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KarlMartell

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Brasilien: Fürst der Finsternis
« on: April 14, 2013, 12:41:52 pm »
DER SPIEGEL  16/2013, S.94-97

BRASILIEN

Fürst der Finsternis


Oberst Sebastião de Moura ist eine Figur wie aus „Apocalypse Now“. Er soll Rebellen
gejagt, gefoltert und getötet haben. Fast 40 Jahre nach dem Kampf gegen
die Guerilla muss er nun wohl vor Gericht. Von Erich Follath und Jens Glüsing

Der Curió ist dort beheimatet, wo
sich die Amazonaswälder öffnen
und ein wenig ihre Undurchdringlichkeit
verlieren. Schwarz ist sein Rücken,
haselnussbraun sein Gefieder; mal
hell und glockengleich, mal düster und
klagend klingt sein Gesang. Die Urwaldbewohner
fangen ihn gern, weil der Curió
in der Gefangenschaft aggressiv reagiert,
wenn er in einem Käfig gegen seinesgleichen
antreten muss. Er kämpft, dar auf
lässt sich wetten, bis zur Erschöpfung.
„Menschenfreund“ bedeutet sein Name
in der Sprache der Waldbewohner. Ein
schräger Vogel, weiß Gott.
Der Mann, dem sie diesen Spitznamen
gegeben haben, hat auch ein loses Mundwerk.
Und alle, die ihn kennen, sind sich
einig, dass er rücksichtslos und brutal vorgeht.
Oberst Sebastião Rodrigues de Moura,
genannt Major Curió – ein Menschenfreund?
Da schütteln Feinde wie Freunde
nur den Kopf. „Er ist keiner, der irgendwelche
Empfindungen kennt“, sagt sein
Weg gefährte Lício Maciel. Wenn man den
brasilianischen Offizier a. D. mit irgend -
jemandem vergleichen könnte, dann nur
mit einer fiktiven Gestalt: mit Oberst
Kurtz, den Francis Ford Coppola in seinem
Film „Apocalypse Now“ mordend
durch die Dschungel am Mekong jagte,
ein Größenwahnsinniger, der sich sein
eigenes Reich auf Erden schuf, ein Gottvater
des Grauens, eine Horrorgestalt wie
aus Joseph Conrads Kongo-Roman „Herz
der Finsternis“.
Aber die Ereignisse und die Personen,
um die es hier geht, sind real. Diese Geschichte
handelt von Mord und Vergeltung,
von Politik und privater Rache, von
Schuld, die nie verjährt und für die sich
Major Curió wohl demnächst vor Gericht
wird verantworten müssen.
Sie beginnt in den Zeiten der Militärdiktatur:
Ende der sechziger Jahre nisten
sich kommunistische Kämpfer am Rio
Araguaia ein. Sie wollen „Fische im Wasser
des Volkes“ sein, so wie ihre maois -
tischen Vorbilder in China, sie planen,
von Brückenköpfen im Dschungel aus
die große Revolution zu entfachen. Sie
sind ein idealistischer Haufen, nur mit
leichten Waffen ausgestattet, immer von
Malaria und Schlangenbissen bedroht. Sie
bleiben lange unentdeckt, weil sie sich
unter die Dörfler am großen Fluss mischen
und ihre Infiltration vorsichtig vor -
antreiben.
Doch 1969 nehmen die Militärs Regimegegner
fest, die Informationen der Guerilleros
bei sich tragen und unter Folter
Namen verraten. Die Machthaber suchen
jemanden, der im Amazonasgebiet aufräumt
– und finden einen Agenten in ihren
Reihen, der gerade eine Dschungel -
ausbildung der Armee mitgemacht hat.
