Author Topic: Brasilien  (Read 807 times)

KarlMartell

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Re: Brasilien
« on: July 14, 2013, 09:31:54 pm »
Gottes Entertainer

Evangelikale Gemeinden werben der katholischen Kirche
die Gläubigen ab – und scheffeln dabei Millionen.

Es steht 23:2 gegen den Papst in Pedra
de Guaratiba, im Westen von Rio
de Janeiro: 23 evangelikale Kirchen
haben hier in den vergangenen Jahren eröffnet,
zwei katholische Gotteshäuser halten
die Stellung. Der katholische Padre
Marcus Vinicius Antunes Trindade, 42, leitet
die Abwehr. Er schlägt sich wacker.
Etwa 150 Menschen drängen sich während
der Sonntagsmesse in seiner Kirche
São Pedro, der ältesten von Guaratiba.
Alle Bänke sind besetzt, der Priester
strahlt; er ist ein stattlicher, charmanter
Mann. Nur als er auf die evangelikale
Konkurrenz angesprochen wird, verdüstert
sich seine Miene.
„Zahlen interessieren mich nicht“, wiegelt
er ab. „Wenn Jesus auf Zahlen fixiert
gewesen wäre, hätte er hundert Jünger
zum Abendmahl geladen, nicht zwölf.“
Ende des Monats will Papst Franziskus
nach Guaratiba kommen. Brasilien sei
mit 163 Millionen Gläubigen das größte
katholische Land der Welt, heißt es im
Vatikan. Doch in Wahrheit verliert die
katholische Kirche hier rasend schnell
ihre Anhänger – vor allem an protestantische
Gruppen. Der Westen von Rio ist
die erste Region Brasiliens, in der es mehr
evangelikale als katholische Gläubige
gibt. Katholiken aus allen sozialen Schichten
wechseln zu Pfingstkirchen und baptistischen
Gemeinden. Überall im Land
öffnen evangelikale Bethäuser.
An der Straße, die zu Padre Marcus Vinicius’
Kirche führt, steht alle hundert
Meter ein Haus der Konkurrenz, manche
dienten früher als Garagen oder Kinos.
Über den Eingängen flackern Neonröhren,
aus den Sälen schallen Gospelsongs.
Es ist laut und bunt, die Pastoren über -
tönen sich gegenseitig, die Straße ist ein
Markt der Religionen.
Die Glocken von São Pedro gehen in
dem Lärm unter, aber Padre Marcus Vinicius
hofft auf den Papst. Es ist die erste
Auslandsreise des argentinischen Pontifex,
er wird auf einem Acker predigen,
wenige hundert Meter von Marcus Vinicius’
evangelikalen Rivalen entfernt. Bulldozer
planieren das Gelände, Bau arbeiter
zimmern und hämmern seit Wochen an
der Bühne. Rios Erzdiözese rechnet mit
zwei Millionen Besuchern. Nicht einmal
die Rolling Stones brachten so viele Menschen
auf die Beine, als sie 2006 am
Strand von Copacabana spielten.
Die Papst-Show wird wohl imposant
aussehen, doch viele Millionen Einwohner
evangelikalen Glaubens werden das Spektakel
ignorieren. „Der Papst kommt, na
und?“, lästert Pastor Silas Malafaia, 54.
„Für uns ist es ein Tag wie jeder andere.“
Der Mann mit der goldenen Rolex am
Handgelenk leitet die Assembleia de
Deus Vitória em Cristo, eine der großen
evangelikalen Kirchen Brasiliens. Früher
hat er Matratzen verkauft, mit Anfang
zwanzig machte er seine eigene Kirche
auf. Heute leitet er ein Imperium von 120
Gotteshäusern, gerade baut er eine neue
Halle für 6000 Anhänger, 2017 ist eine
weitere für 25 000 Gläubige geplant.
In seine Hauptkirche kommen sonntags
rund 4000 Menschen zum Gottesdienst.
Malafaia steigt selbst auf die Kanzel,
er trägt einen eleganten braunen Anzug,
seine Haare sind gegelt. Er ist ein
Entertainer und Verkaufstalent, seine Predigt
würzt er mit Witzen. Ein Gospelchor
begleitet den Pastor, die Liedtexte laufen
auf einem Bildschirm mit. Das Spektakel
wird überlicherweise aufgezeichnet und
später im Fernsehen ausgestrahlt.
„Das Einkommen unserer Kirche ist um
450 Prozent gestiegen“, ruft der Pastor ins
Mikrofon. „Amen!“, schallt es zurück, die
Leute applaudieren. Helfer in schwarzem
Anzug reichen Umschläge für den „Dízimo“
herum, die Kirchenspende. Viele
zü cken die Brieftasche, einige zahlen mit
Kreditkarte, die Kirche stellt Quittungen
aus. Malafaias Anhänger sind überwiegend
Aufsteiger aus der unteren Mittelschicht,
einige lesen die Bibel auf ihrem iPad.
Sein Kirchenimperium leitet Malafaia
von einem riesigen Neubaukomplex im
Westen Rios aus. Dort geht es zu wie in
einem multinationalen Unternehmen:
Die Zufahrt kontrolliert ein privater Sicherheitsdienst,
Kameras überwachen das
Gelände. Die Lobby haben die Protestanten
mit Marmor getäfelt, schwarze Ledersessel
stehen auf flauschigen Teppichen.
An der Wand hängt ein Flachbildfern -
seher, es läuft eine DVD mit Gospelsongs.
Elegante Empfangsdamen servieren Kaffee,
leise rauscht die Klimaanlage.
