Author Topic: Walter Wilhelm (1928–2002)  (Read 717 times)

KarlMartell

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Re: Walter Wilhelm (1928–2002)
« on: March 19, 2013, 04:12:42 pm »
Das einzige Buch von Walter Wilhelm, fünf Jahre nach Viehwegs
Vortrag geschrieben, atmete demgegenüber äußerste sprachliche
Kultur. Es war tiefgründig und hintergründig zugleich und
wurde von den lebendigen Köpfen des Fachs sofort und ohne
Widerstand rezipiert. Der große Meisterdenker der Rechtshistoriker,
Franz Wieacker, ist in seiner klassischen »Privatrechtsgeschichte
der Neuzeit« an einschlägiger Stelle den von Wilhelm
vorgedachten Linien sorgsam und bis in die Fußnoten hinein
gefolgt. Wilhelms Text ist bis heute unüberholt zutreffend geblieben.
Ein komplettes Meisterwerk, auch durch die dickleibigsten
Monographien über die gleiche Zeit und denselben Gegenstand
nicht in den Schatten zu stellen.
Was nach dem Untertitel (»Die Herkunft der Methode Paul
Labands aus der Privatrechtswissenschaft«, Klostermann, Frankfurt
am Main, 1958) aussieht, als handele es sich um eine jener
unsäglichen Studien und dünnblütigen Exegesen,mit denen geisteswissenschaftliche
Mehlwürmer die staubigen Akten der Vergangenheit
in der Hoffnung durchwühlen, den »wahren« und »eigentlichen
« Urheber eines Gedankens zu finden, den wirklich »Ersten«
zu ermitteln, der dieses und jenes ausgeheckt hat, und sei es auch
nur »als Vorläufer« – gerade so, als käme es in der Wissensgeschichte
der Menschheit auf diesen Punkt besonders an, und nicht
auf die Frage, wer einen Gedanken warum zur Tat gebracht hat –,
was also aussieht wie eine klassische Durchschnittsstudie, war in
Wahrheit die zwingende Formulierung einer Einsicht, die heute
nahezu banal klingt, damals aber von Illusionen verbrennender
Kraft war. Im Kern und in einem Satz: Walter Wilhelm wies die
eminent politischen Absichten des programmatisch Unpolitischen
nach, enthüllte die verschwiegene Politik des sich selbst alle Politik
absprechenden (Rechts-)Positivismus und strafte die immer wieder
aufgetischte Juristenpropaganda von der Möglichkeit eines »reinen
« Rechts Lügen. Das war in den 50er Jahren eine sensationelle
und, besonders für Juristen, eine schwer verdauliche Lehre, deren
Verarbeitung manchen bis heute nicht gelungen ist.
Wer eine solche Arbeit geschrieben hat, braucht nichts mehr zu
schreiben. Er hat seinem Fach mehr gegeben als andere mit Tausenden
von Seiten.Und in derTat hatWalterWilhelmdanach nicht
mehr viel geschrieben. Einige kluge Aufsätze. Ein paar Konzepte.
Die juristische Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität
ernannte ihn, der weder das juristische Assessorexamen abgelegt
hatte noch habilitiert war, dennoch ohne Zögern zum Honorarprofessor,
so dass wir ranggleich in Universität und Institut wirken
konnten. Die Studenten verblüffte, verwirrte und verstörte der
wortgewaltige Professor, der lange Passagen auf Französisch, Englisch
und Italienisch rezitierte, durch chaotisch geistreiche Vorlesungen
zur vergleichenden europäischen Rechtsgeschichte des
19. Jahrhunderts. Vorlesungen, die vor ihm lediglich postuliert
und die nach ihm in Frankfurt nie wieder gehalten wurden.
Aber aufgezeichnet hat er so gut wie nichts mehr. Der zentrale
Band des von Walter Wilhelm entwickelten und geplanten, aber
von Coing ins Leben gerufenen »Handbuch der Quellen und
Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte«, in
dem nach Wilhelms Vorstellungen die Funktion des klassischen
Zivilrechts der Neuzeit als Gesellschaftstheorie dargestellt werden
sollte, ist nie erschienen. Dass dem so sein würde, wusste schon
1980, als ich neben Walter Wilhelm als Direktor und Nachfolger
von Coing in das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte
eintrat, jeder, außer mir und Walter Wilhelm. Er ahnte
es vielleicht, ich nicht.
