Author Topic: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"  (Read 2556 times)

KarlMartell

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Re: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"
« on: April 14, 2013, 07:45:21 am »
3. Beim Richter
Richter Abdo kann sein Erstaunen kaum verbergen.

»Du willst dich scheiden lassen?«

»Ja!«

»Aber … heißt das, dass du verheiratet bist?«

»Ja!«

Er hat feine Gesichtszüge und trägt ein weißes Hemd, das seine dunkle Haut hervorhebt. Als er meine Antwort hört, verfinstert sich seine Miene. Anscheinend kann er mir das nicht glauben.

»In deinem Alter … Wie kannst du schon verheiratet sein?«

»Ich will mich scheiden lassen!«, beharre ich in entschiedenem Ton, ohne auf seine Frage einzugehen.

Ich verstehe nicht so recht, warum, aber kein einziger Schluchzer kommt aus mir heraus, während ich mit ihm spreche. Als hätte ich meinen Vorrat an Tränen bereits erschöpft. Ich bin zwar völlig aufgewühlt, doch ich weiß, was ich will. Ja, ich will dieser Hölle entrinnen. Ich habe genug davon, das alles still zu erdulden.

»Aber du bist noch so jung und wirkst so zerbrechlich …«

Ich sehe ihn an und nicke. Er beginnt, nervös an seinem Schnurrbart zu zupfen. Wenn er doch nur bereit wäre, mir zu helfen! Schließlich ist er Richter und hat sicher viel Macht.

»Und warum willst du dich scheiden lassen?«, fragt er weiter, diesmal in einem natürlicheren Tonfall, anscheinend versucht er, sein Erstaunen zu verbergen.

Ich sehe ihm direkt in die Augen:

»Weil mein Mann mich schlägt!«

Von neuem erstarrt sein Gesicht, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Soeben hat er begriffen, dass mir etwas Schlimmes zugestoßen ist und dass ich keinen Grund habe, ihn zu belügen. Ohne Umschweife stellt er mir die entscheidende Frage:

»Bist du noch Jungfrau?«

Ich schlucke. Ich schäme mich, von diesen Dingen zu sprechen. Das ist peinlich. In meinem Land müssen Frauen zu Männern, die sie nicht kennen, Distanz wahren. Zudem sehe ich diesen Richter zum allerersten Mal. Doch im selben Augenblick wird mir klar, dass ich den Sprung ins kalte Wasser wagen muss, wenn ich aus alldem herauskommen will.

»Nein … Ich habe geblutet …«

Er ist schockiert, und ich habe den Eindruck, dass er plötzlich derjenige von uns beiden ist, der Angst bekommt. Seine Bestürzung entgeht mir nicht. Ich sehe genau, wie er versucht, seine Gefühle zu verbergen. Er atmet tief ein, dann sagt er:

»Ich werde dir helfen!«

Plötzlich wird mir ganz leicht zumute. Als ob mir ein Stein vom Herzen fällt. Endlich habe ich es geschafft, mich jemandem anzuvertrauen. Mit einer hektischen Bewegung sehe ich ihn nach dem Telefon greifen. Ich höre, wie er sich mit einer anderen Person, sicherlich einem Kollegen, austauscht. Während des Gesprächs wirbeln seine Hände in alle Richtungen. Er scheint entschlossen, mich aus meinem Alptraum zu befreien. Hoffentlich findet er eine endgültige Lösung für mich! Wenn ich Glück habe, handelt er schnell, sehr schnell, und ich kann schon heute Abend zu meinen Eltern zurückkehren und wieder mit meinen Geschwistern spielen. In ein paar Stunden werde ich geschieden sein. Geschieden! Wieder frei. Ohne Mann. Von der Angst befreit, bei Einbruch der Dunkelheit alleine mit dem Monster im Schlafzimmer zu sein. Von der Angst befreit, wieder und wieder die gleiche Qual zu erleiden.

Ich habe mich zu früh gefreut.

»Weißt du, Kleine, das kann länger dauern, als du denkst. Das ist eine heikle Angelegenheit. Und ich kann dir leider nicht garantieren, dass du gewinnst.«

Der zweite Richter, der gerade hereingekommen ist, setzt meiner Vorfreude ein jähes Ende. Er heißt Mohammad al-Ghazi und ist der Gerichtspräsident, der oberste Chef, wie mir Abdo erklärt. Er wirkt verlegen. In seiner ganzen Laufbahn, so sagt er, sei ihm noch kein Fall wie der meine begegnet. Beide erklären mir, dass die Mädchen im Jemen oft sehr jung verheiratet werden, unter dem gesetzlichen Mindestalter von fünfzehn Jahren. Das sei eine alte Tradition, erklärt mir Abdo. Doch seines Wissens wurde für keine dieser frühzeitig geschlossenen Ehen in unserem Land eine Scheidung eingereicht. Denn kein Mädchen hat sich, so wie ich, bisher bis zum Gericht aufgemacht. Das sei eine Frage der Familienehre, sagen sie. Meine Situation sei außergewöhnlich. Und kompliziert.

»Wir werden einen Anwalt finden müssen«, erklärt Abdo hilflos.

Einen Anwalt, aber wozu denn? Wozu ist ein Gericht gut, wenn es nicht einmal fähig ist, auf der Stelle eine Scheidung auszusprechen? Es ist mir völlig egal, ob ich ein außergewöhnlicher Fall bin. Sind Gesetze denn nicht dazu da, den Leuten zu helfen? Diese Richter sind ja ganz nett, aber ist ihnen klar, dass mich mein Mann, wenn ich ohne jegliche Sicherheit nach Hause komme, abholen wird und die Schikanen weitergehen? Nein, ich will nicht zu ihm zurück.

