Author Topic: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"  (Read 2574 times)

KarlMartell

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Re: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"
« on: April 14, 2013, 08:01:38 am »
11. Wenn ich erst einmal Anwältin bin …
16. September 2008

Es ist windig geworden in Sanaa. Es ist der Wind des Spätsommers, der Vorbote kühler Abende und der ersten Regentropfen. Meine Geschwister können dann wieder mit den anderen Kindern des Viertels in den Pfützen spielen. Bald werden die Bäume gelbe Blätter haben, und die fliegenden Händler an den Straßenecken werden Umhänge verkaufen.

Für mich bedeutet dieser Wind, dass ich wieder in die Schule gehen darf, worauf ich mich so lange gefreut habe. Vor Aufregung konnte ich kaum schlafen. Vor dem Einschlafen habe ich sorgfältig die neuen Schulhefte in meinem neuen Ranzen aus braunem Segeltuch verstaut. Auf einem Blatt Papier habe ich geübt, meinen Namen zu schreiben. Und den von Malak. Ich musste immerzu an meine frühere Klassenkameradin denken. Leider werde ich sie nicht treffen, da ich nun in eine neue Schule gehe.

Im Traum habe ich weiße Hefte gesehen, Buntstifte und viele Mädchen in meinem Alter. Seit einigen Wochen habe ich endlich keine Alpträume mehr. Ich wache nicht mehr schweißgebadet, mit feuchten Augen und mit diesem klebrigen Gefühl im Mund auf, ich denke nicht mehr an die zuschlagende Tür und die umgeworfene Öllampe. Stattdessen träume ich von der Schule. Es ist wie ein inniger Wunsch, den man laut äußert, damit er wahr wird.

Als ich an diesem Morgen die Augen geöffnet habe, hatte ich Herzklopfen. Ich bin leise aufgestanden, um mir die Zähne zu putzen und mich zu kämmen. In dem kleinen Zimmerchen lagen die Frauen der Familie noch alle schlafend auf dem Boden. Im Zimmer nebenan, wo die Männer schliefen, konnte man die Fliegen summen hören. Bevor ich meine neue Schuluniform anzog – ein grünes Kleid und ein weißes Kopftuch –, habe ich mir lange kaltes Wasser über das Gesicht laufen lassen.

»Haïfa, wach auf, wir kommen zu spät!«

Meiner kleinen Schwester fällt es nicht leicht, aufzuwachen. Ihre Haare sind zerzaust, ihr Gesicht ist vom Kissen ganz verdrückt. Ich stürze schon zur Tür, um Ausschau nach dem Taxi zu halten, während Omma ihr noch beim Anziehen und mit den Schuhen hilft. Haïfa kann ihr Kopftuch nicht finden. Macht nichts, dann nimmt sie eben ein anderes. Das ist zwar etwas schmutzig, aber es ist ja nur für heute. Unser Chauffeur ist schon da. Er kommt von einer internationalen Hilfsorganisation, die unser Schulgeld und die Transportkosten übernimmt.

»Seid ihr fertig?«

»Ja.«

»Na, dann mal los!«

Mein Herz schlägt noch schneller. Stolz setze ich meinen Ranzen auf. Bevor wir in den Wagen klettern, umarmen wir Omma. Die kleine Rawdha, die sich an ihr Kleid hängt, winkt uns. Dann lacht sie, sie hat in der Ferne eine Herde Schafe entdeckt. Unser Häuschen liegt am Ende einer ungeteerten Sackgasse, direkt hinter einer Coca-Cola-Fabrik und einem zur Hälfte brachliegenden Feld, auf das die Schäfer morgens ihre Tiere treiben. Haïfa und ich sitzen nebeneinander auf der Rückbank und lächeln uns verständnisvoll an, als der Wagen startet. Wir brauchen uns gar nichts zu sagen, wir wissen, dass wir in diesem Augenblick beide glücklich sind. Und auch ein wenig ängstlich. Wie habe ich diesem Tag entgegengefiebert, an dem ich endlich wieder zeichnen darf, Arabisch und Mathematik lernen kann, den Koran studieren! Als ich im Februar die Schule verlassen musste, konnte ich bis hundert zählen. Nun will ich bis zu einer Million zählen lernen!