Dass ich so wenig von ihm wusste, gehört sicher mit zu den
Bedingungen unseres Konflikts und unseres Scheiterns als Partner.
Ich wusste nicht, dass die Führung von Amtsgeschäften aller
Art, wie sie ein großes und international renommiertes Forschungsinstitut
naturgemäß mit sich bringt, ihm zutiefst zuwider war, so
vital zuwider, dass er Gremiensitzungen, Besprechungen, Haushaltsberatungen,
Aufsichtspflichten und überhaupt allen Kontrollaufgaben
systematisch und trotzig aus dem Weg ging. Ordneten
sich die Dinge allmählich zum Muster eines kleineren oder auch
größeren Skandals,wurde er krank – und zwar wirklich, nicht etwa
vorgegeben oder vorgetäuscht. Obwohl er gelegentlich auch davor
nicht zurückschreckte in seiner Verzweiflung über seine Zerrissenheit
zwischen dem Pflichtgefühl und seinem Ekel vor dessen
Konsequenzen.
Ich wusste auch nichts von seiner Abneigung gegen alles
Mechanische und Quantitative im Leben wie in der Wissenschaft,
nichts von seiner Verachtung der Schreibmaschine oder gar des
Computers, die er niemals gegen einen schmalen, weißen Stapel
unbeschriebenen Papiers und einen erstmals gespitzten Bleistift
eingetauscht hätte, und nichts von seiner Abscheu gegenüber der
als bürokratisch und servil verurteilten Gliederung der Wochen
nach Terminen und Veranstaltungen.
Und ich wusste schließlich nicht, dass manche seiner Kollegen
und Mitarbeiter schon längst die ersten Anzeichen und trüben
Signale jener selbstzerstörerischen Alkoholkrankheit beobachtet
hatten, die ihn langsam und unerbittlich zu unwürdigsten Maskeraden
zwang, seinen Elan bremste, seine Kraft verzehrte und am
Ende schließlich sogar seinen Gefäßen die Kraft nahm, das Blut zu
behalten.
Als ich die Situation begriff, mich von der Hoffnungslosigkeit
aller Heilungsversuche überzeugt hatte, alle Angebote, die Verhältnisse
im Stillen und hinter dem breiten Rücken der Max-
Planck-Gesellschaft einvernehmlich zu regeln, gereizt und verächtlich
zurückerhalten hatte, ließ ich es unfroh und in einer mir auch
nach 20 Jahren noch unsympathischen Mischung aus Selbsterhaltungswillen
und Ehrgeiz zum Eklat kommen.
Ein gefährlicher und zunächst wenig aussichtsreicher Anlauf
angesichts einer wissenschaftlichen Gesellschaft, die Skandale hasst
und geneigt ist, im Auslöser den Schuldigen zu suchen, angesichts
einer Professorengemeinschaft, deren Fernblick neben dem strah-
lenden Helden nichts anderes wahrzunehmen vermochte als den
minderbegabten bösartigen Terrier, und angesichts einer Institutsbesatzung,
deren bei weitem größter Teil den Zustand apathischer
Unbehelligtheit dem eines anstrengenden Neuanfangs entschieden
vorgezogen hätte.
So war es denn eher ein Zufall und gewiss nur dem außerordentlichen
Scharfblick eines einzigen Mannes zu verdanken,
nämlich dem des damaligen Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft,
Reimar Lüst, dass Walter Wilhelm nach vielen Untersuchungen,
Beratungen und Debatten schließlich in den vorzeitigen
Ruhestand versetzt wurde und das Institut für europäische Rechtsgeschichte
bis zum Eintritt von Michael Stolleis in einen untadeligen
Zustand gebracht werden konnte.
