Author Topic: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"  (Read 2565 times)

KarlMartell

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Re: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"
« on: April 14, 2013, 07:49:08 am »
Auch von meinen beiden Lieblingslehrerinnen, Samia und Samira, musste ich mich verabschieden. Sie hatten mir beigebracht, meinen Vornamen auf Arabisch zu schreiben, von rechts nach links – den Bogen des »noun«, den Hüftschwung des »jim«, die Schlaufe des »waou« und die Zange des »del«: Nojoud! Ich hatte ihnen viel zu verdanken.

Mathematik und der Koranunterricht zählten zu meinen Lieblingsfächern. In der Schule hatten wir die fünf Säulen des Islams auswendig gelernt: die chahada, das Glaubensbekenntnis, die fünf täglichen Gebete, der haj, also die große Pilgerreise nach Mekka, der zakat, das Almosen, das man den Bedürftigen gibt, um ihnen zu helfen, und schließlich der Fastenmonat Ramadan, während dem man zwischen Aufgang und Untergang der Sonne weder essen noch trinken darf. Wenn wir einmal größer seien, sagte Samia zu uns, würden auch wir fasten.

Doch am liebsten mochte ich den Malunterricht. Mit meinen Buntstiften malte ich Birnen und Blumen. Und auch Villen mit blauen Dächern, grünen Fensterläden und roten Schornsteinen. Vor dem Eingangstor stellte ich zuweilen einen Wächter in Uniform dar. Ich hatte gehört, dass die Häuser von Leuten, die viel Geld haben, von Wächtern beschützt werden. Im Garten malte ich immer viele Obstbäume. Mit einem kleinen Wasserbecken in der Mitte.

In der Pause spielten wir Verstecken und sagten Abzählreime auf. Ich hatte die Schule für mein Leben gern. Sie war mein Zufluchtsort, mein eigener kleiner Glücksmoment.

Auch die kurzen Abstecher zu meinen Nachbarn, die nur ein paar Meter von uns entfernt wohnten, konnte ich nun vergessen. Bei ihnen gab es ein Transistorradio. Ich hatte es mir angewöhnt, sie mit meiner kleinen Schwester Haïfa zu besuchen und Kassetten von Haïfa Wehbe und Nancy Ajram zu hören, zwei hübschen libanesischen Sängerinnen mit langen Haaren und einer Menge Make-up. Sie hatten schöne Augen und vollendete Nasen. Wir vergnügten uns damit, sie zu imitieren, indem wir mit den Wimpern klimperten und die Hüften wiegten. Es gab auch eine jemenitische Sängerin, Jamila Saad, die uns gut gefiel. Ein echter Star! »Du bist so stolz auf dich. Du meinst, du bist der Beste«, hieß es in einem ihrer Liebeslieder.

Unsere Nachbarn gehörten zudem zu den wenigen Glücklichen im Viertel, die einen Fernseher besaßen. Fernsehen war für mich wie Reisen. Ich liebte »Tom und Jerry«, das war meine Lieblingszeichentrickserie, aber auch »Adnan und Lina«, die Geschichte zweier asiatischer Freunde in einem fernen Land. Sie hatten alle beide Schlitzaugen. Ich glaube, sie waren Japaner oder Chinesen. Aber das Unglaubliche war, dass sie arabisch sprachen wie ich, ganz ohne Akzent! Adnan war ein mutiger Junge, der Lina immer helfen wollte. Er rettete sie auch mehrmals aus den Fängen böser Figuren, die sie entführen wollten. Hatte sie ein Glück! Ich beneidete sie sehr.

Adnan erinnerte mich an Eyman, einen Jungen aus Al-Qa, den ich nie vergessen werde. Eines Tages, als ich mit ein paar Freundinnen die Straße entlangging, versperrte uns ein Junge den Weg. Er wollte uns Angst machen und rief unanständige Dinge, die sich wie Beleidigungen anhörten, deren Bedeutung ich aber nicht wirklich verstand. Als er unsere verschüchterten Gesichter sah, grinste er blöd. Da tauchte unerwartet Eyman auf und schnappte ihn sich.

»Hau ab, oder ich werfe dir Steine ins Gesicht!«, drohte er ihm.

Verängstigt hatte der Junge die Flucht ergriffen. So eine Erleichterung! Das war das erste und letzte Mal, dass mich jemand verteidigt hat. Eyman wurde für mich zum Held meiner Träume. Ich sagte mir, dass ich, wenn ich einmal groß wäre, vielleicht das Glück haben würde, einen Mann wie ihn zu bekommen.