Sebastião Rodrigues de Moura stammt
aus einfachen Verhältnissen. Der Sohn
eines Friseurs und einer Hausmeisterin,
geboren in einer Kleinstadt im südost -
brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais,
erlebt eine unspektakuläre Kindheit. Sein
Ehrgeiz wird erst geweckt, als ein Cousin,
der im Zweiten Weltkrieg für das brasilianische
Expeditionskorps an der Seite
der Italiener gekämpft hat, im Triumph -
zug durch die Straßen getragen wird. Da
weiß Sebastião: So ein Held will er auch
einmal sein, Großes leisten für sich und
die Nation.
Er schafft die Prüfungen zur Militärakademie,
tut sich durch Fleiß und Gehorsam
hervor. Steigt in seiner Freizeit
als Preisboxer in den Ring, um sein kümmerliches
Salär aufzubessern. Obwohl
weder besonders groß noch kräftig gebaut,
gewinnt er fast jeden Fight. Sein
Spitzname stammt aus jener Zeit.
Curió erweist sich für das Regime als
Volltreffer. Unter falschem Namen und
mit allen Freiheiten ausgestattet, kreist
er mit Helikoptern über den vermuteten
Verstecken der Rebellen, verfolgt sie mit
Jeeps über Buschpfade, mit Booten über
den Fluss. Und er ist bald dafür berüchtigt,
keine Gefangenen zu machen. Grausame
Geschichten kursieren: Curió lasse
Köpfe abhacken, überwache persönlich
die schlimmsten aller Folterungen. Tatsache
ist: Die Guerillatruppe wird zerschlagen,
Spuren werden verwischt. Von gut
60 Toten oder Vermissten ist die Rede
und von Kollateralschäden – unter der
Landbevölkerung, die mit den Aufständischen
sympathisierte, soll es auch Tote
gegeben haben.
Der Offizier macht während der Militärdiktatur
weiter Karriere. Er leitet ab
1980 die größte Goldmine des Landes,
säubert sie von seiner Meinung nach unerfreulichen
Elementen, gründet um Bordelle
herum eine ganze Stadt. Und auch
als 1985 die Militärs von der Macht gedrängt
werden, bleibt der Mann obenauf,
zieht als Abgeordneter ins Parlament ein,
wird Bürgermeister der Stadt, die seinen
Namen trägt: Curionópolis.
An die Übergriffe der Militärs mag in
Brasilien lange keiner rühren, man setzt
aufs Vergessen. Ein Amnestiegesetz,
schon 1979 von den Militärs erlassen, legt
fest, dass Verbrechen während der Diktatur
nicht verfolgt werden sollen. Vor
zwei Jahren aber wird Dilma Rousseff,
65, Präsidentin des Landes – eine Ex-Guerillera,
die selbst von den Schergen der
Generäle im Gefängnis von São Paulo gefoltert
und gedemütigt wurde.
Sie richtet eine Wahrheitskommission
ein, die bis 2014 politisch motivierte Verbrechen
aufklären soll. Und auch die Familienangehörigen
der vermissten Rebellen
haben nicht lockergelassen: Sie brachten
den Fall gegen den brasilianischen
Staat vor den Interamerikanischen Gerichtshof
für Menschenrechte. Der fällt
am 24. November 2010 ein bahnbrechendes
Urteil: Er erklärt die bestehende Amnestie
für ungültig, fordert juristische Aufarbeitung.
Jetzt versucht eine Gruppe junger
Staatsanwälte, die Verantwortlichen
vor Gericht zu bringen. Der Erste, gegen
den ein Verfahren eingeleitet werden
dürfte, ist Curió. Der Beschuldigte, inzwischen
78 Jahre alt, ist längst pensioniert.
Er schweigt.
Können ihm Taten, begangen vor fast
40 Jahren, wirklich noch nachgewiesen
werden, gibt es noch Zeugen? Wer hat
ein Interesse daran, den alten Staub aufzuwirbeln,
wer will es verhindern – in
den hellerleuchteten Gängen der Macht
von Brasília oder dort, wo alles geschah,
im Herzen der Amazonas-Finsternis?
