Author Topic: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"  (Read 2572 times)

KarlMartell

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Re: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"
« on: April 14, 2013, 07:51:13 am »
5. Shada
9. April 2008

Das Handy ans Ohr gedrückt, geht Shada in der Halle des Gerichts auf und ab.

»Wir müssen alles unternehmen, um Nojoud aus den Klauen ihres Mannes zu befreien! Wir müssen die Presse, die Frauenverbände einschalten …«, höre ich sie rufen. Dann legt sie auf und kniet sich vor mich, um mit mir auf Augenhöhe zu sein.

»Hab keine Angst, Nojoud, ich helfe dir, dich scheiden zu lassen!«

Noch nie hat mir jemand so viel Beachtung geschenkt.

Shada Nasser ist Rechtsanwältin. Es heißt, sie sei eine sehr wichtige Anwältin, eine der bedeutendsten im Jemen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt! Mit aufgerissenen Augen sehe ich sie bewundernd an. Schön ist sie, Shada. Und so sanft.Ihre Stimme ist etwas schrill, und sie redet schnell, wahrscheinlich, weil sie ständig in Eile ist. Ihr Parfum duftet nach Jasminblüten. Schon beim ersten Anblick mochte ich sie sehr. Im Gegensatz zu den Frauen meiner Familie trägt sie nie einen Schleier. Es ist selten im Jemen, dass eine Frau keinen niqab trägt. Shada hat einen langen schwarzen Seidenmantel an. Und für den Kopf begnügt sie sich mit einem farbigen Tuch. Ihr Teint strahlt, und das Rot ihrer Lippen verleiht ihr das Aussehen einer eleganten Dame, wie in einem Film. Übrigens wirkt sie mit ihrer Sonnenbrille tatsächlich wie ein Filmstar. Welch ein Gegensatz zu all den verschleierten Frauen, denen man auf der Straße begegnet!

»Mit mir an deiner Seite hast du nichts zu befürchten«, fügt sie hinzu und streicht mir beruhigend über das Gesicht.

Heute Morgen war sie gleich, als sie mich erkannte, auf mich zugekommen. Im Gericht hatte man ihr nach dem Wochenende von mir erzählt. Meine Geschichte wühlte sie auf. Sie sagte sofort alle weiteren Termine ab. Und der Richter musste ihr versprechen, sie zu benachrichtigen, sobald ich zurückkommen würde. Sie wollte mich um jeden Preis treffen.

»Entschuldigung, bist du das Mädchen, das seine Scheidung einreichen will?«, fragte sie mich zunächst, als sie auf dem Hof, der zum Gericht führt, auf mich zugekommen war.

»Ja, genau«, antwortete ich.

»Mein Gott! Komm, das müssen wir unbedingt besprechen.«

Es ist einiges passiert in den letzten Tagen. Mir dreht sich noch alles im Kopf. Das ganze Wochenende über – im Jemen sind das der Donnerstag und der Freitag – behandelten mich Richter Abdel Wahed und seine Frau mit einer Freundlichkeit, die ich nicht erwartet hätte. Sie verwöhnten mich mit Spielsachen, leckeren Gerichten, einer heißen Dusche und sogar einem Gutenachtkuss vor dem Einschlafen. Wie ihre eigenen Kinder! Im Haus durfte ich sogar den Schleier, den verheiratete Frauen tragen, abnehmen. Vor meiner Schwiegermutter musste ich ihn immer zurechtziehen, sobald er etwas verrutschte. Was für ein Glück, keine Stockhiebe fürchten zu müssen, nicht vor Angst zu zittern, wenn man schlafen geht, nicht aufzuschrecken, wenn nur eine Tür knallt! Doch trotz all dieser Zuwendung waren meine Nächte noch sehr unruhig. Jedes Mal, wenn ich einschlafe, habe ich den Eindruck, dass mir der Wirbelsturm auflauert und die Tür, wenn ich die Augen zu lange schließe, wieder aufgehen kann. Und dass das Monster zurückkommt … Wie grässlich! Richter Abdel Wahed sagt aber, das sei normal, und es würde noch lange dauern, bis ich all dieses Leid vergessen habe.

Als er mich am Samstagmorgen zum Gericht zurückbringt, fällt mir die Rückkehr in die Realität schwer. Um neun Uhr sitzen wir schon in seinem Büro, zusammen mit den beiden anderen Richtern, Abdo und Mohammad al-Ghazi, die mir freundlich zulächeln, als sie mich kommen sehen. Hm, aber leider quält Mohammad al-Ghazi ein neues Problem.