 

»Jujujujujuju!!!«

Die Cousinen der Familie klatschten in die Hände, als sie mich ankommen sahen. Ich konnte kaum ihre Gesichter erkennen, denn Tränen erfüllten meine Augen. Ich schritt langsam voran und gab mir größte Mühe, nicht über das Gewand zu stolpern, das mir zu groß war und über den Boden streifte. Man hatte mir auf die Schnelle eine lange schokoladenbraune, halb verwaschene Tunika übergezogen, die der Frau meines künftigen Schwiegervaters gehörte. Eine Verwandte hatte mir die Haare zu einem Knoten gerafft, der mir auf den Kopf drückte. Ich bekam nicht einmal einen Strich Wimperntusche auf die Augen. Als mein Blick einen kleinen Spiegel streifte, konnte ich rasch meine runden Wangen und meine braunen Mandelaugen betrachten, die sich zur Seite hin leicht verengten. Meine Stirn war glatt und meine Lippen hellrot. So genau ich mein Gesicht untersuchte, ich konnte keine einzige Falte erkennen. Ich war zu jung, viel zu jung.

Keine zwei Wochen waren seit dem Heiratsantrag vergangen. Nach den hiesigen Bräuchen fand das Fest unter Frauen im winzigen Haus meiner Eltern statt. Wir waren allerhöchstens vierzig Personen. Währenddessen saßen die Männer bei einem meiner Onkel, um kath zu kauen. Ebenfalls unter Männern und hinter verschlossener Tür war zwei Tage zuvor der Ehevertrag unterzeichnet worden. Alles war ohne mein Wissen geschehen. Weder ich noch meine Mutter oder meine Schwestern hatten das Recht, zu erfahren, was geschah. Nur weil sich meine kleinen Brüder auf die Straße aufgemacht hatten, um etwas Geld für die Verköstigung der Runde zu erbetteln, die sich aus Aba, meinem Onkel und meinem künftigen Mann in Begleitung seines Bruders und seines Vaters zusammensetzte, hatten wir am Spätnachmittag Wind von der Sache bekommen. Das Treffen hatte unter Einhaltung genau festgelegter Stammesregeln stattgefunden. Der Schwager meines Vaters, der als Einziger lesen und schreiben konnte, diente als Notar. Er verfasste den Vertrag. Es wurde beschlossen, dass meine Mitgift 150 000 Rial betragen sollte.

»Keine Sorge«, hörte ich meinen Vater meiner Mutter zuflüstern, als es dunkel geworden war. »Er musste uns versprechen, dass er Nojoud bis ein Jahr nach ihrer ersten Periode nicht anrührt.«

Ein Schauder durchfuhr meinen Körper.

Das Fest, das zur Mittagszeit begonnen hatte, war im Nu wieder vorbei. Ohne weißes Kleid. Ohne Henna-Blumen auf den Händen. Ohne meine Lieblingsbonbons mit Kokosnuss, die ich so sehr mag und die mich an den süßen Geschmack meiner glücklichen Tage erinnern. Mir jedoch schien es eine Ewigkeit zu dauern. In einer Zimmerecke sitzend, weigerte ich mich, mit den anderen Frauen zu tanzen, denn langsam begriff ich, dass mein Leben sich an einem Wendepunkt befand. Doch nicht zum Besseren. Die Jüngsten begannen, ihre Bauchnabel zur Schau zu stellen und sich hin- und herzuwiegen wie in einem kitschigen Videoclip. Hand in Hand erhoben sich die Älteren zu traditionelleren Folkloretänzen, wie man sie in den Dörfern sieht. Zwischen zwei Musikstücken machten sie eine Pause und sprachen mir Grüße aus. Ich gab ihnen einen Kuss, wie es sich gehörte. Doch es gelang mir nicht einmal, ein Lächeln aufzusetzen.

Ich blieb, das Gesicht aufgedunsen vom vielen Weinen, regungslos in einer Ecke des Wohnzimmers sitzen. Ich wollte meine Familie nicht verlassen. Ich fühlte mich noch nicht bereit. Ich vermisste die Schule bereits entsetzlich, und Malak noch viel mehr. Als ich während des Festes dem traurigen Blick meiner kleinen Schwester Haïfa begegnete, begann mir klarzuwerden, dass ich auch sie vermissen würde. Eine Befürchtung erfüllte plötzlich meine Gedanken: Was, wenn auch sie zum selben Schicksal verdammt wäre wie ich?

Bei Sonnenuntergang zogen sich die Gäste zurück, und ich nickte vollständig bekleidet neben Haïfa ein. Meine Mutter kam etwas später zu uns, nachdem sie das Wohnzimmer aufgeräumt hatte. Als mein Vater von seiner Männerversammlung nach Hause kam, waren wir alle schon eingeschlafen. In meiner letzten Nacht als Unverheiratete träumte ich nichts. Ich erinnere mich genauso wenig daran, unruhig geschlafen zu haben. Ich fragte mich lediglich, ob ich am nächsten Morgen wie aus einem bösen Traum erwachen würde.

