Author Topic: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"  (Read 2562 times)

KarlMartell

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Re: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"
« on: April 14, 2013, 07:53:59 am »
Als ich wieder bei meinen Eltern war, wurde mir klar, dass mir nicht viel Zeit blieb, um etwas zu unternehmen, falls ich diesen Mann loswerden und dem Alptraum entgehen wollte, nach Khardji zurückkehren zu müssen. Fünf Tage vergingen. Fünf schwierige Tage, an denen ich ständig das Gefühl hatte, gegen eine Wand zu reden. Weder mein Vater noch meine Brüder oder Onkel waren bereit, mich anzuhören.

Ich wollte nichts unversucht lassen, in der Hoffnung, auf ein offenes Ohr zu stoßen, und so landete ich schließlich bei Dowla, der zweiten Frau meines Vaters. Sie wohnte mit ihren fünf Kindern in einer winzigen Wohnung im ersten Stock eines verwahrlosten Mietshauses in einer Sackgasse, direkt gegenüber von unserer Straße. Von der Angst getrieben, wieder nach Khardji zurückgeschickt zu werden, stieg ich die Treppe hoch und kniff mir die Nase zu, um nicht den Modergeruch einatmen zu müssen, der sich mit dem Gestank vom Müll und vom Kot der Gemeinschaftstoiletten vermischte. In ihrem langen, rotschwarzen Kleid öffnete mir Dowla mit einem breiten Lächeln die Tür.

»Ya Nojoud! So eine Überraschung, dich hier zu sehen. Herzlich willkommen!«, sagte sie und winkte mich herein.

Ich mochte Dowla. Sie hatte dunkle Haut und lange Haare, die sie zu Zöpfen flocht. Sie war groß, schlank und schöner als Omma. Dowla schimpfte nie mit mir. Sie war die Geduld in Person, obwohl die Arme vom Leben nicht gerade verwöhnt worden war. Sie war spät, erst mit zwanzig, verheiratet worden. Mein Vater hatte sie vollkommen vernachlässigt, und so hatte sie gelernt, nur auf sich selbst zu zählen.

Ihr Ältester, Yahya, acht Jahre, war von Geburt an behindert, konnte nicht laufen und benötigte besonders viel Aufmerksamkeit. Bisweilen erlitt sie Nervenkrisen, die mehrere Stunden andauerten. Obwohl sie so arm war, dass sie betteln gehen musste, um ihre 8000 Rial Miete zu bezahlen und für ihre Kinder Brot zu kaufen, besaß Dowla einen unheimlichen Großmut.

Sie bot mir einen Platz auf dem großen Bett aus Stroh an, das den halben Raum ausfüllte, direkt neben dem kleinen Kocher, auf dem sie Wasser heiß machte. Meistens ersetzte Tee die Milch im Fläschchen ihrer Kleinen. Die mit Haken an der Wand angebrachten Plastiktüten, die ihr als Vorratsschrank dienten, waren spärlich gefüllt.

»Nojoud«, sagte sie, »du machst mir aber eine besorgte Miene.«

Ich wusste, dass sie zu den wenigen Familienmitgliedern gehörte, die sich gegen meine Heirat ausgesprochen hatten, doch hatte ihr niemand Gehör geschenkt. Sie, mit der das Leben es nie gut gemeint hatte, empfand von jeher eine Zuneigung zu denen, die noch bedürftiger waren als sie. An ihrer Seite fühlte ich mich ganz unbefangen. Ich wusste, dass ich ihr alles erzählen konnte.

»Ich habe dir eine Menge zu erzählen«, erwiderte ich und schüttete ihr mein Herz aus.

Sie runzelte die Stirn und hörte sich meine Geschichte an. Sie schien zutiefst verärgert. Nachdenklich wandte sie sich zum Kocher. Dann schüttete sie den brühend heißen Tee in die einzige Tasse in der Wohnung, die Yahya noch nicht zerbrochen hatte. Sie hielt sie mir hin und rückte an mich heran, um mir direkt in die Augen zu schauen.