Sie graben. Bedrohlich dunkel treiben
die Wolken über den breiten, trägen
Fluss ganz in der Nähe, der nachmittägliche
Tropensturm mit dem Platzregen
wird bald einsetzen. Doch noch brennt
die Sonne erbarmungslos, alles versengend,
Moskitos schwirren. Aber die Männer
graben weiter. Einen Meter durch das
Erdreich, noch tiefer. Marco Guimarães
kniet in der Grube, sein schwarzes Hemd
ist durchgeschwitzt. Triumphierend hebt
er etwas hoch.
„Ein Menschenschädel“, ruft der Gerichtsmediziner
aus Brasília nach oben
und bläst vorsichtig den Sand von den
Knochen. „Wenn man die Größe des Kiefers
betrachtet, wahrscheinlich die Überreste
eines erwachsenen Mannes.“
Ein ermordeter Guerillakämpfer?
„Der Mann wurde ohne Sarg verscharrt.
Der Körper lag nicht Richtung
Westen, wie in der Region üblich. Um
den Hals sind Reste eines Seils geschlungen“,
diktiert der Experte. „Alle Indizien
deuten auf einen Guerillero.“ Genaueres
wird erst der Vergleich mit der DNA von
Verwandten ergeben, die ihre Angehörigen
als vermisst gemeldet und genetisches
Material zur Verfügung gestellt haben.
Ganz sicher sind sich die Ermittler
bei zwei Exhumierten, gefunden nach
Hinweisen von Dorfbewohnern, die sich
an Exekutionen erinnerten.
Die Suche geht auf der anderen Seite
des Flusses weiter, eine rostige Fähre tuckert
durch die graubraunen Wassermassen.
Xambioá ist eines dieser typischen
Flussdörfer, verwaschene Steinhäuser, Gemischtwarenläden,
einfache Fischrestaurants.
Und am Rande des Ortes, nahe der
schmucken katholischen Kirche, liegt der
Friedhof. Auch hier wird exhumiert, kategorisiert.
Auch Tote können Geschichten
erzählen. Man muss sie nur verstehen.
Manuel Cajueiro ist der Zeuge, auf den
die Ermittler setzen. Er sitzt auf einer
der weißen Grabplatten des Gottesackers,
ein verhutzeltes Männchen. Aber er
möchte helfen. Ihn plagt noch immer das
schlechte Gewissen wegen damals. „Andererseits
– was hätte ich schon machen
sollen, ich konnte mich nicht gegen die
Übermächtigen auflehnen“, flüstert er,
als erwartete er Absolution.
Cajueiro wurde damals gezwungen,
die Jagd auf flüchtende Rebellen voranzutreiben.
„Curió war das Gesetz“, sagt
der Alte. „Nein, mehr noch: Er war
Gott.“ Er ließ Köpfe abhacken und als
Beweisstücke zur Militärbasis transportieren.
Er hatte neben dem Job nur wenige
Leidenschaften. „Einmal kam ein
General im Helikopter angerauscht,
schrie aus dem Kockpit: Packt die Leichen
zusammen, wir holen sie auf dem
Rückweg ab – wir wollen jetzt zum Angeln!“
Curió flog mit.
Der Oberst hat nach Cajueiros Aussage
seine Gefangenen eigenhändig gequält,
mit Eisenstangen, mit Schlägen, immer
emotionslos, versteinert die Miene; ein
systematischer Folterer sei er gewesen,
einer, der „Resultate“ sehen wollte. Und
einmal war Cajueiro auch bei einem
Mord seines Chefs dabei. „Wir hatten im
Dschungel mehrere Kämpfer aufgespürt,
sie waren bereits entwaffnet und gefesselt.