»Nach jemenitischem Recht ist es schwierig, wenn du gegen deinen Vater und deinen Mann eine Klage einreichen willst«, sagt er zu mir.

»Und warum?«

»Das ist ein bisschen kompliziert für ein Mädchen in deinem Alter. Es ist schwer zu erklären.«

Dann zählt er mir mehrere Hindernisse auf. Wie die meisten Kinder, die auf dem Dorf geboren werden, habe ich keine Papiere und nicht einmal eine Geburtsurkunde. Zudem bin ich zu jung, um ein Gerichtsverfahren zu eröffnen. Alles Gründe, die einem gelehrten Mann wie Mohammad al-Ghazi sehr konkret erscheinen, die mir aber kaum einleuchten. Ich muss mich jedoch damit zufriedengeben, die positive Seite der Dinge zu sehen. Wenigstens, so sage ich mir, bin ich fürsorglichen Richtern begegnet, die bereit sind, mir zu helfen. Schließlich sind sie nicht dazu gezwungen, sich um mich zu kümmern. Wie viele andere auch hätten sie mein Ansuchen ignorieren und mir raten können, nach Hause zu gehen und meine Pflichten als Ehefrau zu erfüllen. Denn es war ja tatsächlich ein Vertrag unterschrieben und einstimmig von allen Männern meiner Familie gebilligt worden. Nach jemenitischer Tradition ist er also gültig.

»Wie die Dinge stehen«, fährt Mohammad al-Ghazi an seine Kollegen gerichtet fort, »müssen wir schnell handeln. Ich schlage also vor, dass wir Nojouds Vater und ihren Mann in Untersuchungshaft nehmen. Sie sind besser im Gefängnis aufgehoben als in Freiheit, wenn wir Nojoud schützen wollen.«

Gefängnis? Was für eine harte Strafe! Würde mir mein Aba das verzeihen? Plötzlich überfallen mich Scham- und Schuldgefühle. Und wie beschämend für mich, als sie mich bitten, den Soldaten, der sie verhaften soll, zu begleiten, damit er auch die richtige Adresse findet! Meine Familie hat mich das ganze Wochenende nicht gesehen und nimmt sicher an, dass ich wie mein Bruder Fares für immer geflohen bin. Ich möchte mir nicht einmal das Gesicht meiner Mutter vorstellen, wenn meine kleinen Brüder und Schwestern das Brot für ihr Frühstück verlangen! Zudem erinnere ich mich, dass mein Vater kurz vor meiner Flucht krank wurde und sogar anfing, Blut zu spucken. Würde er eine Inhaftierung überleben? Ich würde mir mein ganzes Leben lang Vorwürfe machen, wenn er sterben würde.

Aber ich habe keine andere Wahl. Wenn die Netten leiden, müssen die Bösen bestraft werden, hatte mir Abdo erklärt. Schließlich steige ich also in das Auto des Soldaten. Doch als wir vor der Haustür ankommen, ist sie von innen zweimal verriegelt. Ich fühle mich seltsam erleichtert. Und als der Soldat einige Stunden später wieder unser Haus aufsucht, muss ich ihn nicht mehr begleiten.

Noch am selben Abend wird beschlossen, mich an einen sicheren Ort zu bringen. Im Jemen gibt es keine Heime für Mädchen wie mich. Ich kann ja nicht bei Abdel Wahed Wurzeln schlagen, der schon genügend Entgegenkommen gezeigt hat.

»Wer ist dein Lieblingsonkel?«, fragt mich einer der Richter.

Mein Lieblingsonkel? Wenn ich es mir recht überlege, fällt mir nur Shoyi ein, der Bruder von Omma, ein ehemaliger Soldat der jemenitischen Armee, groß und stämmig, inzwischen im Ruhestand, und er genießt eine gewisse Autorität in meiner Familie. Er wohnt in Beit Boss, einem Viertel weit von uns entfernt, mit seinen zwei Frauen und seinen sieben Kindern. Er hat sich zwar nicht gegen meine Heirat ausgesprochen, aber er verkörpert so etwas wie Ordnung und schlägt wenigstens nicht seine Töchter. Shoyi ist nicht sehr gesprächig, was mir gelegen kommt. Er vermeidet es, mir zu viele Fragen zu stellen, und lässt mich mit meinen Cousins spielen. Abends, vor dem Einschlafen, danke ich Allah, dass mir Shoyi meine Dreistigkeit nicht vorwarf und sich nicht einmal nach dem Anlass meiner Flucht erkundigte. Eigentlich, so sage ich mir, ist ihm diese Geschichte sicher genauso unangenehm wie mir.