»Nojoud …«, flüsterte sie. »Wenn dich niemand anhören will, dann geh doch einfach zum Gericht!«

»Wohin?«

»Zum Gericht!«

Zum Gericht? … Aber ja, zum Gericht! Blitzartig schossen mir Bilderfetzen durch den Kopf. Bilder von Richtern mit Turban, von Anwälten, die es immer eilig haben, von Männern in weißer Tunika und verschleierten Frauen, die hier ihre komplizierten Familien-, Diebstahls- und Erbschaftsgeschichten vorbrachten. Klar, jetzt erinnerte ich mich wieder an das Gericht. Ich hatte schon mal eines im Fernsehen gesehen. Das war in der Serie, die ich mir mit Haïfa immer bei den Nachbarn anschaute. Die Schauspieler sprachen ein anderes Arabisch als im Jemen. Ihrem Akzent nach, so erinnerte ich mich vage, musste es eine Serie aus Kuwait sein. Der große Saal, in dem die Kläger der Reihe nach antraten, hatte weiße Wände, und gegenüber vom Richterstuhl standen mehrere Reihen brauner Holzbänke. Dann sah man die Verbrecher in einem Bus mit vergitterten Fenstern vorfahren.

»Das Gericht …«, fuhr Dowla fort. »Soviel ich weiß, ist das der einzige Ort, an dem man dich anhören wird. Sag, dass du zu einem Richter willst. Schließlich vertritt er die Regierung! Er hat viel Macht. Er ist wie ein Pate für uns alle. Es ist seine Aufgabe, Opfern zu helfen.«

Dowla hatte mich überzeugt. Von diesem Moment an wurde alles viel klarer in meinem Kopf. Wenn mir meine Eltern nicht helfen wollten, so beschloss ich, würde ich es eben alleine durchziehen. Ich hätte jeden Berg erklommen, nur um nicht wieder auf dieser Matte liegen zu müssen, ganz allein neben diesem Monster. Ich drückte Dowla ganz fest und dankte ihr.

»Nojoud?«

»Ja?«

»Hier, nimm! Du wirst es gebrauchen können.«

Sie drückte mir 200 Rial in die Hand. Das waren ihre gesamten spärlichen Einkünfte, die sie sich am Morgen an ihrer Kreuzung erbettelt hatte.

»Danke, Dowla. Danke!«

Am nächsten Morgen wachte ich besser gelaunt auf als sonst. Übrigens wunderte ich mich selbst über meine neue geistige Verfassung. Wie jeden Morgen wusch ich mir das Gesicht. Ich sprach mein Gebet. Ich zündete den kleinen Ofen an, um Teewasser aufzusetzen. Dann wartete ich, ungeduldig und nervös meine Hände knetend, bis meine Mutter aufstand. »Nojoud«, sagte meine zaghafte innere Stimme zu mir, »streng dich an, möglichst natürlich zu bleiben, damit deine Verwandten keinen Verdacht schöpfen.«

Als Omma kurz darauf die Augen aufschlug und den rechten Zipfel ihres schwarzen Kopftuchs aufknotete, in dem sie für gewöhnlich ihre Geldstücke versteckte, begriff ich erleichtert, dass mein Vorhaben vielleicht doch Chancen hatte, sich zu erfüllen. Wenn sie nur wüsste.

»Nojoud«, sagte sie und hielt mir 150 Rial hin, »geh Brot kaufen fürs Frühstück.«

»Ja, Omma«, antwortete ich folgsam.

Ich nahm das Geld. Ich zog meinen Mantel an und legte mein schwarzes Kopftuch um, das ich als verheiratete Frau zu tragen hatte. Ich schloss sorgfältig die Tür hinter mir. Die Gassen der Umgebung waren noch ziemlich leer. Ich bog in die erste Straße nach rechts ein, die zu unserer Bäckerei führte, wo das frische Brot zart knusprig aus dem althergebrachten Ofen kommt. Ich spitzte die Ohren und vernahm in der Ferne den Singsang des Gasflaschen-Verkäufers. Er klapperte täglich das Viertel auf seinem Fahrrad ab, hinter dem er seinen Karren herzog.

