USA
„Zurück zu den Wurzeln“
Warum zündeten die Attentäter von Boston ihre Bomben?
Amerika zweifelt an seiner Fähigkeit, Immigranten zu integrieren.
Zu den Büchern, die Tamerlan Zarnajew
lesen wollte, bevor er mit
selbstgebauten Bomben Amerika
in seinen Grundfesten erschütterte, zählt
auch eines über den Untergang Roms.
Seit 2006 steht es auf seiner Wunschliste
beim Internetbuchhandel Amazon, ein
Klassiker aus dem 18. Jahrhundert, der
schon von Tausenden Amerikanern gelesen
wurde.
Aber jetzt, nachdem Dschochar und
sein Bruder Tamerlan vor 14 Tagen beim
Boston Marathon ihre Bomben zündeten,
3 Menschen töteten und mehr als 200 verletzten,
gilt nichts mehr einfach nur als
Zufall. Und die „New York Times“ provoziert
mit der spöttischen Frage, ob vielleicht
Tamerlans Absicht, dieses Buch zu
lesen, schon der erste Hinweis darauf gewesen
sein könnte, dass die Brüder mit
den USA abgeschlossen hatten. Dass sie
den Westen für dekadent und den Untergang
Amerikas für unvermeidbar hielten.
Inzwischen hat die Welt viel über die
Zarnajews gelernt, man kennt ihre Freunde,
ihre Lieblingsmusik, ihre Lieblingssendungen
im Fernsehen, ihre Schul -
noten, schließlich lebten die beiden eine
Zeitlang ein ganz normales amerikanisches
Leben. Aber gerade deshalb stellt
sich die Frage: Warum haben sie sich von
Amerika abgewandt? Warum haben sie
sich wohl dem radikalen Islam angeschlossen?
Wie konnten zwei Brüder, die den
amerikanischen Traum zu leben schienen,
einen amerikanischen Alptraum planen?
Die beiden tschetschenischen Immi -
grantenkinder sind der Testfall in einer
Debatte darüber geworden, ob die offene
Gesellschaft der USA noch die eigenen
Erwartungen erfüllt. Bisher lebte Ame -
rika mit der Überzeugung, das Land zu
sein, das muslimische Einwanderer besser
als jedes andere integriert. Besorgt fragte
in der vergangenen Woche der Kolumnist
Gerald Seib im „Wall Street Journal“, ob
Amerika noch seinem Selbstverständnis
als multikulturelle Gesellschaft gerecht
werde, ob die Vision des „Melting Pot“,
eine der zentralen Ideen Amerikas, noch
gelte.
Es geht dabei auch um die Identitätskrise
eines Landes, das sich so rasant verändert,
dass es vielen Angst macht: Die
Weißen werden schon in 30 Jahren nicht
mehr die Mehrheit der Bevölkerung stellen.
Was Amerika heute zusammenhält,
ist diffuser geworden. Und Integration in
einem Land, das nach sich selbst sucht,
ist neuerdings eine Herausforderung.
Die Integration der Zarnajews scheiterte
ausgerechnet in Cambridge, der Stadt der
Studenten aus aller Herren Länder an der
Ostküste in Massachusetts. Dort gingen
die Brüder zur Schule, dort hatten sie ihre
Freunde, und dort, sagen die, seien Tamerlan,
26, und Dschochar, 19, niemals als
Ausländer betrachtet worden. An Dschochars
Schule kamen die Schüler aus 83 Nationen.
Die Islamic Society betreibt einen
Kurs über die Grundlagen des Islam. Cambridge
ist eine liberale Hochburg Amerikas,
Spitzname „People’s Republic of Cambridge“
– Volksrepublik Cambridge.
Inanna Carter lernte Dschochar Zarnajew
im vergangenen Sommer im
Schwimmbad der Harvard Universität
kennen, wo sie beide als Bademeister arbeiteten.
Sie studierte Biologie, er belegte
Kurse in Ingenieurwissenschaften.
