis heute allenfalls punktuelle Verschiebungen
und Änderungen ereignet, aber keine Reformen. Was nicht verwunderlich
ist, denn herrschende Lehren werden nicht widerlegt,
sondern sterben aus, wie durch Max Planck und Thomas Kuhn
zum wissenschaftsgeschichtlichen Allgemeingut wurde.
Mitte der 70er Jahre fanden wir kein Argument gegen dieses
Grundgesetz des Wissenschaftsbetriebs. Womit wir zwangsläufig
bei Helmut Coing ankamen, dem Lehrer von Walter Wilhelm.
Coing war in seiner Disziplin zweifellos einer der großen
Regenten, fast allmächtig im Ancien Régime der Ordinarienuniversität.
Verfasser bedeutender Lehrbücher, Mitarbeiter an führenden
Kommentaren, Gutachter und Politikberater. Ein kühler, souveräner
und machtbewusster Herr, der nachdrücklichen Wert auf
Distanz legte. Politisch interessiert und ambitioniert. Vorsitzender
des Wissenschaftsrates und der Rektorenkonferenz, Gründer und
erster Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte
und Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft. Eine
weithin bekannte, internationale Figur, und das schon bald nach
dem 2.Weltkrieg, in einer Epoche, als für den durchschnittlichen
akademischen Juristen die Grenzen seiner Interessen und die
Grenzen seines Faches mit den Grenzen seines Heimatlandes
zusammenfielen. Kollegial zu den Kollegen, in deren Gesellschaft
ihn nichts zog. Erbarmungslos konservativ, unnahbar gegenüber
Schülern und Mitarbeitern, die sich, wie es noch im Geist der Zeit
lag, in nicht geringer Zahl für den großenMann opferten, der diese
Opfer ungerührt entgegennahm.
Diesem Professor war Walter Wilhelm, man muss es so sagen,
in einer heillosen und beklemmenden Weise verfallen. Verfallen in
dem Sinne, dass er diesen Menschen nicht loswerden konnte, ihn
mit gleicher Kraft und gleichem Zorn hassen wie lieben musste,
nicht in der Lage war, ihn beiseite zu schieben, zu verdrängen und
zu vergessen, sondern in immer neuen Wendungen auf ihn zurückkommen
musste, mit ihm rechten musste, ihn preisen musste, ihn
verwünschen musste, weil er ihm,Walter Wilhelm, der zwar Dankbarkeit
erhofft, aber nicht eigentlich verlangt hatte, auch noch die
geschuldete Loyalität, wie er glaubte, vorenthielt.
Coing war ein glänzender Redner, referierte beherrscht, elegant
und treffsicher über komplexe Probleme; er war ein genialer Vereinfacher,
mit sicherem Blick für das Wesentliche. Wilhelm, nicht
minder eloquent, rühmte diese Kompetenz und verurteilte sie im
selben Atemzug. Weil sie ihm nicht differenziert genug schien, der
Blick zu eindimensional, die Sonde nicht tief genug eingeführt und
die Sprache am Ende zu simpel. Er selbst band sich zeitlebens voller
Inbrunst an Thomas Mann, dessen Sprache ihm unerreichbares
Vorbild schien und dessen Lebensthemen auchMotive inWilhelms
Existenz zum Klingen brachten: die im Individuum angelegte,
unüberbrückbare, aber auch unverzichtbare Spannung zwischen
Kunst und Wissenschaft, die Versuchungen und Abgründe der
Homoerotik, der endlose Kampf der Geschlechter. Wilhelms Sprache
war von schwer einholbarem Reichtum, ohne Neologismen,
aber voller überraschender Wendungen und Fügungen. Auch im
Alltag und bei den Trivialitäten des täglichen Betriebs verzichtete er
ungern auf den hohen Ton, der ihm gelegentlich in ein den Fremden
irritierendes, den Vertrauten amüsierendes zeremonielles Pathos
umschlug.
Coing hatte ein stattliches Werk geschaffen. Er war ein Jurist,
der nicht nur in der alltäglichen Technik der Dogmatik, sondern
auch in der Rechtsvergleichung, der Rechtsgeschichte und dem
internationalen Recht zuhause war; der das im engeren Sinne
Juridische in Richtung auf Theorie und Philosophie transzendierte.
Wilhelm feierte diese Haltung mit grandiosenWorten. Sie hatte ihn
als Studenten zu Coing gebracht und sie hatte ihn dauerhaft
fasziniert. Zugleich verwarf er aber die Ergebnisse dieses großräumigen
Denkens als positivistisch und soziologisch unaufgeklärt,