Das Gesicht an die Scheibe gepresst, werfe ich einen Blick zum blauen Himmel. Heute Morgen hat der Wind die Wolken vertrieben. Die Straßen sind noch weitgehend leer, die Händler haben die eisernen Rollläden noch nicht geöffnet. Der alte Nachbar, der immer über die Journalisten vor unserer Tür schimpft, ist noch nicht aus seinem Haus getreten, um uns von seiner Treppe aus zu beobachten. Auch vor der Bäckerei an der Ecke gibt es noch keine Schlange. Dieses Jahr fällt der erste Schultag in den Ramadan. Die halbe Stadt schläft noch.

Zum ersten Mal faste ich wie die Großen zwischen dem Morgen- und dem Abendgebet. Anfangs ist mir das bei der Hitze nicht leicht gefallen. Mein Hals war trocken, ich hatte großen Durst. Manchmal habe ich sogar geglaubt, ich würde gleich in Ohnmacht fallen. Doch ich habe diesen langen Monat der Sammlung und des Feierns schätzen gelernt, in dem man so anders lebt als im übrigen Jahr. Wenn sich am späten Nachmittag die Sonne hinter die Häuser senkt, dann essen wir Datteln, shorba, eine Gerstensuppe, und floris, kleine frittierte Bällchen aus Kartoffeln und Fleisch. Das sind typische Gerichte für den Ramadan.

Am Abend bleiben wir lange auf – bis drei Uhr morgens. In den Restaurants herrscht die ganze Nacht Betrieb, und auch in den Boutiquen und Spielzeugläden brennt lange das Licht. In der Altstadt um das Bab al-Yemen, das Jementor, gibt es kaum ein Durchkommen.

Beim ersten Aufwachen am Morgen, um fünf Uhr, zum Morgengebet, habe ich Gott dafür gedankt, mich in den letzten Monaten nicht verlassen zu haben. Ich habe ihn gebeten, mir zu helfen, mein zweites Schuljahr zu bestehen und gesund zu bleiben. Ich habe ihn auch darum geben, Aba und Omma zu helfen, Geld zu verdienen, damit meine Brüder nicht mehr auf der Straße betteln müssen und damit Fares wieder lachen kann. Wenn man nur alle Kinder zum Schulbesuch verpflichten könnte, das würde Jungen wie ihn davon abhalten, an den Kreuzungen kath zu verkaufen. Ich habe auch intensiv an Jad gedacht, meinen Großvater. Er fehlt mir sehr, aber ich bin sicher, dass er von da oben stolz auf mich herabsieht.

Das Taxi biegt in die Hauptstraße ein, die zum Flughafen führt. Wir passieren einen Kontrollposten der Armee. Davon gibt es seit einigen Monaten viel mehr, wegen der Terroristen von al-Qaida, sagt man. Wir biegen nach rechts ab, vorbei an Häusern, deren Dächer Satellitenschüsseln tragen. Vielleicht haben wir auch eines Tages einen Fernseher. Der Fahrer drückt auf einen Knopf, und die hinteren Fenster öffnen sich automatisch. In der Ferne höre ich Mädchen singen. Je näher wir kommen, desto deutlicher wird die Melodie.

»Da wären wir«, sagt der Fahrer und hält vor einem großen schwarzen Eisentor.

Die Fahrt hat kaum fünf Minuten gedauert. Ein Schauer von Begeisterung und Vorfreude durchläuft meinen ganzen Körper. Nun ist der Gesang der Mädchen so deutlich, dass ich die Worte verstehen kann – es ist ein alter Abzählreim, den ich im letzten Jahr gelernt habe. Hinter dem Tor ist meine neue Schule.

