Author Topic: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"  (Read 2557 times)

KarlMartell

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Re: "Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden"
« Reply #15 on: April 14, 2013, 08:02:51 am »
Epilog
Nojoud trägt ihr hübsches lila Kleid und lächelt nach rechts und links. Es wirkt ein wenig schüchtern, wie sie sich an die Hand von Shada klammert. Doch ihr Blick ist entschlossen.

»Noch ein Foto!«, rufen die Reporter.

Es ist der 10. November 2008, die jüngste Geschiedene der Welt wurde soeben in New York von der amerikanischen Frauenzeitschrift Glamour zur »Frau des Jahres« gekürt. Gerade einmal zehn Jahre alt, teilt sie diese überraschende Auszeichnung mit der Schauspielerin Nicole Kidman, der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice und Senatorin Hillary Clinton! Ganz schön viel für die tapfere kleine Jemenitin, die so plötzlich vom unbekannten Opfer zur Heldin unserer Zeit geworden ist und die sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder ein ganz normales Leben zu führen. Aber diesen Preis hat sie wahrhaftig verdient.

 

Nojoud hat gesiegt. Und sie ist stolz darauf. Das ist mir gleich an ihr aufgefallen, als ich sie im Juni 2008, zwei Jahre nach ihrer Scheidung, zum ersten Mal gesehen habe: ihre große Selbstsicherheit – der schwere Kampf hat sie reifer werden lassen, ihr allerdings auch viel von der Unschuld der Kindheit geraubt.

Wie eine Große hat sie mir am Telefon bis ins kleinste Detail den Weg zu ihrem bescheidenen Haus beschrieben, das mitten im Gewirr der staubigen Gässchen von Dares liegt, einem Viertel am Rand von Sanaa, der Hauptstadt des Jemen.

Sie erwartet mich zwischen den vielen Autos an der Tankstelle, in einen schwarzen Schleier gehüllt und in Begleitung ihrer kleinen Schwester Haïfa. »Ich bin beim Süßigkeitenstand«, hat sie mir gesagt und sich damit als kleines Leckermäulchen verraten. Eines mit Mandelaugen, einem Puppengesicht und einem süßen Lächeln – ein Mädchen wie alle anderen, das gerne Bonbons lutscht, sich einen großen Fernseher wünscht und mit seinen Geschwistern Blindekuh spielt. Aber sie ist auch schon eine richtige Persönlichkeit, gereift durch schwere Erfahrung – und dennoch lächelt sie, wenn die Frauen von Sanaa ihr im Vorübergehen laut und freudig »Mabrouk« zurufen, was so viel heißt wie »Alles Gute!«.


»Die Scheidung von Nojoud hat eine Tür aufgestoßen«, meint Husnia al-Kadri, die Leiterin der Abteilung für Frauenstudien an der Universität Sanaa. Eine von ihr durchgeführte Untersuchung hat vor kurzem ergeben, dass mehr als die Hälfte der Mädchen im Jemen vor ihrem achtzehnten Geburtstag verheiratet werden.[1]

Ja, man muss es so sagen: Nojouds Geschichte ist eine frohe Botschaft. Ihr unglaublicher Bravourakt hat in diesem Land der arabischen Halbinsel, in dem die Zwangsverheiratung kleiner Mädchen bislang als unumstößliche Tradition galt, auch anderen zarten Stimmen Mut gemacht, sich gegen ihre Ehemänner zu erheben. Nach dem Prozess von Nojoud haben zwei weitere Mädchen, Arwa, neun Jahre alt, und Rym, zwölf, es gewagt, sich gegen ihre barbarische Verheiratung zur Wehr zu setzen. Auch in Saudi-Arabien hat ein achtjähriges Mädchen, das von seinem Vater einem Fünfzigjährigen zur Frau gegeben worden war, ein Jahr nach dem Drama von Nojoud eine Scheidung erreicht – eine Sensation in Jemens ultratraditionellem Nachbarstaat!