als politisch konservativ und an Positionen fixiert, die das kritische
Denken längst geräumt hatte.
Er war unglücklich, als Schüler eines Mannes zu gelten, gelten
zu müssen, dem er sich in der Kraft und Fülle der Gedanken und in
der Weite seiner Einsichten mit einigem Recht überlegen glaubte.
Dem er klaglos diente, Berichte und Entwürfe schrieb, die der
Meister mit freundlicher Zustimmung aus den Händen seines
gedankenreichsten und gebildetsten Mitarbeiters nahm und unverändert
weitergab und die doch nicht dazu führten, dass Coing ihm
das gewährte, was ihm am wichtigsten gewesen wäre: Liebe.
Walter Wilhelm selbst hat lediglich ein einziges schmales Buch
verfasst. Eher ein Büchlein. 159 Seiten »Zur juristischenMethodenlehre
im 19. Jahrhundert«. Seine Dissertation. Sie ist sein Hauptund
Lebenswerk.
Über Theodor Viehweg sagte einer seiner Mitstreiter gelegentlich,
er sei ein »Ein-Buch-Mann« gewesen. Das war richtig. Viehweg
hat im Wesentlichen nicht mehr als einen Vortrag publiziert,
den er 1950 gehalten und durch Fußnoten und Vorworte zu einer
kleinen Schrift aufgearbeitet hatte. Er hat damit Erörterungen
ausgelöst, die fast 30 Jahre anhielten, die juristische Methodologie
dauerhaft beeinflussten und der »Topikdiskussion« einen festen
Platz in der Methodengeschichte der Jurisprudenz des 20. Jahrhunderts
sicherten. Dabei war Viehwegs Abhandlung nicht sonderlich
elegant und in der Sache weder gründlich noch wirklich
überzeugend.
Title: Re: Walter Wilhelm (1928–2002)
Post by: KarlMartell on March 19, 2013, 04:12:42 pm
Das einzige Buch von Walter Wilhelm, fünf Jahre nach Viehwegs
Vortrag geschrieben, atmete demgegenüber äußerste sprachliche
Kultur. Es war tiefgründig und hintergründig zugleich und
wurde von den lebendigen Köpfen des Fachs sofort und ohne
Widerstand rezipiert. Der große Meisterdenker der Rechtshistoriker,
Franz Wieacker, ist in seiner klassischen »Privatrechtsgeschichte
der Neuzeit« an einschlägiger Stelle den von Wilhelm
vorgedachten Linien sorgsam und bis in die Fußnoten hinein
gefolgt. Wilhelms Text ist bis heute unüberholt zutreffend geblieben.
Ein komplettes Meisterwerk, auch durch die dickleibigsten
Monographien über die gleiche Zeit und denselben Gegenstand
nicht in den Schatten zu stellen.
Was nach dem Untertitel (»Die Herkunft der Methode Paul
Labands aus der Privatrechtswissenschaft«, Klostermann, Frankfurt
am Main, 1958) aussieht, als handele es sich um eine jener
unsäglichen Studien und dünnblütigen Exegesen,mit denen geisteswissenschaftliche
Mehlwürmer die staubigen Akten der Vergangenheit
in der Hoffnung durchwühlen, den »wahren« und »eigentlichen
« Urheber eines Gedankens zu finden, den wirklich »Ersten«
zu ermitteln, der dieses und jenes ausgeheckt hat, und sei es auch
nur »als Vorläufer« – gerade so, als käme es in der Wissensgeschichte
der Menschheit auf diesen Punkt besonders an, und nicht
auf die Frage, wer einen Gedanken warum zur Tat gebracht hat –,
was also aussieht wie eine klassische Durchschnittsstudie, war in
Wahrheit die zwingende Formulierung einer Einsicht, die heute
nahezu banal klingt, damals aber von Illusionen verbrennender
Kraft war. Im Kern und in einem Satz: Walter Wilhelm wies die
eminent politischen Absichten des programmatisch Unpolitischen
nach, enthüllte die verschwiegene Politik des sich selbst alle Politik
absprechenden (Rechts-)Positivismus und strafte die immer wieder
aufgetischte Juristenpropaganda von der Möglichkeit eines »reinen
« Rechts Lügen. Das war in den 50er Jahren eine sensationelle
und, besonders für Juristen, eine schwer verdauliche Lehre, deren
Verarbeitung manchen bis heute nicht gelungen ist.
Wer eine solche Arbeit geschrieben hat, braucht nichts mehr zu
schreiben. Er hat seinem Fach mehr gegeben als andere mit Tausenden
von Seiten.Und in derTat hatWalterWilhelmdanach nicht
mehr viel geschrieben. Einige kluge Aufsätze. Ein paar Konzepte.