„Dschochar hat einen starken Eindruck
auf mich gemacht“, sagt Carter, „er wirkte
so erwachsen und intelligent für sein
Alter.“ Er war freundlich, er konnte Michael
Jacksons Moonwalk. Ihre Schichten
legte Inanna Carter so, dass sie gemeinsam
Dienst hatten.
Die Brüder Zarnajew, so muss es Amerikanern
erscheinen, kamen in die beste
aller Welten. Wenn Integration nicht in
Cambridge funktioniert, wo sonst?
Wie schwierig diese im Alltag sein
kann, lässt sich ein paar Autominuten
vom Harvard-Pool entfernt erahnen, im
Vorort Somerville. Dort steht ein Flachbau,
darauf ist in roten Buchstaben zu lesen:
Webster Auto Body, gegründet 1902.
Ansor Zarnajew, der Vater der beiden
Brüder, arbeitete hier 18 Monate lang als
Mechaniker. Es sollte der Beginn einer
besseren Zukunft für seine Familie sein.
1944 hatte Stalin fast 90000 Tschetschenen
nach Kirgisien deportieren lassen, damals
ein Teil der Sowjetunion. Die Zarnajews
wurden dort nie heimisch.
2002 durften sie nach Amerika auswandern.
Der Plan des Vaters war, dort einmal
selbst eine Werkstatt zu eröffnen, Unternehmer
zu werden, um seinen Söhnen
eine bessere Zukunft zu geben. Deshalb
arbeitete er hart. Der Besitzer der Werkstatt
hat Zarnajew als guten Mechaniker
in Erinnerung: „Man hätte ihn mitten in
der Nacht anrufen können, und er hätte
sich unter ein Auto gelegt.“ Aber zu viel
mehr als zehn Dollar die Stunde reichte
es trotzdem nicht.
Später schraubte Zarnajew auf eigene
Rechnung, aber auch das muss sich für
ihn, der in Kirgisien bei der Staatsanwaltschaft
gearbeitet hatte, wie eine Demütigung
angefühlt haben. Ihm fehlte das
Geld, um sich eigene Werkzeuge zu leisten.
Er lieh sie sich von Bekannten und
reparierte die Autos auf dem Parkplatz
des Teppichladens Yayla Tribal Rugs.
Dem Teppichhändler begann der Mann
leid zu tun, den er da immer auf dem
Parkplatz liegen sah: „Er sprach so gut
wie kein Englisch und kam einem vor wie
ein armer Kerl, der irgendwie seine Familie
ernähren muss.“ Als Zarnajew
schwer an Krebs erkrankte, kehrte er 2011
in den Kaukasus zurück – angeblich, weil
er auf keinen Fall in den USA sterben
wollte, in einem Land, das seinen Stolz
verletzt hatte. Eine Tante sagt: „Die Familie
hat eine jahrhundertealte Tradition.
Und nun mussten sie einsehen, dass sie
hier in Amerika Nobodys waren.“
Zarnajews Söhne, die in den USA blieben,
redeten zuletzt nicht besser über
Amerika als ihr Vater. So geht es vielen
Immigrantenkindern: Die alte Heimat gilt
ihnen nichts mehr, in der neuen gelten
sie noch nichts. Sie suchen etwas anderes,
das ihnen Selbstbewusstsein geben kann.
Innerhalb von zwei Jahren wurde aus Tamerlan
ein anderer Mensch.
Er hörte mit dem Boxen auf, seiner großen
Leidenschaft. Das Boxen hatte ihm
zunächst die Hoffnung gegeben, dass er
einmal ein richtiger Amerikaner werden
könnte. Dass er aufhörte, war eine Überraschung.
„Er war der beste Boxer in Boston“,
sagte John Allan, der Besitzer der
Sporthalle, in der Tamerlan trainierte.
Als Tamerlan doch noch einmal vorbeikam,
benutzte er Geräte anderer Kunden,
ohne zu fragen, er lief mit Schuhen auf
den Matten herum. Er verhielt sich, als
gälten die Regeln nicht mehr für ihn. Tamerlan
„war ein totaler Rüpel“, sagt Allan.