»Guten Tag, Nojoud!«

Shada! Was für eine Überraschung! Ich werfe mich in ihre Arme und drücke sie ganz fest. Sie wollte an meinem großen Tag unbedingt dabei sein. Wenn sie wüsste, wie froh ich bin, ein bekanntes Gesicht zu sehen! Das Tor öffnet sich auf einen großen, mit Kies bestreuten Hof. Das graue, zweistöckige Ziegelgebäude beherbergt etwa zehn Klassenzimmer. Alle Mädchen tragen die gleiche Uniform wie ich, grün und weiß. Ich kenne niemanden. Das macht mir ein wenig Angst. Shada stellt mich der Direktorin vor, Njala Matri, eine schwarz verschleierte Frau, von der ich nur die Augen sehe.

»Kifalek, Nojoud?« – »Wie geht es dir, Nojoud?«

Ihre Stimme ist zugleich sanft und bestimmt. Sie bittet uns, ihr ins Büro zu folgen, das am Ende des Hofes liegt. Ein rotes Tischtuch und ein Blumentopf aus Plastik schmücken den Tisch, an dem wir uns niederlassen. An der Wand hängt ein großes Bild des Präsidenten Ali Abdallah al-Salih. Eine Sekretärin tippt an einem Schreibtisch auf einer Computertastatur herum. Als die Tür geschlossen ist, lüftet Njala Matri den niqab, der ihr Gesicht verhüllt. Wie schön sie ist! Sie hat blaugraue Augen, und ihre Haut ist so weiß wie Milch.

»Willkommen bei uns, Nojoud. Betrachte die Schule als dein Zuhause.«

Ich fange an, mich ein wenig zu entspannen. Sie erklärt uns, dass die Schule hauptsächlich durch Spenden der Bewohner des Viertels finanziert wird und ungefähr 500 Schülerinnen hat. In jeder Klasse gibt es vierzig bis fünfzig Kinder. Die Lehrerinnen gehen hier auf die Mädchen ein, sagt sie, und man kann sogar am Ende der Stunde zu ihnen hingehen und ihnen persönliche Fragen stellen.

Beim Zuhören wird mir immer leichter ums Herz. Und ich habe gedacht, ich könnte nie mehr in die Schule zurück. Es hatte allerdings auch eine Lehrerin gegeben, die zunächst gegen meine Aufnahme war:

»Sie müssen verstehen, sie ist kein Mädchen wie die anderen … ähm … sie hatte Beziehungen … ähm … mit einem Mann. Das könnte einen negativen Einfluss auf ihre Klassenkameradinnen haben«, hat sie Shada zugeflüstert, als wir das erste Mal hier waren.

So hat Shada zunächst andere Möglichkeiten erkundet, die zwar auch sehr reizvoll, in ihren Augen aber zu extravagant waren: eine Schule im Ausland, finanziert von einer internationalen Hilfsorganisation, oder auch eine der Privatschulen von Sanaa, wo die Mädchen schicke Kleider tragen und sich die Fingernägel lackieren. Aber war ich dafür wirklich geschaffen? War ich wirklich dazu bereit, meine Familie zu verlassen, Haïfa vor allem? Nein, nicht jetzt. Noch nicht. So habe ich mich schließlich für die Nachbarschule von Rawdha entschieden. Ich hatte es satt, immer als etwas Besonderes betrachtet zu werden. Ich wollte wie alle anderen behandelt werden. So wie meine kleine Schwester.