Die juristische Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität
ernannte ihn, der weder das juristische Assessorexamen abgelegt
hatte noch habilitiert war, dennoch ohne Zögern zum Honorarprofessor,
so dass wir ranggleich in Universität und Institut wirken
konnten. Die Studenten verblüffte, verwirrte und verstörte der
wortgewaltige Professor, der lange Passagen auf Französisch, Englisch
und Italienisch rezitierte, durch chaotisch geistreiche Vorlesungen
zur vergleichenden europäischen Rechtsgeschichte des
19. Jahrhunderts. Vorlesungen, die vor ihm lediglich postuliert
und die nach ihm in Frankfurt nie wieder gehalten wurden.
Aber aufgezeichnet hat er so gut wie nichts mehr. Der zentrale
Band des von Walter Wilhelm entwickelten und geplanten, aber
von Coing ins Leben gerufenen »Handbuch der Quellen und
Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte«, in
dem nach Wilhelms Vorstellungen die Funktion des klassischen
Zivilrechts der Neuzeit als Gesellschaftstheorie dargestellt werden
sollte, ist nie erschienen. Dass dem so sein würde, wusste schon
1980, als ich neben Walter Wilhelm als Direktor und Nachfolger
von Coing in das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte
eintrat, jeder, außer mir und Walter Wilhelm. Er ahnte
es vielleicht, ich nicht.
Dass ich so wenig von ihm wusste, gehört sicher mit zu den
Bedingungen unseres Konflikts und unseres Scheiterns als Partner.
Ich wusste nicht, dass die Führung von Amtsgeschäften aller
Art, wie sie ein großes und international renommiertes Forschungsinstitut
naturgemäß mit sich bringt, ihm zutiefst zuwider war, so
vital zuwider, dass er Gremiensitzungen, Besprechungen, Haushaltsberatungen,
Aufsichtspflichten und überhaupt allen Kontrollaufgaben
systematisch und trotzig aus dem Weg ging. Ordneten
sich die Dinge allmählich zum Muster eines kleineren oder auch
größeren Skandals,wurde er krank – und zwar wirklich, nicht etwa
vorgegeben oder vorgetäuscht. Obwohl er gelegentlich auch davor
nicht zurückschreckte in seiner Verzweiflung über seine Zerrissenheit
zwischen dem Pflichtgefühl und seinem Ekel vor dessen
Konsequenzen.
Ich wusste auch nichts von seiner Abneigung gegen alles
Mechanische und Quantitative im Leben wie in der Wissenschaft,
nichts von seiner Verachtung der Schreibmaschine oder gar des
Computers, die er niemals gegen einen schmalen, weißen Stapel
unbeschriebenen Papiers und einen erstmals gespitzten Bleistift
eingetauscht hätte, und nichts von seiner Abscheu gegenüber der
als bürokratisch und servil verurteilten Gliederung der Wochen
nach Terminen und Veranstaltungen.
Und ich wusste schließlich nicht, dass manche seiner Kollegen
und Mitarbeiter schon längst die ersten Anzeichen und trüben
Signale jener selbstzerstörerischen Alkoholkrankheit beobachtet
hatten, die ihn langsam und unerbittlich zu unwürdigsten Maskeraden
zwang, seinen Elan bremste, seine Kraft verzehrte und am
Ende schließlich sogar seinen Gefäßen die Kraft nahm, das Blut zu
behalten.
Als ich die Situation begriff, mich von der Hoffnungslosigkeit
aller Heilungsversuche überzeugt hatte, alle Angebote, die Verhältnisse
im Stillen und hinter dem breiten Rücken der Max-
Planck-Gesellschaft einvernehmlich zu regeln, gereizt und verächtlich
zurückerhalten hatte, ließ ich es unfroh und in einer mir auch
nach 20 Jahren noch unsympathischen Mischung aus Selbsterhaltungswillen
und Ehrgeiz zum Eklat kommen.
Ein gefährlicher und zunächst wenig aussichtsreicher Anlauf
angesichts einer wissenschaftlichen Gesellschaft, die Skandale hasst
und geneigt ist, im Auslöser den Schuldigen zu suchen, angesichts
einer Professorengemeinschaft, deren Fernblick neben dem strah-
lenden Helden nichts anderes wahrzunehmen vermochte als den
minderbegabten bösartigen Terrier, und angesichts einer Institutsbesatzung,
deren bei weitem größter Teil den Zustand apathischer