Eine blonde Gospelsängerin wartet auf
einen Studiotermin, Malafaias Kirche betreibt
hier mehrere Fernseh- und Aufnahmestudios.
Daneben macht ein Callcenter
mit 250 Kabinen Telemarketing für den
Gottesmann, in einer Lagerhalle beladen
Arbeiter Lastwagen mit frommer Literatur.
Über eine Million Bücher und CDs
hat der Pastor allein im vergangenen Jahr
verkauft.
Auch in Brasiliens Politik mischen sich
die evangelikalen Kirchen ein. Bis zu
zwei Millionen Menschen brachten sie in
den vergangenen Jahren allein in São
Paulo bei Demonstrationen gegen Abtreibungen
auf die Straße – mehr als bei den
Massenprotesten, die in den vergangenen
Wochen Schlagzeilen machten.
Im Kongress setzen sich die meist ultrakonservativen
evangelikalen Abgeordneten
beispielsweise für die „Schwulen-
Heilung“ ein – dieses Gesetzesprojekt soll
es Psychologen erlauben zu versuchen,
Homosexuelle in Heteros zu verwandeln.
Die Standesorganisation der Therapeuten
hatte den Unsinn verboten.
Die evangelikale Lobby im Kongress
wird von Marco Feliciano angeführt, einem
Pastor aus São Paulo. Seine Wahl
zum Vorsitzenden der Menschenrechtskommission
löste einen Proteststurm unter
Schwulenaktivisten und Liberalen aus,
doch die Regierung scheut vor einer offenen
Konfrontation mit den Evangelikalen
zurück. Im Kabinett von Präsidentin Dilma
Rousseff sitzt sogar ein evangelikaler
Minister, Rio de Janeiro wurde jahrelang
von einem evangelikalen Prediger regiert.
Auch das Idol vieler junger Demonstranten,
die ehemalige Umweltministerin Marina
Silva, gehört einer solchen Kirche
an. „Ohne uns geht nichts“, sagt Prediger
Malafaia. „Wir werden die nächste Präsidentschaftswahl
beeinflussen.“ Er hat ein
Buch über die „Schwulen-Heilung“ her -
ausgegeben. Ein ehemaliger Transvestit
schildert darin, wie er sich mit Gottes Hilfe
angeblich zum heterosexuellen Pastor
wandelte. „Homosexualität ist eine Verhaltensstörung“,
behauptet Malafaia.
„Das kann man ändern.“
Doch der Streit um die Schwulen ist
nur ein Nebenschauplatz, die evangelikalen
Kirchen fungieren vor allem als
Geldmaschinen. In fünf Jahren habe seine
Kongregation 120 Millionen Dollar
eingenommen, frohlockt Malafaia. Zu
Gottesdiensten im Nordosten fliegt er
mit einem Privatjet, das Flugzeug gehört
der Kirche.
Das US-Magazin „Forbes“ hat ihn Anfang
des Jahres zum drittreichsten Pastor
Brasiliens erklärt, sein Vermögen beträgt
angeblich über 300 Millionen Reais, rund
15 Millionen Euro (*). Malafaia bestreitet das,
er will „Forbes“ verklagen: „Das Geld
gehört der Kirche, nicht mir.“ Vor dem
Fiskus hat er ein Privatvermögen von 4,5
Millionen Reais erklärt, rund 1,5 Millionen
Euro.
Religion ist ein lukratives Geschäft, als
gemeinnützige Institution zahlen die Kirchen
keine Steuern. Jüngst suchte ein Pastor
in spe via Zeitungsanzeige Interessierte,
um eine protestantische Kirche zu
gründen. Seine Motivation sei „spirituell
und finanziell“, schrieb er.
Kundschaft ist garantiert, Brasiliens
Städte sind in den vergangenen Jahrzehnten
enorm gewachsen. Viele Zuwanderer
in den Metropolen sind entwurzelt, die
Familien zerrissen, Alkohol- und Drogensucht
sind weitverbreitet. In den evangelikalen
Kirchen suchen die Menschen Hilfe.
„Die katholische Kirche vertröstet sie
auf das Jenseits, das ist wenig attraktiv“,
sagt die Soziologieprofessorin Christina
Vital: „Die evangelikalen Kirchen bieten
dagegen praktische Lebenshilfe.“
Vor allem in Gefängnissen und Armenvierteln
sind die Pastoren aktiv, viele ehemalige
Drogenhändler lassen sich taufen.
In Jardim Primavera, einem ärmlichen
Vorort von Rio, unterstützt Malafaia ein
Projekt für Alkoholkranke, Demente und
Drogensüchtige, seine Organisation bietet
Alphabetisierungskurse und Hilfe bei der
Arbeitssuche.
Der Vatikan ist alarmiert über den Vormarsch
der Konkurrenz. Papst Franziskus
will seinen Priestern in Brasilien mehr
praktische Seelsorge empfehlen. Auf den
Besuch der berühmten Christusstatue in
Rio wird er wohl verzichten, stattdessen
möchte er in ein Armenviertel gebracht
werden. „Er sieht sich als Hirte“, sagt
Padre Marcus Vinicius in Guaratiba.
Er unterstützt den neuen Kurs der Kirche,
betreibt ein Zentrum für Drogensüchtige,
und dreimal die Woche predigt
er in einer Favela.

JENS GLÜSING

DER SPIEGEL 29/2013, S, 84-85

(*) Hier hat sich offenbar ein Druckfehler eingeschlichen. Ist die Reais-Angabe korrekt, sind es 100 Millionen Euro, stimmt die Euro-Angabe, wären es 45 Millionen Reais.
« Last Edit: July 15, 2013, 12:00:52 am by KarlMartell »