Curió fragte eine junge Rebellin, wie sie
heiße. Sie sah ihn nur voller Verachtung
an und sagte: Eine Guerillera hat keinen
Namen. Da drehte er sich zu ihr, zog seine
Pistole und schoss ihr in den Kopf. Einfach
so, in den Kopf.“
Die riesige Bildergalerie bedeckt die
ganze Wand im Büro von Victória
Grabois, 69, und auf den ersten Blick
könnte man denken, es handle sich um
harmlose Dokumente eines Passbildfotografen.
Aber die Wahrheit ist tragischer.
„Das hier links ist mein Mann. Er verschwand
1973 mit meinem Vater in der
Araguaia-Region, sein Foto ist das daneben.
Und dann ist hier unten noch mein
Bruder, ebenfalls Guerillero, ebenfalls
des aparacido.“
Sie nennt die Angehörigen „Verschwundene“,
aber sie hat keinerlei Hoffnung
mehr, sie lebend wiederzusehen.
Sie will wissen, was geschehen ist, sie will
die Überreste ihrer Lieben bestatten, die
Täter bestraft sehen. Das hält sie am Leben,
nur das gibt ihr Kraft. Sie muss mit
der von ihr mitgegründeten Organisation
„Tortura Nunca Mais“ („Nie mehr Folter“)
unbequem bleiben – die Sache ihrer Familie
zu Ende bringen. Draußen vor der
Tür lockt Rio de Janeiro, die „maravilhosa“,
die Wunderbare, mit all ihren Attraktionen,
den Stränden, den Restaurants,
den Galerien. Doch für Frau Grabois gibt
es keine Vergnügungen mehr.
Ende zwanzig war sie damals, lehnte
sich auf gegen die brutale Militärdiktatur,
sympathisierte wie der Rest der Familie
mit den verbotenen Kommunisten. Dass
ihr Ehemann mit Vater und Bruder in den
Guerillakampf zog, hat sie verstanden.
Obwohl sie allein zurückblieb mit ihrem
kleinen Sohn, obwohl sie schon ahnte,
dass es ein Abschied für immer sein könnte.
Dass der Kampf es wert war, hat sie
nie bezweifelt – so sagt sie es jedenfalls,
und ihre brüchige Stimme wird eine Spur
fester. Sie wäre auch in den Busch gezogen,
aber als sie schwanger wurde, hatten
die Genossen darauf bestanden, sie aus
der Schusslinie zu nehmen.
Sah Victória Grabois nicht, wie aussichtslos,
wie irrsinnig das Dschungelunternehmen
war? Die Frage macht sie
ärgerlich. Man müsse den Kampf aus der
Zeit heraus verstehen. Fidel Castros Revolution
sei sicher nicht unter günstigeren
Umständen gestartet worden, Maos
Lehren hätten ihnen eingeleuchtet: „Wer
ein Gewissen hatte, musste einfach etwas
gegen die brutale Militärdiktatur unternehmen.“
Weil sich so lange keiner um die Verschwundenen
kümmern wollte, hat sie es
selbst getan. Schon 1980 organisierte sie
privat ihren ersten Recherchetrip nach
Araguaia, mehrere folgten. Sie konnte
zwei Leichen finden und identifizieren.
Den Initiativen der demokratischen Regierung
traut sie nicht, obwohl Präsidentin
Rousseff eine Guerillera war. „Sie
muss politische Rücksichten nehmen.
Viele der Militärs wollen nur eines: die
unbequemen Geschichten vergessen.“
Curió ist für sie ein Handlanger des
damaligen Regimes. Allerdings auch ein
Antreiber, ein besonders skrupelloser
Vollstrecker. „Er hat einmal zu Protokoll
gegeben, er und seine Leute hätten die
Anweisung gehabt, den Dschungel nicht
eher zu verlassen, bis sie jeden Guerillero
getötet hätten.“
Grabois glaubt zu wissen, dass Curió
alle Akten über seine Morde aufbewahrt
habe. Er sei einer, der seine Taten akribisch
dokumentiert habe, wie es die Nazis
taten, die Roten Khmer. „Er hat sich
damit gebrüstet.“ Diese Papiere will sie.