Unbehelligtheit dem eines anstrengenden Neuanfangs entschieden
vorgezogen hätte.
So war es denn eher ein Zufall und gewiss nur dem außerordentlichen
Scharfblick eines einzigen Mannes zu verdanken,
nämlich dem des damaligen Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft,
Reimar Lüst, dass Walter Wilhelm nach vielen Untersuchungen,
Beratungen und Debatten schließlich in den vorzeitigen
Ruhestand versetzt wurde und das Institut für europäische Rechtsgeschichte
bis zum Eintritt von Michael Stolleis in einen untadeligen
Zustand gebracht werden konnte.
Walter Wilhelms wissenschaftliches Leben war mit dieser
Affäre und nach dem leidigen, auf seine Entpflichtung gerichteten
Verfahren zu Ende. Er schrieb jetzt überhaupt nichts mehr, zog sich
aus der Universität zurück und mied sorgfältig alle institutsöffentlichen
Auftritte.
Das war vor 20 Jahren. Unser Verhältnis war nach Lage der
Dinge irreparabel zerstört. Vom freundschaftlichen »Du« war
Wilhelm längst zum distanzierenden »Sie« zurückgekehrt. Unsere
Gespräche gehörten endgültig zur Vergangenheit. Ich war, und bin
ihm, uneingeschränkt dankbar für die zahlreichen Lehrstunden.
Aber er sah mich in die kalteWelt des Erfolgsmanagements versetzt
und wollte seine Tür nicht mehr öffnen.
Zunächst kam er noch mit einer gewissen Unregelmäßigkeit
ins Institut und begleitete dessen rasche Entwicklung vor den
Ohren der verbliebenen Getreuen mit ironisch-sarkastischen Kommentaren,
denen der frühere Witz noch keineswegs völlig abhanden
gekommen war. Die noble Großmut der Max-Planck-
Gesellschaft, die auch im Enttäuschungsfalle ihren Mitgliedern
Sekretariat und Ausstattung belässt, konnte jedoch die Lage nicht
mehr wirklich bessern oder wenigstens stabilisieren. Auch weil
Besserung und Stabilität nicht gewollt war.
Ein Mann, als Einzelner ausgestattet mit allen Gaben, die die
Natur sonst geizig auf Viele zu verteilen pflegt, hat diese Gaben nur
im Ansatz genutzt, sein Leben, auf das sich Bewunderung und
beträchtliche Hoffnungen gerichtet hatten, mit großer Geste pathetisch
verschleudert. Tragisch nennt man mit Vorliebe das Schicksal
von Personen, die in subjektiv ausweglose Konstellationen geraten.
Walter Wilhelm war in einer solchen Situation. Wie er dahin
gekommen ist, dafür gibt es sicherlich mancherlei Erklärungen.
Schlichte und komplizierte. Sie müssen hier nicht ausgebreitet
werden. Warum er auch tat, was er tat, er hatte zweifellos ein
Recht dazu. Dass sein Umgang mit seiner Lage für den Beobachter
auch komische Züge trug, rechtfertigt kein Lachen.
Nach der Berufung von Michael Stolleis an das Institut erschien
er nur noch selten. Langsam wurde er zu seinem Schatten,
der an Feiertagen oder spät am Abend in den Gängen des Instituts
den Schein einer Anwesenheit hervorrief und seiner Vergessenheit
keinen Widerstand entgegensetzte. Auch ich habe, wie alle anderen,
ihn allmählich aus den Augen verloren.
Zuletzt sah ich ihn bei der Beerdigung von Michael Klostermann,
dem feinsinnigen Verleger, Walter Wilhelm und mir sehr
zugetan und abberufen, als er sich eben anschickte, die Früchte
seiner Mühen einzubringen. Wilhelm saß in der letzten Reihe.
Ordensverleihungen und Vernissagen, Festempfänge und Beerdigungen
sahen ihn – wenn überhaupt – häufig an dieser Stelle. Er
liebte die letzten Reihen. Lieber Beobachter als Beobachteter. Noch
etwas, das wir gemeinsamhatten. Wir tauschten einen freundlichen
Gruß und setzten uns nebeneinander. Es war das letzteMal. Es gab
einen Händedruck und ein Hauch von Johnny Walker verwehte.
Jetzt ist er gestorben. Einsam, verblutet in der Badewanne, die
er liebte. In die er sich gern und häufig zur Trias aus Käse, Whisky
und Zeitung begab. Ein sanfter Tod, vermutlich. Er wird ihn aber
gespürt haben, denn das Blut verlässt den Körper nur langsam.
Wenn dem so war, dann hat er zweifellos mit einer großen und
eleganten Geste eingewilligt in den Abschied.
Dieter Simon