»Aber ich will mich scheiden lassen!«, sage ich in beschwörendem Ton.

Das Echo meiner Stimme lässt mich zusammenfahren. Ich habe wohl ein wenig zu laut gesprochen. Oder liegt es an den hohen Wänden, die wie ein Resonanzkörper wirken?

»Wir werden eine Lösung finden, wir werden eine Lösung finden«, murmelt Mohammad al-Ghazi und rückt seinen Turban zurecht.

Doch anscheinend macht ihm noch etwas anderes Sorgen. Soeben schlug die Uhr zweimal. Es ist vierzehn Uhr, also Büroschluss. Heute ist Mittwoch, und das Wochenende der Muslime steht vor der Tür. Das Gericht öffnet erst wieder am Samstag. Ich begreife, dass auch sie mich, nach allem, was sie eben gehört haben, ungern nach Hause schicken.

»Kommt nicht in Frage, dass sie zurück nach Hause geht. Und wer weiß, was ihr noch alles passiert, wenn sie alleine in den Straßen umherirrt«, fährt Mohammad al-Ghazi fort.

Abdo hat eine Idee: Ich könnte doch bei ihm zu Hause Unterschlupf finden. Noch immer scheint er meine Geschichte nicht verdaut zu haben und ist zu allem bereit, um mich aus den Klauen meines Mannes zu retten. Doch er nimmt sein Angebot gleich wieder zurück, als ihm einfällt, dass seine Frau und seine Kinder aufs Land gefahren sind. In unserer islamischen Tradition darf sich eine Frau nicht alleine bei einem Mann aufhalten, der nicht ihr mahram, also nicht direkt mit ihr verwandt ist.

Was tun?

Schließlich zeigt sich ein dritter Richter, Abdel Wahed, bereit, mich bei sich aufzunehmen. Bei ihm ist die Familie zu Hause, und sie haben Platz genug, um mich unterzubringen. Ich bin gerettet! Zumindest vorläufig. Abdel trägt ebenfalls einen Schnurrbart, doch er ist stämmiger als Abdo. Seine Nickelbrille verleiht ihm ein ernstes Aussehen, und in seinem Anzug wirkt er sehr imponierend. Ich traue mich nicht so recht, mit ihm zu sprechen. Doch ich reiße mich zusammen. Lieber überwinde ich meine Schüchternheit, als nach Hause zurückzugehen. Außerdem beruhigt es mich, dass er wie ein wirklicher Aba aussieht, der sich gut um seine Kinder kümmert. Nicht wie meiner …

Sein Auto ist groß und bequem. Und sehr sauber. Es kommt sogar kühle Luft aus kleinen Ventilatoren, die vorne im Auto eingebaut sind. Das kitzelt mir im Gesicht und ist sehr angenehm. Während der Fahrt mache ich kaum den Mund auf. Keine Ahnung, ob das an meiner Schüchternheit liegt oder an meiner Bangigkeit, oder einfach daran, dass ich mich jetzt so gut fühle, weil plötzlich so viele um meine Sicherheit besorgt sind und weil ich Menschen gefunden habe, die bereit sind, mir zu helfen.

Abdel Wahed bricht das Schweigen:

»Du bist ein sehr mutiges Mädchen! Bravo! Mach dir keine Sorgen, es ist dein gutes Recht, die Scheidung zu beantragen. Vor dir standen schon andere Mädchen vor demselben Problem, aber sie haben es leider nicht gewagt, darüber zu sprechen. Wir tun unser Möglichstes, um dich zu schützen. Wir werden nichts unversucht lassen. Und wir werden dich auf keinen Fall zu deinem Mann zurückschicken. Niemals! Ehrenwort!«

Meine Lippen formen sich zu einer Mondsichel. Es ist lange her, dass ich das letzte Mal gelächelt habe!

»Vielleicht ist es dir noch nicht klargeworden, aber du bist ein außergewöhnliches Mädchen!«, fügt er bekräftigend hinzu.

Ich werde rot.

Als wir zu Abdel Wahed nach Hause kommen, stellt er mich sofort seiner Frau Saba und seinen Kindern vor. Ihre Tochter Shima dürfte drei bis vier Jahre jünger sein als ich. In ihrem Zimmer hat sie ganz viele Fulla-Puppen, die orientalische Version der blonden amerikanischen Barbie, von der die Mädchen im Jemen träumen.

»Haram!«

Das ist Shimas spontane Reaktion auf die Mitteilung ihrer Omma, dass ein böser Mann mich geschlagen habe. Die Kleine runzelt die Stirn und ahmt einen Erwachsenen nach, der dazu ansetzt, jemanden auszuschimpfen. Es berührt mich, dass sie so mitfühlend ist. Mit einem kameradschaftlichen Lächeln nimmt sie mich an der Hand und gibt mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich ihr folgen soll, um mit ihr zu spielen.

Die vier Jungen schauen sich derweil Trickfilme an. Es gibt hier zwei Fernseher. Was für ein Luxus!

»Fühl dich wie zu Hause«, sagt Saba mit sanfter, einladender Stimme.

 

So kann also Familienleben aussehen. Zuerst hatte ich Bammel, dass sie mich neugierig anstarren würden, und jetzt gehöre ich schon zu ihnen. Ich fühle mich wohl! Sie geben mir das Gefühl, dass ich ihnen alles sagen kann. Ohne verurteilt zu werden. Ohne bestraft zu werden. An diesem Abend sitze ich im Schneidersitz im Wohnzimmer und habe zum ersten Mal die Kraft, meine Geschichte zu erzählen.