Im Februar 2009 errangen die Frauen im Jemen einen weiteren Sieg: Unter dem Druck örtlicher Frauenrechtsverbände hat das Parlament endlich in eine Reform des Eherechts eingewilligt. Das Mindestalter für die Eheschließung wurde, für Mädchen wie Jungen gleichermaßen, auf 17 Jahre angehoben. Das Gesetz verlangt jetzt auch, unabhängig vom Alter, die Zustimmung der zukünftigen Ehefrau. Und falls doch vom Mindestalter abgewichen wird – die Tradition forderte ihr Recht –, so muss der Ehevertrag zwingend von einem Richter unterzeichnet werden. Für den Fall einer Scheidung ist nun gesetzlich geregelt, dass die Kinder bis zum zwölften Lebensjahr bei der Mutter bleiben. Und nimmt sich ein Mann eine weitere Ehefrau, so ist er fortan verpflichtet, seine erste davon zu informieren. Die Polygamie wurde etwas eingeschränkt, ein Mann darf nur noch dann mehrere Ehefrauen nehmen, wenn er über ein gewisses Vermögen verfügt – damit sollen unübersichtlich verflochtene Familien wie die von Nojoud verhindert werden, in denen oft niemand die Mittel aufbringen kann, für die Kinder zu sorgen. Kleine Fortschritte, gewiss. Und es wird noch einige Zeit brauchen, ehe sie ihre volle Wirkung entfalten und die Verhältnisse sich wirklich ändern.

 

Nojoud ist die Tragweite ihrer Tat vielleicht noch nicht voll bewusst: Sie hat es geschafft, ein Tabuthema ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Die Nachricht von ihrer Scheidung hat sich um die ganze Welt verbreitet und das Schweigen gebrochen, das über dieser Sitte liegt, die leider in vielen Ländern verbreitet ist: Ägypten, Indien, Iran, Mali, Pakistan …

Dass uns Nojouds Schicksal so berührt, liegt aber auch daran, dass wir selbst ebenso betroffen sind. Sosehr es im Westen zum guten Ton gehören mag, sich über das Los der Frauen im Islam zu entrüsten: Die Zwangsverheiratung von Mädchen und Gewalt in der Ehe sind Probleme, die sich nicht auf die islamische Welt beschränken. Noch unsere Urgroßmütter wurden in Ländern wie Frankreich, Spanien oder auch Italien nicht selten sehr jung verheiratet, auch im Westen werden bis heute Frauen von ihren Ehemännern misshandelt. Und in den USA konnte Warren Jeffs, der Führer einer Mormonensekte, noch bis vor kurzem die Trauung von vierzehnjährigen Mädchen durchführen, ehe er 2006 schließlich verhaftet wurde.

 

Doch es ist nicht der Glaube allein, der jemenitische Väter dazu veranlasst, ihre Töchter noch vor der Pubertät zu verheiraten. »Armut, Bildungsmangel und Traditionen spielen ebenfalls eine Rolle«, bemerkt Husnia al-Kadri. Familienehre, Angst vor Ehebruch, Begleichung alter Rechnungen zwischen Clans: die Gründe, die Eltern vorbringen, sind ebenso zahlreich wie verschieden. Und ein jemenitisches Sprichwort besagt: »Heirate ein Mädchen mit neun, und deine Ehe wird glücklich sein.«

Das große Problem ist, dass die Zwangsverheiratung von Kindern für viele Jemeniten einfach etwas ganz Normales ist. »Vor kurzem starb ein neunjähriges jemenitisches Mädchen, das mit einem Saudi verheiratet worden war, drei Tage nach der Hochzeit. Die Eltern hätten entsetzt sein müssen! Stattdessen haben sie sich eiligst bei dem Ehemann entschuldigt und ihm als Ersatz die siebenjährige Schwester des Mädchens angeboten, so als hätten sie ihm schlechte Ware geliefert«, erzählte mir vor kurzem Nadia al-Saqqaf, die Chefredakteurin der Yemen Times. Während uns das Aufbegehren von Nojoud als mutige Tat erscheint, sehen die Traditionalisten darin einen Skandal – und ganz Hartgesottene gar ein Ehrverbrechen.