http://data.rg.mpg.de/rechtsgeschichte/rg02_recherche_simon.pdf

Title: Re: Walter Wilhelm (1928–2002)
Post by: KarlMartell on March 20, 2013, 02:02:21 pm
Walter Wilhelm (1928-2002)

Walter Wilhelm, von dessen  bahnbrechendem und berühmtem Buch "Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert"  (Frankfurt 1958)  1975 in Mailand eine italienische, 1980 in Madrid eine spanische und 1989 in Stockholm eine schwedische Ausgabe erschienen, war einer der begabtesten Schüler vonHelmut Coing und in der Gründungs- und Aufbauphase des Max Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Coings wichtigster und einflußreichster Mitarbeiter, insbesondere auch bei dessen Forschungen zur Wirkungsgeschichte des römischen Rechts. Er wurde 1970 mit seiner Berufung zum Wissenschaftlichen Mitglied des Instituts offizieller Vertreter des Gründungsdirektors und war von 1980 bis 1987 zusammen mit Dieter Simon dessen Nachfolger.  Dieter Simon hat ihm in der neuen Instituts-Zeitschrift "Rechtsgeschichte" Band 2 (2002) S. 142-150 "Eine Erinnerung" gewidmet, die hinsichtlich der Umstände, unter denen Wilhelm den Tod fand, einer Richtigstellung bedarf. Todesursache war die unerwartete Ruptur eines zuvor nicht bekannten Aortenaneurysma's im Halsbereich. Alkoholmißbrauch kann weder die Bildung eines Aortenaneurysma's noch dessen Ruptur hervorrufen noch bei unerwarteter Ruptur den fast immer fatalen Verlauf wesentlich beeinflussen. Walter Wilhelm starb in seinem Wohnzimmer - in seinen  Kleidern.

Frankfurt am Main, Mai 2003     Hans Erich Troje

http://www.helmutcoing.de/Wilhelm.html
Title: Re: Walter Wilhelm (1928–2002)
Post by: Morena on March 20, 2013, 02:20:21 pm
  Karl Martell.

eine Ruptur eines Aoertenaneurysmas kann sicherlich nicht durch Alkoholmissbrauch entstehen.

Allerdings durch hohen Nikotinmissbrauch  und Alkoholmissbrauch begünstigt werden, wenn dieser über Jahre  statt findet, dazu

würde der durch diesen Missbrauch entstandene körperliche Verfall auch eine Rolle spielen.

Wenn dies der Fall wäre, hätte man sicherlich durch ärztliche Untersuchungen, das Aneurysma entdeckt und entsprechende Behandlungen
eingeleitet.
Title: Re: Walter Wilhelm (1928–2002)
Post by: KarlMartell on March 20, 2013, 02:32:11 pm
danke, Morena.

Walter Wilhelm hat nicht geraucht. Von körperlichem Verfall kann auch keine Rede sein, ich traf ihn die letzten Jahre vor seinem Tod des öfteren auf dem Wochenmarkt in Bockenheim und er wirkte immer ganz fit.
Die Richtigstellung von Troje und Deine Anmerkung bestätigen das ja.
Der Artikel von Simon soll eigentlich ein Beispiel dafür sein, wie man so RICHTIG einen Toten schlechtmachen kann und das auch noch gedruckt in einer renommierten Fachzeitschrift.

Gruss
KM
Title: Re: Walter Wilhelm (1928–2002)
Post by: Morena on March 20, 2013, 03:03:16 pm
  Hallo, Karl Martell

wenn man dies für seine Zwecke benötigt, scheut man auch vor solchen Verleumdungen unbescholtener und sehr ehrenhafter Menschen
nicht zurück.


In diesem Zusammenhang denke ich an den "angeblichen " Selbstmord der Kirsten Heisig aus Berlin.

Gruß,Morena