»Hiiiiiiiiiii Nojoud! Oh, you are sooooooo cute!«

Für heute hat das nicht geklappt! Mitten auf dem Hof steht eine Frau mit blauen Augen und breiten Schultern. Ungeschickt hat sie ein blasslila Kopftuch über ihre kurzen Haare gelegt. Sie wird von Schülerinnen umringt und gestikuliert in alle Richtungen. Sie spricht laut, doch die Worte, die aus ihrem Mund dringen, sind für mich unverständliches Kauderwelsch. Eine ausländische Sprache, zweifelsohne. Meint sie etwa, dass hier ein Zoo ist? Shada erklärt mir, dass sie für »Glamour«, ein großes amerikanisches Frauenmagazin, arbeitet. Sie ist nur wegen mir in den Jemen gekommen! Das heißt, dass ich schon wieder meine Geschichte erzählen soll. Wieder und wieder. Beim bloßen Gedanken an all die persönlichen Fragen, die zu beantworten mir immer so schwerfällt, erstarrt mein Gesicht. Und die Angst, die ich endlich begraben will, steigt wieder aus dem Grund meines Herzens auf.

Da ertönt die Schulglocke. Gerettet! Einen Stab in der Hand gibt uns Najmiya, eine der Lehrerinnen, das Zeichen, uns an der Mauer aufzustellen. Ich beeile mich, ihren Anordnungen zu folgen. Dann sollen wir uns in die hölzernen Schulbänke setzen, die in zwei Reihen den Klassenraum einnehmen. Ich entscheide mich für einen Platz am Fenster. Weder ganz vorne noch ganz hinten. In der dritten Reihe, um genau zu sein, neben zwei neuen Mitschülerinnen, deren Vornamen ich noch nicht kenne. Ich hefte den Blick auf die Tafel und versuche, die Schriftzeichen zu entziffern, die die Lehrerin mit weißer Kreide anschreibt. »Ra-ma-dan Kar-im.« Ramadan Karim! – »Fröhlicher Ramadan!« Wie ein Puzzle setzt sich das Wort für mich zusammen. Und mein Herz schlägt endlich wieder normal.

Während die Lehrerin uns dazu auffordert, die Nationalhymne zu rezitieren, wird meine Aufmerksamkeit auf einmal vom Geräusch der umgeblätterten Seiten abgelenkt. Das Geräusch der Schule. Das echte Geräusch der Schule, endlich habe ich es wiedergefunden!


Einen Moment lang bleibe ich in Gedanken bei einer Geschichte hängen, die die Direktorin gerade erzählt hat: »Letztes Jahr ist eine unserer Schülerinnen von einem Tag auf den anderen nicht mehr in der Schule erschienen. Einfach so, ohne einen Grund anzugeben. Am Anfang habe ich noch gedacht, sie würde sicher wiederkommen. Und dann sind Wochen ins Land gegangen, ohne dass man etwas von ihr hörte. Bis ich schließlich vor einigen Monaten erfahren habe, dass die Kleine verheiratet worden ist und ein Kind bekommen hat. Mit dreizehn!«

Njala Matri hat das nur ganz leise zu Shada gesagt, ich sollte es nicht mitbekommen. Das hat sie sicherlich gut gemeint. Sie kann ja nicht wissen, dass in mir in den letzten Wochen ein Plan gereift ist. Ja, es ist entschieden: Wenn ich groß bin, will ich Anwältin werden, wie Shada, und für kleine Mädchen wie mich kämpfen. Ich werde mich dafür einsetzen, das Heiratsalter auf achtzehn Jahre anzuheben. Oder vielleicht auf zwanzig. Warum nicht auf zweiundzwanzig! Ich muss stark sein und hartnäckig bleiben. Ich muss lernen, keine Angst vor Männern zu haben und ihnen gerade in die Augen zu sehen. Und demnächst muss ich auch mal den Mut aufbringen, Aba zu sagen, dass ich es nicht gut finde, wenn er sagt, schließlich habe der Prophet Aischa auch mit neun Jahren geheiratet. Ich will wie Shada Schuhe mit hohen Absätzen tragen und mir nicht das Gesicht bedecken. Unter einem niqab kriegt man keine Luft! Doch bis dahin gibt es noch viel zu tun. Ich muss eine gute Schülerin werden. Nur so kann ich auf die Universität und Jura studieren. Doch mit Willenskraft kann ich es schaffen.