Sie ist nicht davon überzeugt, dass es zum
Prozess kommt – einflussreiche Freunde
und juristische Winkelzüge könnten ihn
noch verhindern.
Aber eine Vorverhandlung hat es gegeben.
Da hat sie sich hingeschleppt, bestärkt
von ihrem Sohn, der heute Universitätsprofessor
ist. Curió hat sich zu ihr
umgedreht, sie hat seinen Blick ausgehalten.
Keine Aussage. Kein Wort auch zu
ihr. Zurück im Büro, hat sie erst gemerkt,
dass sie am ganzen Körper zitterte.
So nahe wie José Genoino, 66, ist
Oberst Curió wohl kaum sonst einer
gekommen. Im Dschungel, und dann später
auch in der Politik – eine schmerzliche,
körperliche Nähe.
Genoino, ein Arbeiterkind, das erst mit
15 Jahren sein erstes Paar Schuhe anziehen
durfte, begeistert sich für Maos Schriften
und sucht als Student Kontakte in
den Untergrund. Mit 23 bricht er, vermittelt
von kommunistischen Zellen, auf in
den Dschungel. Er wird als Bote eingesetzt,
sie warten auf revolutionäre Anweisungen
aus China. Und als Genoino
nach Monaten beginnt, sich so einigermaßen
zurechtzufinden, geht das Abenteuer
schon zu Ende.
Er tappt in eine Falle, wird verhaftet.
Unter den Männern, die ihn da rüde anpacken,
ist wohl auch Curió. Die Militärs
bringen den Gefangenen in die Hauptstadt,
Genoino gibt zu, dass er im Gefängnis
unter schlimmsten Qualen Geheimnisse
preisgegeben hat. Aber er hält
daran fest, dass er keinen Mitverschwörer
ans Messer lieferte.
Fünf Jahre sitzt er im Gefängnis, sehnt
das Ende der Diktatur herbei. Schon 1982
wird er wieder politisch aktiv, bricht aber
mit den Kommunisten. Er zieht als Abgeordneter
der Arbeiterpartei ins Parlament
ein. Dort trifft er seinen einstigen
Verfolger wieder: Curió hat für eine konservative
Splittergruppe kandidiert. Sie
gehen sich aus dem Weg.
Genoino macht Karriere, wird 2002
zum Präsidenten der Arbeiterpartei gewählt.
Er genießt das Vertrauen von Luiz
Inácio Lula da Silva, der die Präsidentenwahl
gewonnen hat. In seinem bescheidenen
Häuschen in einer Mittelklasse gegend
von São Paulo hat Genoino alles gesammelt,
was jemals zum Aufstand im Amazonasgebiet
geschrieben wurde. Hier sitzt
er nachts manchmal, zigarrerauchend,
und denkt zurück an den Dschungel: „Major
Curió strebte nach Macht. Brasilien
hat ihn gewähren lassen – und noch immer
gibt es diese Stadt, die nach diesem
Verbrecher benannt ist, die ihn ehrt.“
Erst war die Goldmine da, Serra Pelada.
Dann das große Chaos. Anschließend
kam Major Curió. Mehr als 100000 Abenteurer
haben sich Anfang der achtziger
Jahre aufgemacht, um sich wie Ameisen
in den sagenumwobenen „Kahlen Berg“
hineinzugraben, in dem riesige Nuggets
gefunden wurden, das größte über sechs
Kilogramm schwer. Der Goldrausch spülte
alles weg, was an zivilisatorischem Zusammenleben
vorhanden war: Die Arbeiter
prügelten sich um die aussichtsreichsten
Plätze, Alkoholexzesse jede Nacht,
Zuhälter versteigerten Prostituierte. In
dieses Geschwür der Gesetzlosigkeit
schickte das Militär seinen Mann fürs Grobe.