Verglichen mit dem Glanz und Glamour von New York wirkt die tägliche Realität unserer kleinen jemenitischen Heldin nicht gerade wie eine Märchenwelt.

Nojoud ist ihrem Wunsch entsprechend zu ihren Eltern zurückgekehrt. Ihre großen Brüder betrachten die internationale Aufmerksamkeit, die ihre Scheidung ausgelöst hat, mit Argwohn. Die Nachbarn beschweren sich über die vielen ausländischen Fernsehteams. Nicht alle, die sich nach ihrer Geschichte erkundigen, tun dies in bester Absicht. Ihr früherer Ehemann ist längst nicht mehr im Gefängnis. Die Familie von Nojoud hat alle Verbindungen zu ihm abgebrochen, und niemand weiß, wo er sich derzeit aufhält.

Auch Shada ist vor Misshelligkeiten nicht gefeit. Böse Zungen werfen ihr vor, sie hätte den Jemen in schlechtes Licht gesetzt. Unterdessen bemühen sich Nichtregierungsorganisationen, die Bevölkerung auf dem Land für die Probleme solcher Zwangsehen zu sensibilisieren. Mit Rücksicht auf die vorhandenen Empfindlichkeiten wägt Oxfam, die in dieser Region am stärksten engagierte Organisation, in Workshops zu diesem Thema die Worte sehr genau ab. Statt vom »legalen Heiratsalter« spricht man lieber vom »Schutzalter« und legt den Akzent damit auf die Risiken einer allzu frühen Verheiratung: psychologische Traumata, Kindbettfieber, Schulabbruch. Doch die Aufgabe bleibt schwierig. »Es ist schon mehrfach vorgekommen, dass Scheichs gegen Mitarbeiter vor Ort eine Fatwa ausgesprochen haben, unter dem Vorwurf, sie würden den Islam missachten und westlicher Dekadenz Vorschub zu leisten«, vertraute mir Souha Bashren von Oxfam an. Der Weg zu einer besseren Zukunft bleibt lang und steinig …

 

Das Viertel von Nojoud liegt nachts nicht wie New York im Lichterglanz. Im Winter ist es kalt, Brennmaterial ist teuer. Lange Abendkleider sieht man in Sanaa nur im Schaufenster. Frühmorgens heißt es für Nojoud, aufzustehen und Brot für die ganze Familie zu kaufen. Nicht selten versagt der Wecker den Dienst. Die großen Brüder hingegen schlafen bis zum Frühstück. Nojouds Vater, kränklich und fiebrig, hat selten Arbeit. Ihre Mutter, die nicht lesen kann, vernachlässigt manchmal ihre Pflichten.

Trotz all dieser Schwierigkeiten geht die kleine Geschiedene nun in Begleitung ihrer Schwester Haïfa wieder zur Schule. Während wir hier an dieser Neuausgabe arbeiten, fängt für die beiden bald das dritte Schuljahr an.

Die Tantiemen für dieses Buch, das in zwanzig Sprachen übersetzt wurde, ermöglichen die Schulausbildung und die Unterstützung der Familie: Lebensmittel, Wohnung, Schulhefte und Kleider für die Kinderschar … Später einmal werden sie Nojoud auch helfen, zu studieren und eine Hilfsorganisation für Mädchen in Not zu gründen, wie es ihr Traum ist. Und außerdem möchte sie weiter ihre Familie unterstützen.

Jedes Mal, wenn ich nach Sanaa komme, wünscht sie sich Buntstifte von mir. Dann kauert sie auf dem Fußboden des bescheidenen Wohnraums und zeichnet immer dasselbe: ein buntes Haus mit vielen Fenstern. Einmal habe ich sie gefragt, ob das ein Wohnhaus, eine Schule oder ein Pensionat sei. »Das ist das Glückshaus. Das Haus für glückliche Mädchen«, hat sie mir lächelnd geantwortet.


 

Delphine Minoui

September 2009