 

Die Ereignisse haben sich so überschlagen, seit ich mich an das Gericht gewendet habe, dass mir noch gar nicht klar ist, was mir eigentlich passiert ist. Das wird noch seine Zeit dauern, sicher. Zeit und Geduld. Übrigens hat mir Shada schon mehrfach vorgeschlagen, ich könnte zu einem Arzt gehen, der würde mir helfen. Jedes Mal habe ich den Termin im letzten Moment abgesagt. Es ist doch peinlich, oder, zu einem Arzt zu gehen, den man gar nicht kennt? Schließlich hat es Shada aufgegeben. Am Anfang habe ich mich furchtbar geschämt. Die Scham, die Angst, anders als die anderen zu sein, das schreckliche Gefühl der Minderwertigkeit. Ich konnte mich nicht gegen das furchtbare Gefühl wehren, dieser Sache ganz allein ausgesetzt gewesen zu sein. Das anonyme Opfer einer Geschichte geworden zu sein, die die anderen nicht verstehen können. Mich isoliert zu fühlen. Ausgeschlossen. Gedemütigt.

Doch im Laufe der letzten Wochen habe ich auch begriffen, dass mein Fall nicht einzigartig ist. Über Geschichten wie meine oder die der dreizehnjährigen Schülerin spricht man zwar selten, doch kommen sie häufiger vor, als man denkt. Vor einigen Wochen hat mich Shada mit Arwa und Rym bekannt gemacht, zwei anderen Mädchen, die wie ich die Scheidung verlangt haben. Ich habe sie ganz fest in die Arme geschlossen, wie Schwestern. Ihre Erzählungen haben mich aus der Fassung gebracht. Arwa ist mit neun Jahren von ihrem Vater gegen ihren Willen mit einem fünfundzwanzig Jahre älteren Mann verheiratet worden. Als sie von meiner Geschichte im Fernsehen erfahren hat, ist sie in das nächste Krankenhaus geflüchtet, nach Jibla, im Süden von Sanaa.

Das Leben der zwölfjährigen Rym ist nach der Scheidung ihrer Eltern aus den Fugen geraten. Ihr Vater hat sie aus Rache mit einem einunddreißigjährigen Cousin verheiratet. Nach mehreren Selbstmordversuchen hat Rym den Mut gefunden, an der Tür des Gerichts anzuklopfen.

Ich war stolz darauf, dass sie meine Geschichte zum Anlass genommen haben, sich zu wehren. Ihr Unglück hat mich tief berührt. Irgendwie fühle ich mich auch verantwortlich dafür, dass sie sich entschieden haben, sich gegen ihre Ehemänner aufzulehnen. Wenn sie vor Gericht gezogen sind, dann wegen mir. Es sind hübsche Mädchen, sie haben es nicht verdient, dass man sie gegen ihren Willen verheiratet. Ich habe viel mit ihnen gelitten. Als ich ihre unglücklichen Geschichten hörte, sah ich meine eigene wie in einem Spiegel. »Khalass!«, habe ich mir gesagt – »Es ist vorbei!« Die Ehe macht Mädchen unglücklich. Ich werde nie heiraten. Nie mehr! Machi! Machtich!

 

Oft muss ich an die Geschichte von Mona denken. Auch ihr hat sich das Leben nicht von seiner schönsten Seite gezeigt. Vor einer Woche ist meine große Schwester Jamila endlich aus dem Gefängnis freigekommen! Dort hat sie die Zelle mit echten Kriminellen teilen müssen, darunter Frauen, die ihren Ehemann getötet hatten! Doch zu Hause hat man über solche Dinge nicht gesprochen. Seit langem ist unsere Familie endlich wieder vereint. Doch die Freude währte nicht lange, bald haben die Streitereien wieder angefangen, und erst kürzlich haben sich auch meine Schwestern wieder gezankt. Um Jamila zu retten, hat Mona schließlich das berühmte Papier unterzeichnet. Doch sie ist natürlich sauer darüber. Sie wirft ihr vor, die Familie entzweit zu haben. Zwischen ihnen wird es nie mehr so werden wie zuvor. Letztlich ist aber ihr Mann daran schuld. Manchmal denke ich, ich muss mit Fares sprechen und mir von ihm versprechen lassen, dass er ganz zärtlich ist, wenn er sich eines Tages verheiratet.