Als die Sonnenstrahlen gegen sechs Uhr morgens in das Schlafzimmer fluteten, riss mich Omma aus dem Schlaf und winkte mich in den kleinen Gang. Wie jeden Morgen verneigten wir uns vor Allah und sprachen dabei das erste Gebet des Tages. Dann servierte sie mir eine Schale mit foul – weißen Bohnen mit Zwiebeln und Tomatensoße, die man zum Frühstück isst – und dazu eine Tasse chai – Tee – mit Milch.

Ein kleines Bündel erwartete mich vor der Tür, doch ich tat, als hätte ich es nicht gesehen. Erst als vor dem Haus eine Hupe erklang, musste ich mich in mein neues Leben voller Ungewissheiten fügen. Meine Mutter drückte mich fest an sich und half mir dann, mich in meinen Mantel und ein schwarzes Kopftuch zu hüllen. In den Jahren zuvor hatte ich mich mit einem kleinen bunten Schleier begnügt, wenn ich auf die Straße ging. Es kam sogar vor, dass ich ihn vergaß, doch das kümmerte niemanden. Dann sah ich, wie Omma in das Bündel fasste und einen schwarzen niqab daraus hervorholte, den sie mir übergab. Bis zu diesem Tag war ich noch nie dazu gezwungen worden, mich vollständig zu verschleiern.

»Von heute an musst du dich verschleiern, wenn du auf die Straße gehst. Du bist jetzt eine verheiratete Frau. Dein Gesicht darf nur dein Mann sehen. Denn sein sharaf – seine Ehre – steht auf dem Spiel. Und du darfst seine Ehre nicht beflecken.«

Ich nickte traurig und verabschiedete mich von ihr. Ich war böse auf sie, dass sie mich im Stich ließ, aber ich fand keine Worte, um ihr meinen Schmerz auszudrücken.

Auf dem Rücksitz des Geländewagens, der mich vor der Eingangstür erwartete, saß ein kleiner Mann, der mich anstarrte. Er trug eine lange weiße Tunika, wie Aba, und einen Schnurrbart. Sein zerzaustes Haar war kurzgeschnitten und leicht gelockt. Er hatte braune Augen und war schlecht rasiert. Seine Hände waren ölverschmiert. Er war kein schöner Mann. Auf mich wirkte er wie ein Monster. Das also war Faez Ali Thamer, der sich dazu entschlossen hatte, mich zur Frau zu nehmen, dieser Unbekannte, dem ich vielleicht schon einmal in Khardji begegnet war, wohin wir in den letzten Jahren zuweilen zurückgekehrt waren, jedoch konnte ich mich nicht an ihn erinnern.

Mir wurde der Platz auf der ersten Rückbank hinter dem Fahrer zugewiesen, neben vier weiteren Fahrgästen, darunter die Frau vom Bruder meines Mannes.

Sie alle lächelten verkrampft und wirkten nicht sehr gesprächig. Er, der Unbekannte, saß neben seinem Bruder auf der zweiten Rückbank. Ich war etwas beruhigt, dass ich ihm während unserer langen Fahrt nicht ins Gesicht sehen musste. Doch spürte ich seinen Blick auf mir, was mich erschauern ließ. Wer war er eigentlich? Warum hatte er mich heiraten wollen? Was erwartete er von mir? Und was bedeutete Heirat denn eigentlich genau? Auf all diese Fragen hatte ich keine Antwort.

Als der Motor zu knattern begann und der Fahrer auf das Gaspedal trat, konnte ich mir ein paar weitere Tränen nicht verkneifen. Mein Herz klopfte mir bis an den Hals. Das Gesicht ans Fenster gepresst, ließ ich Omma nicht aus den Augen, bis von ihr nur noch ein winzig kleiner Punkt übrig blieb, der im Unendlichen verschwand.

Ich gab während der ganzen Fahrt kein Wort von mir. Gedankenverloren hatte ich nur diese eine Idee im Kopf: ein Mittel zu finden, um wieder nach Hause zu können. Reißaus nehmen! Doch je weiter sich das Auto von Sanaa entfernte, desto klarer wurde mir, dass ein solcher Versuch aussichtslos wäre. Immer wieder war ich drauf und dran, mir den niqab herunterzureißen, durch den ich kaum Luft bekam. Ich fühlte mich klein, zu klein für all das. Für diesen niqab, für diese lange Reise, weit entfernt von meinen Eltern, für dieses neue Leben an der Seite eines Mannes, der mich anwiderte und den ich nicht kannte. Der Geländewagen bremste abrupt.