Je näher ich der Bäckerei kam, desto intensiver stieg mir der Duft der ofenwarmen khobz-Brotfladen in die Nase. Ich bemerkte schließlich sogar die Umrisse mehrerer Frauen aus dem Viertel, die bereits vor dem tandour anstanden. Doch in letzter Minute änderte ich die Richtung und schlug den Weg zur Hauptstraße des Viertels ein. Das Gericht, hatte Dowla zu mir gesagt, geh doch einfach zum Gericht.

Als ich mich auf der breiten Straße befand, packte mich plötzlich die Angst, erkannt zu werden. Was, wenn einer meiner Onkel hier entlangging? Innerlich erschauerte ich. Um mich vor den Blicken der Passanten zu schützen, zog ich mir die Zipfel meines Schleiers fast über das ganze Gesicht, so dass nur noch meine Augen zu sehen waren. Ausnahmsweise war mir der niqab, den ich seit Khardji nicht mehr anlegen wollte, auch einmal nützlich. Ich vermied, mich umzudrehen, aus Angst, mir könne jemand folgen. Vor mir wartete eine Busschlange am Gehsteig. Vor dem Laden, der Plastikbälle verkauft, erkannte ich den gelbweißen Minibus mit den sechs Sitzplätzen, der täglich im Viertel hält und die Fahrgäste ins Zentrum bringt, unweit des Tahrir-Platzes. »Los, wenn du dich scheiden lassen willst, dann musst du dich jetzt trauen!«, ermutigte mich meine zaghafte innere Stimme. Ich stellte mich zu den anderen in die Reihe. Alle Kinder in meinem Alter waren in Begleitung ihrer Eltern. Ich war das einzige Mädchen, das alleine wartete. Ich schaute zu Boden, damit mir niemand eine Frage stellte. Ich fühlte mich beobachtet. Ich fürchtete, jemand könnte erraten, was ich vorhatte. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass man es mir von der Stirn ablesen konnte.

Der Fahrer stieg von seinem Sitz, um die Tür zu öffnen, indem er sie seitlich aufschob. Plötzlich gab es eine Drängelei, und mehrere Frauen stießen sich mit dem Ellbogen, um im Bus einen Sitz zu ergattern. Ich ließ mich sofort von der Bewegung mitreißen und dachte nur an das eine: so schnell wie möglich aus meinem Viertel zu verschwinden, bevor meine Eltern die Polizei alarmierten. Ich setzte mich hinten auf die Rückbank, zwischen eine alte und eine jüngere Dame, beide von Kopf bis Fuß verschleiert. Einquetscht zwischen ihre beleibten Körper, wollte ich so vermeiden, dass man mich von der Straße aus durch das Fenster erkannte. Ich musste so unauffällig wie möglich bleiben. Zum Glück stellte mir keine der beiden irgendwelche Fragen.

Erst in dem Augenblick, als der Motor zu brummen anfing, fühlte ich, wie mein Herz heftig klopfte. Ich dachte plötzlich wieder an meinen Bruder Fares, an den Mut, den er vier Jahre zuvor gehabt hatte, von zu Hause zu flüchten. Er hatte es geschafft, warum sollte es mir nicht auch gelingen? Aber war mir wirklich klar, was ich da unternahm? Was hätte mein Vater gesagt, wenn er seine Tochter allein in einen öffentlichen Bus hätte steigen sehen? War ich gerade dabei, seine Ehre mit den Füßen zu treten, wie er zu sagen pflegte?