Walter Wilhelms wissenschaftliches Leben war mit dieser
Affäre und nach dem leidigen, auf seine Entpflichtung gerichteten
Verfahren zu Ende. Er schrieb jetzt überhaupt nichts mehr, zog sich
aus der Universität zurück und mied sorgfältig alle institutsöffentlichen
Auftritte.
Das war vor 20 Jahren. Unser Verhältnis war nach Lage der
Dinge irreparabel zerstört. Vom freundschaftlichen »Du« war
Wilhelm längst zum distanzierenden »Sie« zurückgekehrt. Unsere
Gespräche gehörten endgültig zur Vergangenheit. Ich war, und bin
ihm, uneingeschränkt dankbar für die zahlreichen Lehrstunden.
Aber er sah mich in die kalteWelt des Erfolgsmanagements versetzt
und wollte seine Tür nicht mehr öffnen.
Zunächst kam er noch mit einer gewissen Unregelmäßigkeit
ins Institut und begleitete dessen rasche Entwicklung vor den
Ohren der verbliebenen Getreuen mit ironisch-sarkastischen Kommentaren,
denen der frühere Witz noch keineswegs völlig abhanden
gekommen war. Die noble Großmut der Max-Planck-
Gesellschaft, die auch im Enttäuschungsfalle ihren Mitgliedern
Sekretariat und Ausstattung belässt, konnte jedoch die Lage nicht
mehr wirklich bessern oder wenigstens stabilisieren. Auch weil
Besserung und Stabilität nicht gewollt war.
Ein Mann, als Einzelner ausgestattet mit allen Gaben, die die
Natur sonst geizig auf Viele zu verteilen pflegt, hat diese Gaben nur
im Ansatz genutzt, sein Leben, auf das sich Bewunderung und
beträchtliche Hoffnungen gerichtet hatten, mit großer Geste pathetisch
verschleudert. Tragisch nennt man mit Vorliebe das Schicksal
von Personen, die in subjektiv ausweglose Konstellationen geraten.
Walter Wilhelm war in einer solchen Situation. Wie er dahin
gekommen ist, dafür gibt es sicherlich mancherlei Erklärungen.
Schlichte und komplizierte. Sie müssen hier nicht ausgebreitet
werden. Warum er auch tat, was er tat, er hatte zweifellos ein
Recht dazu. Dass sein Umgang mit seiner Lage für den Beobachter
auch komische Züge trug, rechtfertigt kein Lachen.
Nach der Berufung von Michael Stolleis an das Institut erschien
er nur noch selten. Langsam wurde er zu seinem Schatten,
der an Feiertagen oder spät am Abend in den Gängen des Instituts
den Schein einer Anwesenheit hervorrief und seiner Vergessenheit
keinen Widerstand entgegensetzte. Auch ich habe, wie alle anderen,
ihn allmählich aus den Augen verloren.
Zuletzt sah ich ihn bei der Beerdigung von Michael Klostermann,
dem feinsinnigen Verleger, Walter Wilhelm und mir sehr
zugetan und abberufen, als er sich eben anschickte, die Früchte
seiner Mühen einzubringen. Wilhelm saß in der letzten Reihe.
Ordensverleihungen und Vernissagen, Festempfänge und Beerdigungen
sahen ihn – wenn überhaupt – häufig an dieser Stelle. Er
liebte die letzten Reihen. Lieber Beobachter als Beobachteter. Noch
etwas, das wir gemeinsamhatten. Wir tauschten einen freundlichen
Gruß und setzten uns nebeneinander. Es war das letzteMal. Es gab
einen Händedruck und ein Hauch von Johnny Walker verwehte.
Jetzt ist er gestorben. Einsam, verblutet in der Badewanne, die
er liebte. In die er sich gern und häufig zur Trias aus Käse, Whisky
und Zeitung begab. Ein sanfter Tod, vermutlich. Er wird ihn aber
gespürt haben, denn das Blut verlässt den Körper nur langsam.
Wenn dem so war, dann hat er zweifellos mit einer großen und
eleganten Geste eingewilligt in den Abschied.
Dieter Simon

http://data.rg.mpg.de/rechtsgeschichte/rg02_recherche_simon.pdf