Der junge Mann war nicht mehr er selbst.
Vor anderthalb Jahren empfahl die
CIA, ihn auf die Liste der Terrorverdächtigen
zu setzen. Russische Behörden hatten
die Amerikaner alarmiert, ihnen war
eine Reise Tamerlans in den Nord-Kaukasus
verdächtig vorgekommen.
Forscher der University of California
haben herausgefunden, dass Einwanderer
aus Kriegsgebieten weit häufiger Anpassungsschwierigkeiten
zeigen – vor allem
wenn sie wie Tamerlan während ihrer Jugendjahre
in Amerika ankommen.
Viele fühlen sich ausgeschlossen, haben
es mit überforderten Lehrern zu tun; nur
drei Prozent können einen Lehrer nennen,
der stolz auf sie ist. Und die meisten
haben Probleme, amerikanische Freunde
zu finden. Ein Drittel aller Befragten gab
sogar an, wenig oder gar keinen Kontakt
mit geborenen Amerikanern zu haben.
Der Satz, den Tamerlan zur Überraschung
vieler Bekannter schon vier Jahre
vor dem Anschlag sagte, bekommt so
eine neue Bedeutung: „Ich habe keinen
einzigen amerikanischen Freund.“
Stattdessen hatte Tamerlan zuletzt offenbar
andere Freunde. Sein Onkel, in
Amerika geblieben, weiß von einem ominösen
muslimischen Konvertiten namens
Misha, der seinen Neffen zum radikalen
Islam bekehrt habe.
Aber auch Subeidat, die Mutter der
Brüder, spielte eine zweifelhafte Rolle
und wurde in der vergangenen Woche
vom FBI im Kaukasus aufgesucht. Sie
zeigte sich zunehmend besorgt über Tamerlans
– für ihren Geschmack – zu amerikanischen
Lebensstil. „Amerika hat ihm
nicht gutgetan“, sagt sie. Er habe Partys,
Drogen und Mädchen geliebt.
Wenn Tamerlan damals in Boston nach
Hause kam, schlich er erst ins Bad, um
sich den Geruch von Alkohol aus dem
Mund zu spülen. „Dann habe ich zu ihm
gesagt: Du bist ein Tschetschene und ein
Muslim – kehre zu deinen Wurzeln zurück.
Lies den Koran.“
Dabei war sie selbst ähnlich westlich,
als sie noch in Boston lebte: Sie trug anfangs
hochhackige Schuhe, sie arbeitete
in einem Schönheitssalon. Dann aber
kündigte sie, weil sie nicht länger Männer
als Kunden haben wollte. „Sie behauptete,
die Anschläge vom 11. September 2001
seien das Werk der amerikanischen Regierung
gewesen, um Hass gegen Muslime
zu schüren“, erinnert sich die Journalistin
Alyssa Kilzer, eine Kundin. Subeidat
soll gesagt haben: „Es ist wahr. Mein
Sohn weiß alles darüber. Du kannst es
im Internet nachlesen.“
In Amerika wird es in den kommenden
Wochen weiter um ein neues Einwanderungsrecht
gehen, vor allem um Obamas
Versuch, den elf Millionen illegalen Immigranten,
die in Amerika leben, eine
Chance auf Legalität zu geben. Nun wird
es aber auch darum gehen, welche Gefahr
Einwanderer für die USA darstellen können.
Und wem Amerika trauen kann.
In der alten Heimat ist Tamerlan noch
als netter Junge in Erinnerung geblieben.
„Der ist doch bei jedem Feuerwerkskörper
zusammengezuckt“, erzählt seine
Lehrerin Natalja Kurotschkina in der
Schule von Tokmok in Kirgisien. Er sei
strebsam und intelligent gewesen, „außer -
gewöhnlich höflich und wohlerzogen,
und er hat ausschließlich gute Noten geschrieben“.
Für sie war er jemand, der es
sich verdient hatte, nach Amerika auswandern
zu dürfen.
DER SPIEGEL 18/2013, S. 88/89