Die Tür wurde geschlossen. Zu spät, um es sich anders zu überlegen. Durch das Fenster sah ich die Stadt an mir vorbeiziehen: die Autos, die sich im morgendlichen Stau drängten, die Baustellen, die schwarz verschleierten Frauen, die fliegenden Händler mit den Jasminsträußchen, Kaugummipäckchen und Papiertaschentüchern in den Händen. Sanaa war so groß und voller Menschen! Doch hätte man mich wählen lassen zwischen dem staubigen Gewirr der Hauptstadt und der Abgeschiedenheit Khardjis, da wäre mir Sanaa lieber gewesen. Tausend Mal lieber!

»Endstation!«, rief der Fahrer.

Endlich, wir waren da! Sobald die Tür aufgeschoben wurde, erfüllte der Lärm der Straße den Minibus. Die Fahrgäste stiegen hastig aus. Ich tat es ihnen nach, folgte ihnen und streckte dem Fahrer mit zitternder Hand ein paar Geldstücke für die Fahrt entgegen. Das Problem war, dass ich keine Ahnung hatte, wo sich das Gericht befand. Und ich traute mich nicht, meine Mitreisenden zu fragen. Die aufsteigende Furcht lähmte mich. Ich hatte Angst, mich zu verirren. Ich schaute nach rechts, dann nach links. An der roten Ampel, die nicht mehr funktionierte, mühte sich ein Polizist ab, so etwas wie Ordnung inmitten der dröhnenden Autos zu bewahren, die einander mit Dauerhupen in allen Richtungen überholten. Ich blinzelte, geblendet von den Strahlen der starken Morgensonne, die den blauen Himmel durchdrangen. Unmöglich, unter diesen Bedingungen die Straße zu überqueren. Ich wäre nicht lebend davongekommen. An einen Pfosten gelehnt, versuchte ich, mich wieder zu fassen, als mein Blick schließlich auf ein gelbes Auto fiel. Gerettet!

Es war eines der vielen Taxis, die von früh bis spät und von spät bis früh die Stadt durchquerten. Sobald ein Junge im Jemen groß genug ist und mit dem Fuß ans Gaspedal reicht, kauft ihm sein Vater einen Führerschein, in der Hoffnung, dass er damit eine kleine Anstellung als Fahrer bekommt und so die Familie miternährt. Ein solches Taxi hatte ich schon einmal genommen, als ich mit Mona nach Bab al-Yemen fuhr. Ich sagte mir, dass der Fahrer alle Adressen in Sanaa in- und auswendig kennen müsste.

Ich hob die Hand, um ihn anzuhalten. Ein kleines Mädchen allein in einem Taxi, das gehört sich nicht. Aber in meiner Lage war mir das Gerede der Leute nun wirklich vollkommen egal.

»Ich will zum Gericht!«, sagte ich dem Fahrer nur, der mich erstaunt musterte.

Auf meinem Rücksitz sagte ich während der ganzen Fahrt kein Wort. Der Fahrer mit seiner vor kath geschwollenen Wange hätte sich nicht im Traum vorstellen können, wie dankbar ich ihm war, dass er mir keine Fragen stellte. Er war, ohne es zu wissen, mein stiller Komplize auf meiner Flucht. Ich hielt mir den rechten Arm auf den Bauch, versuchte unauffällig, schön gleichmäßig durchzuatmen, und schloss dabei leicht die Augen.

»Da sind wir!«

Mit einer Vollbremsung hielt er vor dem Gitter eines Hofes, der zu einem imposanten Gebäude gehörte. Das Gericht! Ein Verkehrspolizist gab ihm sofort ein Zeichen, er solle weiterfahren, weil er den Verkehr blockierte. Ich stieg eilig aus und gab ihm mein gesamtes Kleingeld. Als ich draußen stand, spürte ich plötzlich einen irrsinnigen Wagemut in mir aufsteigen. Zwar fühlte ich mich benommen und beklommen, aber voller Wagemut. So Allah wollte, würde mein Leben nun eine neue Richtung einschlagen.