Und Curió machte das, was er kann –
rücksichtslos aufräumen. Die Mine Serra
Pelada wurde nach Araguaia sein zweiter
Lebenstraum, das Glück der späten Jahre.
Entlaufenen Verbrechern drohte er mit
Erschießung, verhängte Ausgangssperren,
regelte den Goldankauf. Die Prostituierten
verbannte er in Häuser, 30 Kilometer
von der Mine entfernt. Um die Bordelle
herum wuchs ein Städtchen. Curionópolis
nannte Curió den Ort selbstbewusst, er
suchte wohl noch nach einem Vermächtnis
für die Ewigkeit jenseits der Guerillagräber.
Nach seiner Abgeordnetenzeit
wurde er zum Bürgermeister gewählt. Er
schaffte den Übergang von der Militärdiktatur
zur Demokratie: ein Mann für
alle Systeme. Selbst heute noch trauern
ihm manche nach, Hinrichtungen hin
oder her. „Er war der Effektivste, den wir
je in Curionópolis hatten“, sagt Fernando
Lopes, der Gewerkschaftsführer, nahe der
alten Curió-Villa, die seit Monaten von
arbeitslosen Goldsuchern besetzt ist. „Seine
Methoden waren fragwürdig, aber bei
ihm herrschte Ordnung.“
In Brasília, seinem jetzigen Wohnort,
lässt sich Curió von einem Staranwalt
vertreten, Adelino Tucunduva steht auf
der in edlem Schwarz gedruckten Visitenkarte,
und ähnlich pompös ist auch
sein Auftritt. Tucunduva, 71, nennt den
Mandanten seinen „besten Freund“. Die
Staatsanwaltschaft, glaubt er, werde sich
blamieren, es existiere kein „Fall“. Curió
hat nach Meinung des Juristen stets korrekt
gehandelt. „Es gibt nichts, was er bereuen
müsste, in meinen Augen ist er ein
Held, der uns alle vor großen Übeln bewahrt
hat. Jede Regierung hat eben ihre
eigene Philosophie, jede braucht ihren
Sündenbock – jetzt ist es eben Curió.“
Der Beschuldigte lebt in einem gehobenen
Mittelklassevorort. Er will sich keine
juristische Blöße geben. Nur folgende
Sätze dürfen zitiert werden. Zu seiner
Aufgabe: „Es ging darum, die Integrität
der Nation zu schützen, und zwar um jeden
Preis.“ Zum Vorwurf der Folter: „Ich
habe Befragungen geleitet, und dabei serviert
man nun mal keine Kekse. Es gibt
eine Frist, um wichtige Informationen aus
dem gefangenen Feind herauszuholen.
Solche Verhöre dürfen nicht zu weich
sein, müssen den Umständen angemessen
sein.“ Zu den Verbrechen der Militärdiktatur:
„Wenn es Auswüchse gab, sind sie
nichts im Vergleich zu den Übergriffen,
die sich kommunistische Regierungen anderswo
geleistet haben.“
Man kann jeden Morgen sehen, wie
der ältere Herr einkaufen geht, und er
besucht seine drei Söhne. Nachmittags
zieht er sich zu einem Schläfchen zurück.
Abends gönnt er sich zu einem Bier
manchmal eine der Telenovelas, die das
brasilianische Fernsehprogramm bestimmen.
Wenn man seinem Anwalt glaubt,
schaltet er aber meist wieder um, auf der
Suche nach Härterem. Nach Kriegsfilmen.
Der Oberst a. D., Rente umgerechnet
2500 Euro, genießt seinen Lebensabend.
Und er hat seinen Opfern verziehen. Er
habe, lässt er mitteilen, inzwischen akzeptiert,
dass die jungen Aufständischen
vom Araguaia „wohl Idealisten waren,
von einem ähnlichen Geist wie wir durchdrungen.
Aber ihr Weg führte in die eine
Richtung, meiner in die andere“.

« Last Edit: April 14, 2013, 12:55:55 pm by KarlMartell »

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