»Kofferraum aufmachen!«

Die Stimme des Soldaten schreckte mich auf. Erschöpft vom vielen Weinen, war ich schließlich eingenickt. Doch dann fiel mir sogleich wieder ein, dass an der Straße nach Norden zahlreiche Kontrollposten aufgestellt waren und wir uns erst am ersten befanden. Sie hingen anscheinend mit dem Krieg zusammen, der im Norden zwischen der Armee und den Al-Huthi-Rebellen wütete. Mein Vater sagt, die Huthis seien Schiiten, während die meisten Jemeniten Sunniten sind. Was der Unterschied ist? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich weiß nur, dass ich Muslimin bin und täglich meine fünf Gebete spreche.

Nach einem kurzen Blick ins Innere des Wagens gab uns der Soldat das Zeichen zur Weiterfahrt. Hätte ich doch nur die Gelegenheit genutzt, ihn um Hilfe zu bitten und mich aus dieser Lage zu retten! Hatte er denn mit seiner grünen Uniform und der geschulterten Waffe nicht die Aufgabe, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen? Ich hätte ihm doch sagen können, dass ich Sanaa nicht verlassen wollte, dass ich befürchtete, mich auf dem Dorf zu langweilen, und dort niemanden mehr kannte.

An die Hauptstadt Sanaa hatte ich mich schließlich gewöhnt. Ich mochte die Baustellen, die breiten Straßen, die Werbeplakate für Handys und Orangenlimonade, die am Gaumen prickelt. Die Luftverschmutzung und die Staus waren für mich zum Alltag geworden. Doch vor allem würde ich die Altstadt, Bab al-Yemen, das Tor des Jemen, vermissen. Bab al-Yemen, eine regelrechte Stadt in der Stadt, ein zauberhaftes Viertel, durch das ich gerne schlenderte, an Monas oder Jamilas Hand, und mich dabei fühlte wie eine Abenteurerin, die auf Forschungsreise geht. Eine Welt für sich, mit Lehmhäusern und weißen Arabesken als Fensterschmuck. So zart waren diese Muster, dass ich mir vorstellte, indische Architekten wären vor sehr langer Zeit dort vorbeigekommen, lange vor meiner Geburt. Dieses Viertel war so edel, dass ich mir die Geschichte eines Königs und einer Königin erdacht hatte, die dort glückliche Tage verlebt haben mussten. Vielleicht gehörte ihnen sogar die gesamte Altstadt?

Sobald man Bab al-Yemen betrat, ertönten von überallher Geräusche: Die Rufe der Händler und barfüßigen Bettler vermischten sich mit dem Gedudel alter Kassettenrekorder. In einer Seitengasse konnte es vorkommen, dass ein junger Schuhputzer einen am Fuß packte und seine Dienste anbot. Dann plötzlich übertönte der Ruf zum Gebet das wirre Konzert. Mit Vergnügen streckte ich die Nase in die Luft und schnupperte den Duft von Kümmel, Zimt, Nelken, Nüssen und Rosinen, die aus den Verkaufsständen kullerten. Zuweilen stellte ich mich auf die Fußspitzen, um das Warenangebot der Stände besser zu überblicken, denn sie waren etwas zu hoch für mich. Sie drängten sich, so weit das Auge reichte, und boten in buntem Durcheinander jambias aus Silber, gestickte Dreieckstücher, Teppiche, süße Krapfen, Henna und Kleider für kleine Mädchen in meinem Alter.

In Bab al-Yemen konnte es auch geschehen, dass einem Frauen mit langen, buntgeblümten Schleiern begegneten, die man sitara – Vorhänge – nennt. Ich sagte mit Vorliebe »die Altstadtdamen« zu ihnen, denn ihre Gewänder in fröhlichen Farben unterschieden sich stark von den schwarzen Schleiern, die Frauen für gewöhnlich auf der Straße trugen, und schienen einem anderen Zeitalter entsprungen.

 

Eines Nachmittags, als ich meine Tante zum Einkaufen begleitete, verirrte ich mich schließlich im dichten Gedränge. Ich hatte mich von dieser fast übernatürlichen Welt ablenken lassen, die ich mit beiden Augen genüsslich in mich aufsog. Ich machte kehrt, um meine Tante wiederzufinden. Doch bald stellte ich fest, dass sich die Gassen alle ähnelten. Musste ich nun die nächste rechts abbiegen? Oder links? Verwirrt und schluchzend sank ich in die Knie. Ich war verloren. Nichts zu machen. Und es dauerte gut zwei Stunden, bis mich ein Händler bemerkte, der meine Tante kannte.

»Nojoud, wann hörst du endlich auf, so kopflos durch die Welt zu gehen?«, herrschte sie mich an und packte mich bei der Hand.