Die folgenden vier Tage erscheinen mir lang und eintönig. Ich verbringe die meiste Zeit am Gericht und hoffe auf ein Wunder, eine unerwartete Lösung. Doch die weiteren Aussichten sind leider nicht besonders klar. Die Richter haben mir versprochen, ihr Möglichstes zu unternehmen, um meine Scheidung zu erreichen, doch sie brauchen Zeit. Schon lustig, seit ich nun täglich in diesen Hof komme, der schwarz vor Menschen ist, habe ich mich inzwischen an diese Menge gewöhnt, die mich anfangs so eingeschüchtert hatte. Ich erkenne schon von weitem am Fuße der Treppe die kleinen Tee- und Saftverkäufer. Der Junge mit der Waage hat die ganze Zeit damit zu tun, die Besucher zu wiegen, die es nicht so eilig haben. Neuerdings lächle ich ihm manchmal ermutigend zu, wenn ich ihm begegne. Jedoch wird mir bei jedem Besuch am Gericht schwer ums Herz. Wie oft werde ich noch den Weg hierher machen müssen, bis wieder ein ganz normales Mädchen aus mir wird? Abdo warnte mich, mein Fall sei außergewöhnlich. Doch was tun die Richter mit einem außergewöhnlichen Fall? Keine Ahnung. Die Antwort meine ich endlich mit Shada gefunden zu haben, der schönen Rechtsanwältin mit der Sonnenbrille.

Als sie mich heute Morgen ansprach, fiel mir ihre Ergriffenheit auf, als sie mich ansah und dann rief: »Mein Gott!« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und schmiss ihren sichtlich vollgepackten Terminplan um. Sogleich rief sie der Reihe nach ihre Angehörigen, Freunde und Kollegen an. »Ich muss mich um einen wichtigen, um einen sehr wichtigen Fall kümmern«, hörte ich sie mehrmals sagen.

Diese Frau scheint über eine unerschöpfliche Geduld zu verfügen! Abdel Wahed hat recht. Sie ist eine beeindruckende Rechtsanwältin. Sie muss viel Macht haben. Ihr Handy klingelt unaufhörlich. Und all diese Menschen, die ihr über den Weg laufen, grüßen sie immer sehr höflich.

»Nojoud, du bist für mich wie eine Tochter! Ich lasse dich nicht im Stich!«, flüstert sie mir ins Ohr.

So langsam fange ich an, ihr zu glauben. Diese Frau hat keinen Grund, zu lügen. Ich fühle mich wohl mit Shada. An ihrer Seite habe ich das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Sie findet immer die richtigen Worte. Ihre melodische Stimme tröstet mich.

Sie hat es geschafft, dass ich wieder zuversichtlicher ins Leben blicke. Und wenn die Welt um mich herum untergehen sollte, weiß ich, dass sie mir beistehen wird. Bei ihr spüre ich zum ersten Mal diese mütterliche Zuneigung, die mir meine Mutter nicht geben wollte oder vielleicht nicht geben konnte, weil zu viele Sorgen auf ihr lasteten.

Eine Frage jedoch bohrt weiter in mir.

»Shada?«, wage ich sie schließlich anzusprechen.

»Ja, Nojoud?«

»Darf ich Sie etwas fragen?«

»Natürlich!«

»Können Sie mir versprechen, dass ich nie wieder zu meinem Mann zurückmuss?«

»Inch’Allah, Nojoud. Ich werde alles unternehmen, um zu verhindern, dass er dir noch einmal etwas zuleide tut. Alles wird gut. Alles wird gut. Aber …«

»Aber was?«

»Du musst stark sein, denn es kann noch dauern.«

»Wie lange?«

»Denk jetzt nicht daran. Sag dir, dass das Schlimmste überstanden ist. Nämlich, dass du die Kraft für die Flucht aufgebracht hast, das war eine Heldentat von dir!«

Als ich seufze, huscht Shada ein Lächeln über die Lippen, und sie tätschelt mir zärtlich den Kopf.

»Darf ich dir auch eine Frage stellen?«, fährt sie fort.

»Ja.«

»Wo hast du den Mut hergenommen, bis zum Gericht zu fliehen?«

»Den Mut zu fliehen? Ich konnte seine Boshaftigkeit nicht mehr ertragen. Ich konnte einfach nicht mehr …«