 

Ein Flugzeug zieht über den Himmel und hinterlässt einen langen, weißen Kondensstreifen. Es wird immer größer und größer, gleich landet es auf dem nahe gelegenen Flughafen. Ob es aus Frankreich kommt, oder aus Bahrain? Welches dieser Länder ist näher? Ich werde Shada fragen. Eines Tages werde ich auch fliegen, ich werde bis ans andere Ende der Welt reisen. In so ein Flugzeug sollen dreihundert Menschen reinpassen, habe ich gehört. Ein Nachbar, der neulich aus Saudi-Arabien zurückgekehrt ist, hat mir erzählt, drinnen sähe es aus wie in einem großen Wohnzimmer, man würde Zeitungen lesen und könne sich etwas zu essen bestellen. In einem Flugzeug essen alle mit richtigem Besteck. Wie in der »Bizzeria«!

Die helle Stimme der Lehrerin reißt mich aus meinen Gedanken: »Wer will uns die erste Sure des Korans aufsagen?«, fragt sie an die ganze Klasse gewandt.

Begeistert und mutig wie schon lange nicht mehr, strecke ich die Hand in die Luft, sehr hoch, damit alle mich sehen können. Komisch, diesmal habe ich mir vorher gar nicht überlegt, ob ich mich melden soll oder nicht. Ich habe mich nicht gefragt, was Aba darüber denkt oder was die Leute hinter meinem Rücken tuscheln mögen. Ich, Nojoud, zehn Jahre alt, ich habe mich entschieden, auf eine Frage zu antworten. Und diese Entscheidung hängt von niemand anderem ab.

»Nojoud?«, wiederholt die Lehrerin und schaut in meine Richtung.

Mein Eifer ist ihr nicht entgangen.

Ich hole tief Luft, erhebe mich von meiner Sitzbank und stelle mich kerzengerade auf. Ich suche in meinem Gedächtnis die Koranverse, die ich letztes Jahr gelernt habe:

»Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen!

Alles Lob gebührt Allah, dem Herrn der Welten,

dem Allerbarmer, dem Barmherzigen,

dem Herrscher am Tage des Gerichts!

Dir allein dienen wir, und Dich allein bitten wir um Hilfe.

Führe uns den geraden Weg,

den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die Deinen Zorn erregt haben, und nicht den Weg der Irregehenden.«

Feierliche Stille breitet sich im Klassenzimmer aus.

»Bravo, Nojoud. Gott möge dich beschützen!«, applaudiert mir die Lehrerin und ermuntert die anderen Schüler, einzustimmen. Ihre Augen wandern weiter durch die Klasse, auf der Suche nach der nächsten Kandidatin.

Lächelnd setze ich mich wieder hinter mein Pult.

Wenn ich mich umschaue, entfährt mir automatisch ein Seufzer der Erleichterung. In meiner grünweißen Uniform bin ich eine von fünfzig Schülerinnen der Klasse. Ich bin eine Schülerin im zweiten Schuljahr. Ich habe heute meinen ersten Schultag wie Tausende andere kleine Jemenitinnen. Wenn ich heute Nachmittag nach Hause komme, dann habe ich Hausaufgaben zu machen, Bilder zu malen.

Heute habe ich endlich das Gefühl, wieder ein kleines Mädchen geworden zu sein. Ein ganz normales Mädchen. Wie vorher. Ganz einfach.